EU-Gelder für Internet-Zensur
Die EU hat ein neues Millionenprogramm zum Schutz von Minderjährigen im Internet aufgelegt. Dass die Empfänger der Gelder immer nachvollziehbar und verantwortungsbewusst mit diesen Mitteln umgehen, darf bezweifelt werden. Denn auch die umstrittene britische Internet Watch Foundation (IWF), die für die Sperre der Wikipedia im Vereinigten Königreich verantwortlich zeichnet, wird aus diesem Topf finanziert.
Die Sperre des Faksimiles eines vor 32 Jahren erschienen Schallplattencovers in einem Artikel des weltweit führenden Online-Lexikons Wikipedia durch britische Internet-Provider wurde unter anderem mit Unterstützung durch Gelder der EU-Kommission durchgeführt.
Das inkriminierte Cover des Albums "Virgin Killer" der deutschen Rockband Scorpions - eine nackte Minderjährige, posierend - war regional für praktisch alle Internet-Anschlüsse im Vereinigten Königreich gesperrt. Allerdings nur im Online-Nachschlagewerk Wikipedia.
Chronologie der Sperre
Das ist "Safer Internet"
Die "Nebenwirkung" der Aktion war, dass Zigtausende in Großbritannien ansässige ehrenamtliche Mitarbeiter des Online-Nachschlagewerks mehrere Tage keine Wikipedia-Artikel mehr schreiben oder bearbeiten konnten.
Praktisch zeitgleich dazu, nämlich am vergangenen Dienstag, hatte der EU-Ministerrat die neueste Auflage des "Safer Internet"-Programms der Kommission durchgewunken, das 55 Millionen Euro für den Zeitraum bis 2013 vorsieht.
Ziel der Aktion, die eine Fortschreibung früherer "Safer Internet"-Programme mit einem Mehr an Geldmitteln darstellt: "Kinder in der immer komplexer werdenden Online-Welt" zu schützen.
Internet Watch Foundation
Mit dem Geld wurden in erster Linie Hotlines, bei denen Bilder von Kindesmissbrauch gemeldet werden können, eingerichtet, wie auch die Internet Watch Foundation eine betreibt. Kinder zu schützen ist wichtig und unterstützenswert, allerdings setzen Organisationen wie die IWF auch auf den Einsatz von Internet-Filtermechanismen, die allzu oft mehr Probleme aufwerfen, als sie zu lösen versprechen.
Die IWF, die dafür gesorgt hatte, dass Großbritanniens Internet-Provider die Wikipedia und die Arbeit an ihr blockierten, hat seit dem Jahr 2000 hohe Fördersummen aus dem "Safer Internet"-Programm der Union erhalten.
Förderung durch die EU-Kommission
Das Büro der zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding teilte ORF.at dazu am Mittwoch schriftlich mit:
"Das 'Safer Internet'-Programm hat die Hotline der IWF kontinuierlich ... seit 2000 mitgefördert. Die momentane Förderung für die Zeit vom 1. April 2008 bis 30. Juni 2009 beträgt 450.000 Euro."
Eine neue Vereinbarung sei in Ausarbeitung, sie betreffe den Zeitraum bis 2010.
EU-Kommission "nicht involviert"
Auf die Frage von ORF.at, ob die Kommission denn diese Blockade der Wikipedia für rechtens halte, hieß es:
"Auch wenn die Kommission die Hotline in Großbritannien mitfinanziert, so ist sie in die Entscheidungsfindung der Internet Watch Foundation zur Beurteilung von Internet-Inhalten nicht involviert."
Im Juli 2007 tobte in Schweden eine Kontroverse darüber, ob die Polizei den unbequemen Torrent-Tracker The Pirate Bay über die Anti-Kinderporno-Liste sperren sollte. Die Polizei gab seinerzeit zu, darüber nachgedacht zu haben, zog den Plan aber wieder zurück.
Auf freiwilliger Basis
Die IWF versorge die angeschlossenen Internet-Provider mit einer Liste von Kindermissbrauchsbildern, heißt es in der Antwort der Kommission an ORF.at. Die Provider könnten dann "auf freiwilliger Basis den Zugang blockieren".
Auch in anderen EU-Staaten seien vergleichbare Mechanismen in Kraft. Eines der Beispiele dafür sei Schweden, wo die Polizei die Liste mit zu sperrenden Internet-Adressen betreibt.
Gemeinnutz und Willkür
Doch während die Polizei als Exekutive in rechtsstaatliche Kontrollmechanismen wie die Gewaltenteilung eingebunden ist, handelt es sich bei der IWF lediglich um eine gemeinnützige Stiftung, eine "unabhängige Körperschaft zur Selbstregulierung", wie es auf ihrer Website heißt.
Spätestens hier greift die Kritik, der Wikimedia Foundation und der US-Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) an der IWF äußerten: Der Rückzug der Wikipedia-Blockade durch die IWF sei ebenso unkontrolliert und willkürlich geschehen wie die Sperre selbst.
"Die Internet-Zensoren müssen für den Schaden geradestehen, den sie angerichtet haben", forderte die EFF in einer Aussendung vom Dienstag.
Antwort der Zensoren
Die IWF freilich blieb in ihrem Rückzugsstatement vom Dienstag dabei, dass das Scorpions-Cover eventuell gegen das britische Kinderschutzgesetz von 1978 verstoßen könnte.
Diese Vermutung rechtfertigte die Sperre des Wikipedia-Artikels. Nun dient sie mit dazu, den Rückzug der Sperre zu begründen.
Mehr dazu im zweiten Teil der Serie über neue Filter- und Blockadestrategien in der EU
(futurezone/Erich Moechel/Günter Hack)