Krieg der Knipser
Während die deutsche Boulevardzeitung "Bild" aus ihren Lesermassen Paparazzi rekrutiert, ruft das kritische "Bildblog" seine Fans dazu auf, "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann abzulichten. Ein Vorstoß an die Grenzen des "Citizen Journalism".
"Es ist ganz einfach", heißt es auf Bild.de. "Sie machen 'klick' und wir zahlen." 500 Euro bekommt ein Leser vom Springer-Verlag, wenn eines seiner Fotos in der Bundesausgabe der größten deutschen Boulevardzeitung veröffentlicht wird. Ein Schnappschuss für eine der Regionalausgaben des Blatts bringt immerhin noch 100 Euro.
Mallorca und Motorroller
Als Beispiele für gelungene Bilder zeigt Bild.de ein Foto von Dieter Bohlen, der sich, die Papierausgabe von "Bild" lesend, mit nacktem Oberkörper auf Mallorca in der Sonne räkelt, sowie einen Schnappschuss von einem Polizisten, der in Berlin mit seinem Motorroller das Pech hatte, einem fotografisch bewaffneten "Bild"-Leser ohne Helm unter die Augen geknattert zu sein.
Seit praktisch jeder mit seinem Multimedia-Handy auch eine Kamera bei sich hat und die damit angefertigten Bilder auch sofort via MMS versenden kann, heben die Boulevardblätter Europas unter ihren Lesern dunkle Truppen aus, die scheue Prominente aus ihren Verstecken scheuchen sollen.
Gegenüber den lichten Versprechungen einer neuen aufklärerischen Ära des Bürgerjournalismus, wie er von der erfolgreichen südkoreanischen Site OhMyNews und ihrem weniger aufregenden US-Pendant Newsvine gepflegt wird, mutet diese Bewegung wie eine der übleren Szenen aus dem "Herrn der Ringe" an.
OhMyNews ging aus der südkoreanischen Bürgerrechtsbewegung hervor und half unter anderem dabei, den Skandal um den "Klon-Fälscher" Hwang Woo Suk aufzudecken. Newsvine ist ein kommerzielles US-amerikanisches Projekt, in dem Agenturmeldungen mit Lesernachrichten abgemischt werden.
Kiss Army: Hinter der Harmlosigkeit
Sicher sind die meisten Bilder der Leser-Reporter harmlos. Auch dass professionelle Medien eingesandte Bilder von Amateuren abdrucken, ist nicht gerade neu. Aber durch die Vernetzung und die unglaublich leichte Verfügbarkeit einfach zu bedienender Kameras ergibt sich schon eine neue Qualität der panoptischen Gesellschaft. Wo früher nur Augenpaare lauerten, ist heute auch oft gleich eine Kamera mit dabei.
Dass Boulevardmedien sich jener sozialen Instinkte bedienen wollen, die ihr Geschäftsfeld erst ermöglichen, scheint logisch. Außerdem füllen Amateurfotos den Platz zwischen den Anzeigen in der Regel günstiger aus als Arbeiten von Profis. Und wer sein Foto an "Bild" überträgt, schickt auch gleich sämtliche Rechte mit an den Axel-Springer-Verlag.
Alle filmen alle
Das von deutschen Medienjournalisten betriebene "Bildblog", das die Arbeit der "Bild"-Redakteure mit erheblichem Aufwand kritisch begleitet und dafür im vergangenen Jahr den renommierten Grimme-Preis erhielt, ruft nun dazu auf, "Leserbilder" von Kai Diekmann, dem Chefredakteur von "Bild", einzusenden.
"Neben ein paar Spaßbildern haben wir auch schon ein echtes Leserfoto von Diekmann bekommen", teilte "Bildblog"-Autor Stefan Niggemeier ORF.at am Samstag mit. "Von 'Bild' oder Springer haben wir noch nichts gehört. Die Aktion läuft ja auch erst 24 Stunden."
Absolute Personen
Niggemeier hält Diekmann für prominent genug, um ihn in der offenen Retourkutsche Platz nehmen zu lassen. "Herr Diekmann tritt mit seiner Frau in der Öffentlichkeit auf, geht zu öffentlichen Empfängen, hat sich für ein NDR-Porträt halb privat im Restaurant und beim Einkauf auf dem Markt filmen lassen. Er ist also niemand, der sich konsequent aus der Öffentlichkeit fern hält und dadurch besonders geschützt wäre."
Motorroller überholt, Blick über die Schulter
Als langjähriger Chefredakteur der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung wird Diekmann in der Tat als "absolute Person der Zeitgeschichte" gelten, also als ein Mensch, von dem nach deutschem Recht auch ohne Zustimmung Fotos angefertigt und veröffentlicht werden dürfen.
Von dem Berliner Polizisten auf dem Roller, der von Bild.de als Beispiel für ein gelungenes Leserfoto vorgebracht wurde, kann man das nicht behaupten. Obgleich Bild.de das Gesicht des Mannes unkenntlich gemacht hat, dürften ihn doch seine Freunde, Kollegen und Vorgesetzten an Hand des Rollers recht einfach identifizieren können. Das auf den ersten Blick spaßig-hämische Foto könnte dann doch für einen tieferen Eingriff in die Existenz seines Sujets sorgen.
Watchblogs
Auch in Österreich und der Schweiz haben die auflagestärktsten Boulevardblätter ihre Watchblogs. Das "Krone-Blog" setzt sich kritisch mit der "Kronen Zeitung" auseinander und das Schweizer "Pendlerblog" mit der Gratiszeitung "20 Minuten".
Komplizenschaft im Voyeurismus
Die Aktivitäten der "Bild" und ihrer Antagonisten vom "Bildblog" weisen jedenfalls auch darauf hin, dass nicht nur der Staat und böse Corporations gerne filmen und schnüffeln. Auch die Bürger selbst greifen gern zur Kamera, wenn sie glauben, dass es ihnen etwas bringt. Diese Komplizenschaft im Voyeurismus ist es, die in unseren Gesellschaften ein zunehmend unangenehmes Klima wirken lässt.
(futurezone | Günter Hack)