Berlusconi greift nach dem Internet
Ärger mit Netzfiltern könnte schon bald zum Alltag der europäischen Internet-Nutzer gehören. Denn unter der Führung von Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi wollen die G-8-Staaten "das Internet regulieren". In Deutschland fordert Familienministerin Ursula von der Leyen ebenfalls Internet-Filter. Ihr ausdrückliches Vorbild: Großbritannien.
Die Sperre eines historischen Plattencovers in der Wikipedia durch britische Provider, die quasi nebenbei Zigtausende Wikipedia-Mitarbeiter im Vereinigten Königreich tagelang vom Zugriff auf das Online-Lexikon ausschloss, ist keineswegs als Einzelfall zu werten, der sich kaum wiederholen wird.
Im Gegenteil ist vielmehr zu erwarten, dass sich derart überschießende Zensurmaßnahmen in naher Zukunft quer durch Europa häufen werden, da die Briten einer Entwicklung vorausgeeilt sind, die sich auch in anderen Ländern gerade abzeichnet.
"Erlaubt und freiwillig"
Diesen Sachverhalt bestätigte auch das Büro von EU-Kommissarin Viviane Reding in Beantwortung einer Anfrage von ORF.at. Neben Großbritannien sei auch in Schweden, Dänemark, Finnland und den Niederlanden eine Regelung in Kraft, die "es Internet-Service-Providern erlaubt, auf freiwilliger Basis den Zugang zu Bildern von Kindesmissbrauch zu blockieren", die auf Servern in Drittstaaten stehen.
Blockieren ist also "erlaubt" und geschieht "auf freiwilliger Basis", aber ohne Gerichtsbeschluss und gleichsam auf Zuruf durch die Polizei oder eine dazwischengeschaltete Stiftung wie in Großbritannien - doch dabei bleibt es nicht.
Die Wikipedia-Sperre
Am Dienstag hat die EU hat ein neues Millionenprogramm zum Schutz von Minderjährigen im Internet aufgelegt. Dass die Empfänger der Gelder immer nachvollziehbar und verantwortungsbewusst mit diesen Mitteln umgehen, darf bezweifelt werden. Auch die umstrittene britische Internet Watch Foundation (IWF), die für die Sperre der Wikipedia verantwortlich zeichnete, wird aus diesem Topf finanziert.
Teil eins der Serie zum Thema:
Oder: Verpflichtend
"In Italien sind Internet-Provider gesetzlich verpflichtet, eine von der Polizei erstellte Liste von Websites zu blockiern. Momentan sind in anderen EU-Staaten, besonders in Deutschland und Frankreich, Diskussionen darüber im Gange, ob ein derartiges Regime auf freiwilliger oder verpflichtender Basis eingeführt werden soll", erklärte das Büro der Kommissarin.
Die "Effizienz"
Wenn man bedenkt, dass die britische Wikipedia-Sperre "auf freiwilliger Basis" geschah, mag man sich ausmalen, was passiert, wenn das Blockieren gewisser Inhalte verpflichtend wird, und vor allem, wie "effizient" so ein Regime funktionieren kann.
Während der Blockade der Wikipedia in Großbritannien war das inkriminierte Plattencover der deutschen Rockband Scorpions auch dort über eine ganzen Zahl von Websites ständig einsehbar: in Rockmusik-Lexika und auf Fan-Websites, als antiquarische Original-LP von 1976 und als Nachpressung in Online-Auktionshäusern.
Die Sperrpläne Deutschlands
"Beim Thema Zugangssperren (so genanntes 'Access Blocking') setzt Deutschland auf die guten Erfahrungen in den skandinavischen Ländern sowie in Großbritannien, Italien und Kanada", heißt es auf der Website des deutschen Familienministeriums.
Von der Leyen wolle Anfang 2009 eine entsprechende Gesetzesinitiative auf den Weg bringen. Diese soll bis zum Sommer verabschiedet werden.
Wörtlich heißt es dort: "Die in Großbritannien eingeführte Technik vermag sogar einzelne Bilder zu sperren. Das Problem des unabsichtlichen Blockierens anderer Seiten ('Overblocking') ist damit technisch längst lösbar."
"Freiwillig und erlaubt", die Zweite
Diese Entwicklung ist nicht auf Europa beschränkt. Von der US-Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, wurde von Noch-Präsident George W. Bush Mitte Oktober ein Gesetz in Kraft gesetzt, das Internet-Providern Zugriff auf Listen mit "Kinderporno"-Fotos im Netz gibt, die bis dahin nur Polizei und Strafverfolgern für den behördeninternen Gebrauch zur Verfügung standen.
Zwar schreibt der US-Gesetzestext (derzeit noch) keine systematische Überwachung des Internet-Verkehrs vor, sondern "erlaubt" sie nur auf freiwilliger Basis. "Wissentliches Nichtmelden" von "Kinderpornografie" wird allerdings in den Rang eines schweren Delikts erhoben.
Berlusconis Vorstoß
Endgültige Klarheit darüber, dass es sich bei der weltweiten Einführung von Filter-Regimes - wie so oft - um eine konzertierte Aktion handelt, die von den G-8-Staaten ausgeht, brachte dann Berlusconi in der vergangenen Woche.
Italiens führender Medien-Tycoon und Premierminister hatte da angekündigt, er werde den G-8-Vorsitz seines Landes ab 1. Jänner 2009 dafür nutzen, dort einen "Vorschlag zur Regulation des Internets" aufs Tapet zu bringen.
G-8 gegen EU-Parlament
Was Berlusconis französischer Kollege Nicolas Sarkozy als EU-Ratspräsident nicht geschafft hat, nämlich unter Berufung auf den Schutz des Urheberrechts die verpflichtende Einrichtung von Internet-Filtern gleichsam als EU-Standard festschreiben zu lassen, wird jetzt über die G-8 probiert.
Das alles passiert gegen den erklärten Willen des EU-Parlaments, das sich mit überwältigender Mehrheit von 573 zu 74 Stimmen für einen Paragrafen im Telekompaket ausgesprochen hat, der genau das verbieten würde.
Zusatz 138 zur Universaldiensterichtlinie sieht vor, dass Internet-Sperren - welcher Art auch immer - EU-weit nicht ohne Einschaltung eines ordentlichen Gerichts durchgeführt werden dürfen.
Sarkozy gegen EU-Kommission
Sarkozy hatte den EU-Kommissionsvorsitzenden Jose Manuel Durao Barroso und Medienkommissarin Reding dazu aufgefordert, sich "persönlich" für die Streichung des Zusatzes 138 aus dem Telekompaket zu engagieren. Dieser verhindere den Kampf gegen Internet-Piraterie, was die Existenz der europäischen Medienindustrie bedrohe.
- EU: Datenbanken gegen Kindesmissbrauch
Der EU-Ministerrat
Im EU-Ministerrat, der das Telekompaket noch einstimmig verabschieden muss, wurde der Paragraf 138 dann ganz einfach gestrichen. Sowohl Kommission wie Parlamentarier haben dieses Vorgehen offen kritisiert.
Da nicht damit zu rechnen ist, dass sich das Parlament angesichts der oben zitierten Mehrheitsverhältnisse eine solche Vorgangsweise bieten lassen wird, wird eine Einigung vor den Neuwahlen zum EU-Parlament immer unwahrscheinlicher.
Ausblick 2009
Immer wahrscheinlicher hingegen wird die Aussicht, dass unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Missbrauch von Kindern im Internet europaweit Filter- und Blockade-Regimes, die ohne Einschaltung eines Richters auskommen, zum EU-Standard erhoben werden.
Wetten darauf, dass es nicht lange dauern wird, bis die private Unterhaltungsindustrie - auch bekannt als "Rechteinhaber" - verlangen wird, dass die Provider mit demselben System auch andere "illegale Contents" blockieren, werden nicht angenommen.
(futurezone/Erich Moechel)