Wikipedia-Philosophie in Bedrängnis
Die Online-Enzyklopädie Wikipedia muss immer mehr von ihrem Prinzip der totalen Offenheit abgehen, um glaubwürdig zu bleiben. Auch wenn das Nachschlagewerk in Vergleichen gute Ergebnisse erzielt, warnen die Betreiber selbst davor, sich zu sehr auf die Einträge zu verlassen.
Die Online-Enzyklopädie Wikipedia besteht nun schon seit über fünf Jahren und hat es in dieser Zeit zur Weltbekanntheit gebracht. Die Idee dahinter ist einfach: Jeder Internet-Nutzer kann sein Wissen beitragen und so eine Datenbank mitschaffen, von der alle im Netz profitieren.
Nicht nur, dass mit dem Projekt das gewaltige Potential des Internets demonstriert wurde, es war auch Wegbereiter für eine ganze Reihe von Anwendungen und Plattformen, die unter dem Namen "Web 2.0" zusammengefasst werden.
Offenheit als Vor- und Nachteil
Die Idee der totalen Offenheit, die Jimmy Wales bei der Gründung des Projekts hegte, führt in jüngster Zeit aber immer öfter zu Problemen und wird deshalb auch vermehrt in Frage gestellt:
Schönungsversuche aus der Politik, Verleumdung von prominenten Personen und Ideologiestreitigkeiten zwischen verschiedenen Lagern sind mittlerweile Realität in Wikipedia - alles zu Lasten der Qualität und nicht zuletzt der Glaubwürdigkeit.
Regelwerk wird verschärft
Damit wird der Online-Wissenssammlung ihre Grundlage, nämlich der freie Zugang für jedermann, mehr und mehr zum Verhängnis.
Während Jimmy Wales vergangenes Jahr noch im Gespräch mit futurezone.ORF.at "Offenheit, bis es schmerzt" gepredigt hat, mussten gerade in den letzten Monaten immer öfter Eingriffe in die Nutzungsregeln gemacht werden.
Immer mehr Eingriffe der Betreiber
So wurde etwa die Registrierungspflicht eingeführt, immer öfter werden Artikel "geschützt", das bedeutet sie können nicht mehr geändert werden.
Weiters gibt es auch den Status "halb-geschützt" [semi-protected], bei dem potentielle Kontributoren mindestens seit vier Tagen registriert sein müssen. Dies soll vor allem spontane Vandalenakte verhindern.
Fürs Editieren gesperrte Artikel können durchaus wieder freigeschaltet werden, wenn sich etwa die "Emotionen" zu einem Thema abgekühlt haben.
Zweite Version im Entstehen
Langfristig werde neben der "Live"-Version, die im Prinzip von jedermann bearbeitet werden kann, eine "feste" Wikipedia entstehen, kündigte der Gründer des Online-Lexikons jüngst in der "Financial Times" an.
Kern-Community von 1.000 Nutzern
Generell ist die Zahl der aktiven Wikipedia-Schreiberlinge weitaus kleiner, als man sich das vielleicht vorstellen würde: "Viele Leute glauben, Wikipedia besteht aus zehn Millionen Menschen, die ihren Senf dazugeben, die allermeiste Arbeit wird aber von einem kleinen Kern erledigt", so Wales.
Diese Zahl wird derzeit auf rund 1.000 Personen geschätzt, viele davon sind unentgeltlich als Administratoren tätig.
Kritiker argumentieren, dass eben diese Strukturen schon längst nichts mehr mit der usprünglichen Idee hinter dem Projekt zu tun haben.
Wikipedia nicht "allwissend"
So ehrgeizig das Projekt und seine Betreiber auch sein mögen: Die Nutzer sollten nicht vergessen, dass Wikipedia nicht immer eine verlässliche Quelle ist.
Zwar hat das Nachschlagewerk in einem Test der britischen Zeitung "Nature" gegen die Print-Nachlese "Britannica" relativ gute Ergebnisse erzielt. Dennoch rät sogar Gründer Jimmy Wales selbst von der Nutzung für wissenschaftliche Recherchen ab.
Das Fachmagazin hatte Experten ausgewählte und ungekennzeichnete Artikel aus beiden Werken vergleichen lassen. Bei Wikipedia fanden die Prüfer durchschnittlich vier Fehler pro Artikel, bei der Encyclopaedia Britannica drei. Ihr Fazit: In Sachen Qualität liegen beide nahezu gleichauf.
Studenten-Gebrauch nicht ratsam
Bei einer Konferenz an der Universität von Pennsylvania erzählte Wales jüngst, dass er regelmäßig Beschwerdemails von Studenten bekomme, die aufgrund der Wikipedia-Nutzung schlechte Noten bekommen haben.
Wales riet daraufhin den Professoren, ihren Studenten vom Wikipedia-Gebrauch [und Enzyklopädien im allgemeinen] zu Forschungszwecken abzuraten.
Nutzer müssen differenzieren
Genau in diesem Punkt hapert es wohl auch in der Wahrnehmung vieler Nutzer: Wichtig ist zu differenzieren, zu welchem Zweck man Wikipedia einsetzt.
In erster Linie eigne es sich laut Wales dazu, Lücken im Allgemeinwissen zu schließen oder sich einen groben Überblick über historische Ereignisse zu verschaffen.
(New York Times | Cnet)