Das Valley in der Krise
Die US-amerikanische Wirtschaftskrise hat die Internet-Wirtschaft erreicht. Experten gehen von bis zu 180.000 Stellenstreichungen aus. Viele Start-ups bereiten sich schon jetzt auf einen langen Winter vor. Der mächtige Investor Sequoia Capital schockiert die Silicon-Valley-Gemeinde, indem er vorsorglich die "gute alte Zeit" beerdigt.
Silicon Valleys Start-up-Mitarbeiter haben in diesen Wochen einen neuen Grund dafür, alle paar Minuten auf ihre iPhones und BlackBerrys zu starren: Jede neue E-Mail könnte bedeuten, dass sie sich nach einem neuen Job umsehen müssen.
Erste Entlassungswellen
Derzeit verkünden US-Start-ups praktisch täglich neue Entlassungsrunden. So kündigte das Internet-Radio Pandora Mitte Oktober 20 Mitarbeitern. Am selben Tag trennte sich die Online-Werbefirma Adbrite von 40 Mitarbeitern. Einen Tag später verabschiedete sich die Wohnungsmarktwebsite Zillow.com von einem Viertel ihrer Belegschaft.
Entlassungen gab es auch bei Seesmic, Six Apart, Revision3, Veoh, Vuze, BitTorrent Inc., LinkedIn und Dutzenden weiteren Firmen. Auch Branchenriesen bleiben von diesem Trend nicht verschont. Sun gab kürzlich die Streichung von 6.000 Stellen bekannt. Bei eBay müssen sich 1.600 Mitarbeiter nach einem neuen Job umsehen, bei AOL trifft das auf 2.000 Mitarbeiter zu. HP will sich sogar von 25.000 Mitarbeitern trennen.
Bis zu 180.000 Jobs weniger
Experten der Chicagoer Beratungsfirma Challenger, Gray & Christmas gehen in einer Studie von November davon aus, dass die Tech-Branche in den USA bis zum Jahresende bis zu 180.000 Jobs verlieren könnte. Von Juli bis September wurden demnach bereits knapp 70.000 Stellen abgebaut. Dabei sind die Jobverluste nicht aufs Silicon Valley beschränkt. Doch in Zeiten von Blogs und Twitter sind die Entlassungen dort mehr denn je Tagesgespräch.
So gehen immer mehr CEOs und Firmengründer dazu über, Begründungen für ihre Einsparungen auf ihren Blogs zu veröffentlichen. Ein Yahoo-Mitarbeiter nutzte Anfang des Jahres Twitter, um praktisch in Echtzeit von seiner eigenen Entlassung zu berichten. Und auf Branchenblogs wie Techcrunch dominieren anstelle von Produktvorstellungen plötzlich schlechte Nachrichten die Schlagzeilen.
Wie ernst die Lage wirklich ist, wurde Lesern des IT-Klatschblogs Valleywag Ende letzter Woche bewusst. Valleywags Autoren berichteten in den vergangenen Monaten emsig über jede noch so kleine Entlassungsrunde und machten sich dabei nicht selten über die betroffenen Firmen lustig. Am Donnerstag gab Verleger Nick Denton dann plötzlich bekannt, dass Valleywag aus finanziellen Gründen eingestellt werde. Vier Redakteure und Autoren mussten gehen, einer darf in Zukunft für ein anderes Denton-Blog über die IT-Industrie schreiben - Entlassungsrunden inbegriffen.
Valleywag machte sich mit einer Mischung aus Klatschberichterstattung und schnippischen Kommentaren über Start-ups und ihre Gründer einen Namen. In die Kritik geriet das Blog immer wieder für Berichte über das Privatleben von IT-Promis.
40 Prozent weniger Online-Werbung?
Denton begründete die Entlassungen unter anderem damit, dass er für 2009 40 Prozent weniger Umsatz durch Online-Werbung erwarte. "Verleger müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen", so Denton.
Nicht jeder teilt Dentons pessimistische Einschätzung. Dass es im Online-Werbemarkt Einbrüche geben wird, ist jedoch unumstritten. Die Kreditkrise hat in den USA mittlerweile auch den Einzelhandel erreicht. Die große Elektronikkette Circuit City meldete letzte Woche Bankrott an und begann damit, 155 Filialen zu schließen. Drei weitere Kaufhausketten gaben ebenfalls auf, und der Rest der Branche erwartet ein ruinöses Weihnachtsgeschäft.
Anzeigen derartiger Einzelhändler machen mehr als 20 Prozent aller Online-Werbeschaltungen aus. Gleichzeitig haben sich immer mehr Start-ups in ihren Geschäftsmodellen voll und ganz auf Online-Werbung verlassen - Pleiten sind da programmiert. Die Risikokapitalfirma Sequoia Capital ermahnte deshalb kürzlich alle von ihr finanzierten Firmen, sofort mit Sparmaßnahmen zu beginnen und so bald wie möglich schwarze Zahlen zu schreiben. In einer Präsentation der Firma hieß es dazu: "Behandelt jeden Dollar, als ob es euer letzter wäre."
Sequoia Capital hat im Laufe der Jahre unter anderem Geld in Atari, Yahoo, Google und YouTube investiert. Der Investor stimmte die Valley-Gemeinde kürzlich zu Beginn einer Präsentation mit dem oben gezeigten Start-up-Grabstein auf die kommenden harten Zeiten ein.
Firmen ohne Geschäftsmodelle
Gleichzeitig argumentieren einige Insider, dass der Branche eine gewisse Bereinigung nur guttun könne. Ganz wie im ersten Internet-Boom habe auch der Web-2.0-Boom zu zahlreichen Produkten geführt, für die es kein klares Geschäftsmodell gebe, so die Kritik.
Tatsächlich haben einige der Entlassungen wohl eher mit strategischen Fehlern als mit der derzeitigen Krise zu tun. So sah sich BitTorrent Inc. in den letzten Monaten gezwungen, zwei Drittel seiner Belegschaft vor die Tür zu setzen. Die von BitTorrent-Erfinder Bram Cohen gegründete Firma versuchte lange Zeit vergeblich, Tauschbörsennutzern kopiergeschützte Kopien von Filmen zu verkaufen, die es in Filesharing-Netzen ganz ohne Nutzungsbeschränkungen umsonst gibt.
Mehr Zeit für Kreativität?
Bei allem Krisengerede gibt es auch einige, die bereits Licht am Ende des Tunnels sehen. So glaubt Mahalo.com-Gründer Jason Calacanis, dass die Branchenkrise zu einer neuen Welle von Kreativität führen wird. "Bloggen wurde nicht aufgrund einer technischen Neuerung so bekannt, sondern weil es zwischen 2002 und 2005 viele arbeitslose und unterbeschäftigte Menschen gab, die viel Zeit und viel zu sagen hatten", so Calacanis.
(Janko Röttgers)