"Spielen greift das Establishment an"

17.10.2006

Virtuelle Welten wie "Second Life" erleben derzeit einen regelrechten Boom. Neben privaten Nutzern drängen zunehmend auch Unternehmen in den Multiplayer-Kosmos. ORF.at hat mit Tom Fürstner, Professor an der Universität für angewandte Kunst, über die Attraktivität der Spieluniversen gesprochen.

Tom Fürstner lehrt an der Universität für angewandte Kunst in Wien und ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung beim österreichischen Technologieunternehmen System One.

Warum erleben virtuelle Welten wie "Second Life" gerade jetzt einen Boom?

Zum einen hat die Technologie in den vergangenen Jahren einen Sprung gemacht. Es sind mehr Breitbandanschlüsse verfügbar als noch vor ein, zwei Jahren. Daneben hat sich die 3D-Technik weiterentwickelt.

Zum anderen kommt "Second Life" den Bedürfnissen vieler Leute entgegen. Im Wesentlichen geht es dabei um Risiko und Reputation. Man muss Land erwerben und es attraktiv machen und man muss versuchen, es zu verkaufen, um auch für andere attraktiv zu sein. Je besser man das macht, desto mehr Reputation bekommt man.

Darüber hinaus ist man zur Kollaboration und zur Kooperation gezwungen. Das heißt, man muss sich auf andere einlassen. Man tut das alles, um Wert zu generieren: mehr Leute kennen zu lernen, das hübschere Haus zu haben oder mehr Geld als andere zu verdienen. Motivationskraft ist die Aussicht auf das Schaffen von Werten.

Bei "Second Life" läuft aber auch die Kommunikation anders ab. Man agiert über einen Avatar. Das verändert die Qualität von Kommunikation.

Auch immer mehr Unternehmen drängen in die Spielewelten. Was bringt die Präsenz?

Branding. Die Aufmerksamkeitsspanne für klassische Werbung liegt im Sekundenbereich. In "Second Life" haben sie eine Präsenz, die mit keinem anderen Medium zu erreichen ist. Die Unternehmen machen dabei natürlich auch beim Reputationsspiel mit.

"Second Life" ist längst ein Tummelplatz für Unternehmen geworden. So setzen etwa der Autohersteller Toyota, der Musikkonzern Sony-BMG und das Technologieunternehmen Sun Microsystems auf den virtuellen Kundenkontakt.

Der Sportartikelhersteller adidas und der T-Shirt-Shop American Apparel verkaufen bereits virtuelle Kleidung für Avatare im Online-Universum. Am Mittwoch startet auch die Nachrichtenagentur Reuters ein Büro im Metaversum.

Mitch Kapor, der Vorstandschef des "Second Life"-Betreibers Linden Lab, spricht davon, dass dreidimensionale Erlebniswelten wie "Second Life" schon bald sowohl den Desktop als auch andere zweidimensionale User-Interfaces ersetzen werden.

Er sagt das, weil er glaubt, dass die Menge der Daten mit klassischen Charts bald nicht mehr zu bewältigen sein wird. Ich glaube das nicht. Sicherlich werden wir mehr Zeit in virtuellen Welten verbringen, aber wir werden auch weiterhin Weblogs lesen, Flash-Sites und Videos ansehen. Auch in "Second Life" werden solche Medien gestreamt. Das zeigt, dass auch dort die Dinge, die Aufmerksamkeit erzeugen, erst wieder 2D sind.

Wo liegt die ökonomische Bedeutung dieser virtuellen Welten?

Die liegt darin, dass es eine vollkommen andere Art von Wertschöpfung gibt. Im Realen sind die Dinge einmalig und haptisch. Je geringer die Verfügbarkeit, desto höher die Nachfrage. Im Netz ist es umgekehrt: Je besser verfügbar etwas ist und je schneller es sich verbreitet, desto mehr ist es wert.

Im Grunde genommen beeinflussen diese virtuellen Ökonomien auch die echte Ökonomie. Nur dass sie dem internationalen Währungssystem nur zum Teil gehorchen. All diese Dinge stellen vieles am Finanzsystem in Frage. Aber es ist noch zu früh, um die Auswirkungen voll abschätzen zu können.

Das Interessante ist, dass Personen bereit sind, virtuelle Güter wie reale Güter zu behandeln. Das ist ein ziemlicher Sprung in der Wahrnehmung dessen, was Güter sind und was Waren sind.

"Second Life" trägt mittlerweile auch zum Lebensunterhalt vieler Leute bei. Enstehen hier neue Berufe?

Ja, sicher, aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Es gibt Inworld-Designer und Ingame-Advertiser, aber eben auch die so genannten "Goldfarmen". Dort werden Leute ausgebeutet und dazu gezwungen, 16 bis 20 Stunden pro Tag am Computer zu sitzen, um mit ihrer Präsenz und Tätigkeit für andere Leute Werte zu schaffen.

"Indem eine ganze Generation neue Konsum- und Identitätspraktiken kultiviert, entstehen neue Dienstleistungen und neue Märkte, von denen wir heute noch gar nichts wissen; vieles davon wird im rein virtuellen Raum stattfinden, dennoch findet reale Wertschöpfung statt", erzählen Holm Friebe und Sascha Lobo im Interview mit ORF.at.

Ein Beispiel dafür, sagen die beiden Autoren, sei eben die Kleiderdesignerin im Online-Rollenspiel "Second Life". In ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit" skizzieren Friebe und Lobo, wie sich mit Hilfe neuer Technologien ein Auskommen in vernetzten Arbeitswelten finden lässt.

Kann "Second Life" ein Experimentierfeld für neue gesellschaftliche Modelle sein?

Absolut. Das zeigen zum Beispiel die vielen Universitäten, die ihre Kurse in "Second Life" abhalten. Aber auch viele kleine Gruppierungen, die Community-Center aufbauen, und nicht zuletzt auch die Open-Source-Bewegung, die sich seit kurzem auf öffentlichen Meetings in "Second Life" trifft.

Ist schon bald mit politischen Organisationen in virtuellen Welten zu rechnen?

Diese Online-Spiele sind praktisch eine politische Willenskundgebung, die das Establishment schon in vielen Bereichen angreift. Allein indem man sich an einer virtuellen Welt orientiert und an einer derartigen Ökonomie teilnimmt - als Käufer oder Verkäufer, Gestalter oder Nutzer - und bereit ist, etwa Linden-Dollars als Währung zu akzeptieren, tätigt man ein kulturpolitisches Statement gegen das Establishment.

(futurezone | Patrick Dax)