Videospiele zwischen Hexenjagd und Realität
Im Zuge des gestrigen Erfurt-Massakers, bei dem ein 19-Jähriger in seiner ehemaligen Schule 16 Menschen und sich selbst tötete, droht ein neues Anrollen der Debatte über Gewalt in den Medien und ganz besonders um Gewalt in Computerspielen.
So findet der Leser in der morgigen "Welt am Sonntag" ein Interview mit dem Kanzlerkandidaten der deutschen CDU/CSU, Edmund Stoiber, in dem er sich dezidiert für ein Verbot von "Killerspielen" ausspricht.
Und für den Vizepräsidenten des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, Uwe Wetter, führt die Zunahme von Gewaltpräsentationen in Fernsehen und Videospielen zu einer Konditionierung potenzieller Täter.
Dieser vermuteten Kausalität zwischen gewalttätigen Videospielen und gewälttätigen Jugendlichen stehen allerdings Studien gegenüber, die ein anderes Bild der Gamer-Kultur zeichnen.
Filme, nicht Games schüren Aggressionen
Eine Studie des staatlichen Medienausschusses in Norwegen, der
für die Altersklassifizierung von Filmen und Videospielen zuständig
ist, kam im Mai vorigen Jahres zum Ergebnis, dass sich Kinder und
Jugendliche von Spielen mit brutaler Handlung weit weniger
beeinflussen lassen als von Gewaltdarstellungen in anderen Medien.

Stärkere Identifikation mit Filmcharakteren
"Nicht die Gewalt hinterlässt den stärksten Eindruck, sondern das Spielerlebnis, das durch Aufbau und Dramaturgie entsteht", betont der die Studie leitende Wissenschaftler Faltin Karlsen von der Universität Oslo.
Zudem sei die Identifikation mit dem Spieler-Alter-Ego längst nicht so stark wie die mit Filmcharakteren.
Auch eine US-Studie, die im September 2000 publiziert wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Videospiele - zumindestens kurzfristig - keinen Einfluss auf die Aggressivität von Kindern haben.
Studie sieht keinen Verhaltensunterschied
Demnach ließ sich nach 15 Minuten Spielen kein
Verhaltensunterschied zwischen Kindern feststellen, die ein
gewalttätiges Game, und solchen, die ein gewaltloses gespielt
hatten.

"Trenchcoat-Massaker" und Hexenjagd
Ins Rampenlicht gebracht wurde die Verbindung zwischen Gewalt und Computerspielen durch das "Trenchcoat-Massaker" in Littleton im amerikanischen Bundesstaat Colorado.
1999 erschossen dort zwei Jugendliche 13 Menschen und richteteten sich anschließend selbst.
Die Folge war eine Sensibilisierung der USA nicht nur gegenüber Gewalt, sonder auch gegenüber Computerspielern. Seit bekannt wurde, dass die beiden Täter Internet- und Spielefans waren, fanden regelrechte Hetzjagden auf Außenseiter statt.
"Doom" als Inspiration für Amoklauf
Die Angehörigen der Opfer reagierten mit einer Schadenersatzklage
von fünr Mrd. USD gegen Videospiel- und Filmunternehmen. Angenommen
wurde, dass die beiden Täter durch Spiele wie "Doom" und Filme wie
"The Basketball Diaries" zu ihrem Amoklauf "inspiriert" wurden. Im
März dieses Jahres wies ein US-Gericht die Klage zurück.

Virtuelle Gewalt mit Mord übertreffen
Die Psychologen Wetter und Bernd Jötten sehen das anders.
Ist für Wetter der reale Mord ein Versuch, die auf dem Bildschirm gesehene virtuelle Gewalt zu übertreffen, sieht Jötten in den Spielen eine Ausbildung zu mehr Schießkompetenz.
Laut Jötten gehen solchen Taten häufig lang andauernde Verletzungen des Selbstwertgefühls voraus: "Dann gibt es einen krisenhaften Auslöser, der ein Handlungsmuster abruft, das vorher ausgeprägt wurde - etwa durch Computerspiele."
Nahost-Konflikt und 11. September
Auch gewaltverherrlichende Filme und Videos würden zur
Konditionierung von Gewalttätern beitragen, sagte Jötten. "Eine
Rolle spielen aber auch die Ereignisse des 11. September und der
Nahost-Konflikt", fügte er hinzu. So würden die Menschen über die
Medien ständig mit Bildern von Gewalt konfrontiert.
