Digital ist besser: Die neue Boheme
Holm Friebe und Sascha Lobo skizzieren in ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit", wie sich mit Hilfe neuer Technologien ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Festanstellung führen lässt. Die so entstehende digitale Boheme entwickle sich zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor, zeigen sich die beiden Autoren im ORF.at-Interview überzeugt.
Was tun, wenn man Germanistik und Anglistik studiert hat und dennoch nicht Lehrerin werden will? Kathrin Passig hat ihr Glück im Internet gefunden. Sie programmiert und schreibt für das Weblog Riesenmaschine, ist Mitgeschäftsführerin der "Tarnkappenfirma" Zentrale Intelligenz Agentur. Nebenbei hat sie heuer mit der Erzählung "Sie befinden sich hier" den Bachmann-Preis gewonnen.
Passig ist eines von zahlreichen Beispielen, das Friebe und Lobo anführen, um ihr Modell der digitalen Boheme zu veranschaulichen.
Es gehe auch ohne Festanstellung: Mit Hilfe neuer Technologien und der Demokratisierung von Produktions- und Distributionsmitteln lasse sich der persönliche Handlungsspielraum erweitern und ein Auskommen in vernetzten Arbeitswelten finden.
"Wir nennen es Arbeit" stellt vorangegangene Entwürfe postindustrieller Gesellschaftsanalysen - Richard Floridas "Rise of the Creative Classes" bis hin zu Jeremy Rifkins "Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft" zusammen - und liefert einen Katalog neuer Erwerbs- und Vernetzungsmöglichkeiten.
Soziale und politische Problemstellungen in Verbindung mit den neuen Arbeitswelten werden angerissen, verlieren sich jedoch allzu oft in der Schwärmerei für neue Existenzweisen. "Wir nennen es Arbeit" ist keine nüchterne Analyse aktueller gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen, sondern eine unterhaltsame Bestandsaufnahme neuer, technologisch unterstützter Lebens- und Arbeitsformen und ihrer Rahmenbedingungen.
Weil sich die Thematik naturgemäß ständig erweitert, kommentieren Holm und Friebe aktuelle Entwicklungen in einem Weblog zum Buch.
ORF.at: Was ist das Neue an der digitalen Boheme?
Friebe und Lobo: Die digitale Revolution hat inzwischen beinahe jeden Bereich der Kulturproduktion massiv verändert und vor allem preiswerter gemacht. Mit den neuen Entwicklungen im Internet, Stichworte Web 2.0 und Long Tail, kommt hinzu, dass oft die Schlüssellöcher wegfallen: Kommunikation und Vertrieb.
Inzwischen kann die Boheme, die früher zwischen Klampfe und Staffelei mehr für sich selbst produzierte, über Kanäle wie Blogs und Mailinglisten und auf Plattformen von eBay bis MySpace ihre Produkte selbst in Masse distribuieren und an den Kunden bringen.
Abgesehen von den vielen verschiedenen Job-Bereichen, die im und vor allem um das Internet herum entstanden sind – vom Web-Designer über den Texter bis zum Programmierer – entstehen täglich neue Berufe im Digitalen: Die Kleidungsdesignerin im Online-Rollenspiel Second Life ist nur ein Beispiel.
ORF.at: Sie listen in ihrem Buch einen Katalog an Erwerbsmöglichkeiten auf, die durch neue Technologien ermöglicht werden. Das klingt sehr verlockend. Aber ist es nicht ein verschwindend geringer Teil, der tatsächlich davon leben kann?
Friebe und Lobo: Wir haben im Buch das Bild benutzt, dass dieser Bereich gerade von den Kinderschuhen in die Teenager-Sneakers geschlüpft ist. Insofern stimmt es, dass diese Entwicklung am Anfang steht, aber sie nimmt jeden Tag mehr Fahrt auf und ist auch jetzt schon viel größer als ein "verschwindend geringer Teil".
Indem eine ganze Generation neue Konsum- und Identitätspraktiken kultiviert, entstehen neue Dienstleistungen und neue Märkte, von denen wir heute noch gar nichts wissen; vieles davon wird im rein virtuellen Raum stattfinden, dennoch findet reale Wertschöpfung statt.
Hinzu kommt, dass die digitale Boheme heute schon weitaus größere Teile der Wirtschaft mit beeinflusst, als das eigentliche Volumen ihrer Transaktionen ausmacht.
ORF.at: Verdienen nicht in erster Linie Software-Anbieter, Infrastrukturanbieter und Aggregatoren wie etwa Google und Technorati mit den Inhalten der kreativen Massen Geld?
Friebe und Lobo: Ja, die vor allem. Aber das Phänomen, das wir beschreiben, hat eine feine Spitze und eine breite Basis. Mit dem Web 2.0 setzt sich die Erkenntnis durch, dass diejenigen Unternehmen im Netz immer erfolgreicher werden, die eine Art wirtschaftliches Ökosystem um sich herum ermöglichen, also nicht nur Kunden haben, die konsumieren, sondern die auch selbst produktiv sind und dadurch mitverdienen.
Neben dem Flaggschiff eBay muss man dabei auch Mechanismen wie Google AdSense nennen oder ganz spitze Herangehensweisen beschreiben, wie die von
Innocentive.com. Dort schreiben Unternehmen Probleme vor allem aus den Bereichen Pharmazie, Chemie und Biologie aus, die gegen Prämien
von bis zu 100.000 US-Dollar von Wissenschaftlern aus aller Welt gelöst werden können.
Das ist eine Art ins Netz ausgelagerte Forschungsabteilung. Um genau solche Phänomene, die immer häufiger und in immer mehr Bereichen auftauchen, geht es uns.
ORF.at: Verdienen Sie mit Ihrem Weblog Riesenmaschine Geld?
Friebe und Lobo: Ja. Das steht zwar nicht unbedingt im Verhältnis dazu, dass wir inzwischen mehr als 50 Autoren haben und etwa 15 davon regelmäßig schreiben. Aber im zweiten Halbjahr 2006 rechnen wir mit einem Umsatz von knapp 40.000 Euro. Das beinhaltet Werbung und Sponsoringgelder ebenso wie Zweitverwertung und Buchverträge.
Seit Juni 2005 betreibt die Zentrale Intelligenz Agentur [ZIA], der auch Friebe und Lobo angehören, den Gegenwarts- und Zukunftsforschungsblog Riesenmaschine. Heuer wurde das Gruppenblog mit dem Grimme Online Award Kultur und Unterhaltung ausgezeichnet. Riesenmaschine beschreibt sich selbst als "ein kapitalistisch-sozialistisches Joint Venture mit dem Anspruch, neue Formen der Kollaboration zu etablieren".
ORF.at: Wie wichtig sind konkrete Orte und lokaler Kontext für das Überleben als digitaler Bohemien?
Friebe und Lobo: Sehr wichtig. Es hieß mal, dass das Internet den Ort und seine Bedeutung abschaffen würde, aber das Gegenteil ist der Fall: Das Netz selbst bekommt zunehmend lokale Komponenten, und die Stadt wird mit einer digitalen zweiten Haut überzogen.
Und obwohl es auch Gegenbeispiele gibt, entstehen die meisten Auftragsbeziehungen mit Selbstständigen aus persönlichem Livekontakt heraus. Geschäftliche Kontakte zu halten und zu pflegen funktioniert dann aber wieder meistens digital. Die neue Qualität des Ortes bedeutet: Wenn man sich mit dem Laptop mehr oder weniger aussuchen kann, wo man arbeitet, möchte man das an einem angenehmen Ort tun.
ORF.at: Wo liegt die gesellschaftliche Relevanz dieser neuen Lebens- und Arbeitsform?
Friebe und Lobo: Die Relevanz liegt vor allem darin, vielen jungen Menschen die Möglichkeit der selbstständigen Arbeit überhaupt erstmal aufzuzeigen.
Gleichzeitig funktioniert die digitale Boheme auch als Taktgeber für eine immer digitaler werdende Gesellschaft. Wenn man sich viele Entwicklungen der digitalen Welt aus den letzten Jahren ansieht, für die man nicht gigantische Infrastrukturen braucht, von Flickr, YouTube und Skype über das SMS-Tool T9 bis zu Firefox - die wurden aus mehr oder weniger kleinen, selbständigen Zusammenschlüssen heraus entwickelt und eben nicht von den eigentlich für Innovation zuständigen Konzernen.
Und das sind nur die höchsten Spitzen, darunter gibt es eine unendliche Vielfalt von digitalen Produkten, die im Kleinen von der digitalen Boheme produziert wurden. Ohne das Wirken der digitalen Boheme wäre das Internet ein öder Ort.
ORF.at: Hat die Politik die Bedeutung dieser technologisch unterstützten Daseinsformen erkannt?
Friebe und Lobo: Die Politik bekommt langsam eine ungefähre Ahnung, dass da etwas ist, was sie nicht kennt und was eine gewisse Sexyness mit sich bringt, von erkennen kann aber keine Rede sein.
Die Festanstellung ist immer noch das Maß aller Dinge, was Arbeit und ihre politische Dimension angeht. Selbstständigkeit heißt dort fast immer automatisch Unternehmertum und entwickelt sich nach Möglichkeit zu einer Firma mit vielen Angestellten. Das sehen wir eben nicht so.
ORF.at: Sind Festanstellungen wirklich so schlimm?
Ja. Natürlich nicht für alle Menschen und für alle Bereiche. Aber wer "The Office" oder notfalls auch "Stromberg" sieht und deshalb nicht lachen kann, weil er sich zu oft wieder erkennt, der weiß, was wir meinen.
Abgesehen davon wollen die wenigsten wieder zurück in den Schoß des Großraumbüros, wenn sie mal einigermaßen erfolgreich ausprobiert haben, wie süß die Freiheit schmeckt. Für das Privileg, sein eigener Herr zu sein, werden Durststrecken und Zukunftsunsicherheit in Kauf genommen.
ORF.at: Wer vertritt die Interessen der digitalen Boheme?
Friebe und Lobo: Die Interessen der digitalen Boheme vertritt derzeit niemand. Das liegt natürlich auch daran, dass dort oft genug eine Abneigung gegen großkollektive Strukturen wie Interessenverbände besteht.
Abgesehen davon versuchen wir mit dem Buch, eine Definition von dieser Arbeits- und Lebensweise zu liefern, die eben Interessenvertretung ermöglicht.
(futurezone | Patrick Dax)