Netzfreiheit, Produktfälschung und Nerds
Am Donnerstag hat das EU-Parlament eine Resolution zur Bekämpfung von "Produktpiraterie" verabschiedet, die Überwachungspflichten für Internet-Provider und willkürliche Durchsuchungen von Laptops am Zoll ausschließt. Die grüne Abgeordnete und Mitautorin der Resolution, Eva Lichtenberger, sprach mit ORF.at über den ACTA-Vertrag und warum "die Frage der Freiheit im Internet nicht nur ein paar Nerds betrifft".
"Diese Debatte war total wichtig. Denn insgesamt hat man im Parlament oft noch viel zu wenig Ahnung, wie die Freiheit gefährdet werden kann, während man eigentlich nur guten Willens versucht, zum Beispiel Urheberrechte zu schützen", sagte die Abgeordnete am Freitag zu ORF.at.
"Wichtig war auch, dass damit die völlige Intransparenz attackiert wird", die das ACTA-Abkommen umgebe, so Lichtenberger, Berichterstatterin des parlamentarischen Rechtsausschusses zum Thema "Produktpiraterie".
Die Geheimnisse von ACTA
Das geplante ACTA-Abkommen ist ebenso umstritten, wie es geheim gehalten wird. Außer einem äußerst vage formulierten Erstentwurf - einem "Non-Paper", das aus dem Herbst 2007 datiert und auf Umwegen an die Öffentlichkeit kam - wurde nach mehr als einem Jahr Verhandlungen noch immer keine Zeile des Vertragsentwurfs publiziert.
In Stellungnahmen der EU-Ratspräsidentschaft, aber auch der US-Verhandlungsdelegation wurde hingegen stets versichert, dass man das Abkommen noch vor dem Jahreswechsel unter Dach und Fach bringen wolle. Das geht sich mit Sicherheit nicht aus - schon gar nicht, wenn man die neueste Resolution des EU-Parlaments betrachtet.
309 gegen 232 Stimmen
Am Donnerstag stimmte das Plenum nämlich mit einer deutlichen Mehrheit für eine Resolution, die von Lichtenberger für die Fraktion der Grünen eingebracht worden war.
Mit 309 gegen 232 Stimmen stimmten vornehmlich Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke, aber auch etliche Konservative für den Resolutionsentwurf, der ziemlich klar zeigt, was die Parlamentarier mehrheitlich und definitiv nicht in diesem Vertragswerk stehen haben wollen.
Das Telekompaket
EU-Kommission und Europaparlament hatten sich darauf geeinigt, sämtliche von den Lobbys der Unterhaltungsindustrie in das Telekom-Richtlinienpaket reklamierten Verantwortlichkeiten und damit Überwachungspflichten für Provider ersatzlos zu streichen.
Nun ist das gesetzgeberische Großvorhaben - es werden damit drei bestehende Richtlinien modernisiert und den neuen technischen Entwicklungen angepasst - im EU-Ministerrat. Und dort wurde noch unter der französischen Ratspräsidentschaft versucht, einige der wichtigsten Passagen rückgängig zu machen.
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Was ACTA nicht enthalten soll
Die europäischen Verhandler (i. e. die EU-Kommission) werden aufgefordert, die Internet-Provider aus der geplanten Haftung für transportierte Inhalte nehmen, wie das Internet überhaupt nichts in diesem Vertrag über "Produktpiraterie" zu suchen habe.
Dadurch habe man verhindert, dass bestehende Parlamentsbeschlüsse zum Beispiel im eben verabschiedeten Telekompaket quasi durch die Hintertür eines internationalen Abkommens wie ACTA aufgehoben würden, sagte Lichtenberger.
Against the Odds
Ursprünglich waren es zwei "Berichte" (i. e. Resolutionsentwürfe), parallel zu jenem Lichtenbergers erstellte auch der Abgeordnete Gianluca Susta (Liberale) einen Entwurf für den Binnenmarktausschuss. Die konservative Fraktion hatte zudem angekündigt, den Bericht der Grünen erst gar nicht zuzulassen.
Die Sozialdemokraten hatten für ihr Ja nämlich kurz vor der Abstimmung verlangt, dass eine - für die Mitautorin Lichtenberger eher unerhebliche - Passage aus dem Entschluss gestrichen wird.
Der angekündigte Geschäftsordnungstrick blieb jedoch aus, statt einer Mindestzahl von 40 erhob nur eine Handvoll konservativer Abgeordneter Einspruch gegen diese mündliche Abänderung.
Damit war die Bahn überraschend frei für den Lichtenberger-Bericht, der als Parlamentsresolution für die bei ACTA verhandlungsführende EU-Kommission eine Vorgabe darstellt.
Vom 15. bis zum 17. Dezember haben sich die ACTA-Unterhändler in Paris getroffen, wobei allerdings nur "Textvorschläge" diskutiert worden seien, wie eine Mitteilung auf der Website des kanadischen Handelsministeriums lautet.
Wie der oberste Datenschützer der Union, Peter Hustinx, in einem Schreiben an ORF.at erklärte, bereite er eine Stellungnahme zu ACTA für das erste Quartal 2009 vor.
Hustinx schreibt, dass ACTA auch Vorschläge zum internationalen Austausch von Fahndungsdaten zwischen der EU und anderen Staaten enthält. Bürgerrechtsorganisationen wie die Electronic Frontier Foundation befürchten, dass ACTA zu mehr Überwachungsmaßnahmen im Internet und an Grenzkontrollpunkten führen wird.
Keine Laptop-Durchsuchungen
Neben dem Aus-der-Pflicht-Nehmen von Internet-Providern enthält der "Alternativentwurf für einen Parlamentsbeschluss zu den Auswirkungen von Produktfälschungen auf den internationalen Handel" nämlich noch mindestens zwei weitere sehr interessante Passagen.
Darin werden "Criminal Measures" bei der Grenzkontrolle ausgeschlossen, etwa Kontrollen von Datenträgern aller Art wie Laptops und iPods von Reisenden.
Wie es weitergeht
Dass dieses klare Parlamentsvotum von Kommission und Ministerrat so einfach übergangen werde, glaubt Lichtenberger nicht. "Wir können zwar weder Rat und Kommission zwingen", aber die Erkenntnis, "dass die Frage der Freiheit im Internet nicht nur ein paar Nerds betrifft", sei dabei, sich auch im EU-Ministerrat allmählich durchzusetzen.
In Sachen ACTA kündigte Lichtenberger eine ganze Reihe von Anfragen an. Es sei längst überfällig, dass der genaue Text des Abkommens bekanntgegeben werde.
(futurezone/Erich Moechel)
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