"Stirb für die Erde!"
Das Berliner Festival für Kunst und digitale Kultur, transmediale, untersucht noch bis Sonntag unter dem Titel "Deep North" die Auswirkungen des Klimawandels auf die Kultur und stellt die Rolle der Technologie im kulturellen Wandel zur Diskussion.
"Es geht darum, Strategien zu finden, um mit dem Unbekannten umzugehen", sagte transmediale-Leiter Stephen Kovats am Dienstagabend bei der Eröffnung der Festivals für Kunst und digitale Kultur im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Mit dem Unbekannten meint Kovats die Auswirkungen des Klimawandels. Schmelzende Gletscher und krachende Eisberge sind erst der Anfang. "Es wird etwas Dramatisches passieren, von dem jeder auf der Welt betroffen sein wird", mahnte Kovats.
Die transmediale widmet sich noch bis zum 1. Februar im Berliner Haus der Kulturen der Welt dem Generalthema Kultur- und Klimawandel. Parallel zur transmediale findet an wechselnden Berliner Veranstaltungsorten der club transmediale statt, der heuer seinen zehnten Geburtstag feiert und neben elektronischer und experimenteller Musik erstmals auch eine Diskussionsreihe zum durch die Digitalisierung bedingten Wandel in der Musikkultur präsentiert.
Die transmediale hat es sich deshalb heuer zur Aufgabe gestellt, Schnittstellen zwischen Klimawandel, Kultur und Technologie zu erörtern: bei der Konferenz "Making/Thinking: The Cultural Tomorrow", bei der unter anderen die Soziologin Saskia Sassen und der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie zu Wort kommen werden, in Workshops, Performances, einem Film- und Videoprogramm sowie in der Festival-Ausstellung. Die steht unter dem Titel "Survival in Utopia: Visions of Balance in Information" und lotet künstlerische Positionen zum Klimawandel und seinen globalen Folgen aus.
"Telefonkriege"
Emblematisch für den Zugang vieler Festivalkünstler zur breit formulierten Thematik ist die Installation "Tantalum Memorial" von Graham Harwood, Richard Wright und Matsuko Yokokoji, die den fast vier Millionen Menschen, die seit 1998 im Zuge der "Koltankriege" im Kongo ums Leben gekommen sind, ein Denkmal setzt. Aus dem Rohstoff Koltan (auch: Coltan) wird das Metall Tantal gewonnen, das bei der Herstellung von Mobiltelefonen und Computern zum Einsatz kommt. Die Einnahmen aus der Koltanförderung im zentralafrikanischen Kongo fließen zu guten Teilen über versteckte Kanäle in die Aufrüstung rivalisierender Kriegsparteien.
"Tantalum Memorial"
Ein Interview mit Graham Harwood und Richard Wright zu den "Koltankriegen" im Kongo und ihrem "Tantalum Memorial" ist demnächst in der Futurezone zu lesen.
Die Installation der britisch-japanischen Medienkünstler, die auch für den transmediale-Award nominiert ist, macht Hintergründe und Widersprüche sichtbar und interveniert. Antiquierte automatische Telefonvermittlungsstellen, die technologisch längst von den Bauteilen aus Tantal abgelöst wurden, wählen automatisiert Telefonnummern von Mitgliedern der kongolesische Exilantencommunity in Großbritannien, die dann von einer Tonbandstimme über den Zusammenhang zwischen Mobiltelefonen und Krieg informiert werden. Das "Telefontrottoir" transformiert so die im Kongo verbreitete Kommunikation über "Gehsteigradios" nach London, wo immerhin 35.000 Flüchtlinge aus dem Kongo leben.
Umweltverschmutzung als Lichtinstallation
Eine Reihe der bei der Ausstelung vertretenen Arbeiten thematisiert die technologiegestützte Wahrnehmung der sich anbahnenden klimatischen Umbrüche. "Nuage Vert" des französischen Künstlerduos Hehe versucht der Dunstwolke eines Kohlekraftwerks mit grünen Laserstrahlen beizukommen. "Post Global Warming Survival Kit" von Petko Dourmana zeigt Infrarotaufnahmen einer postapokalyptischen Landschaft in der Nordsee, die für Besucher der Ausstellung ausschließlich über Nachtsichtgeräte sichtbar werden.
"Amundsen" von Jan-Peter Sonntag lockt mit Filmaufnahmen einer Seenidylle aus Norwegen, die in der Nähe des Hauses des berühmten Polarforschers aufgenommen wurden. Die tiefen Sounds des dazupassenden Klangpanoramas übertragen sich über einen "Aussichtssockel" direkt in den Körper der Beobachter. Daneben schmilzt ungerührt ein Eisblock vor sich hin.
Algorithmen und Lebewesen
Die niederländische Medienkünstlerin Esther Pollak hat für die transmediale ihr Projekt "Milk" aktualisiert, das mittels GPS die Auslieferung von Milchprodukten in Nigeria verfolgt und vergleichbar macht.
Wie Algorithmen Lebewesen formen, zeigt die Installation "Grow - Fruits of Kronos" des Wiener Medienkünstlers Christian Gützer, der eine Zimmerpflanze von einer Maschine baumeln lässt, deren Handlungsanleitung ständig wechselt. Der Gummibaum, der in Richtung der Lichtquelle und gegen die Erdanziehungskraft wächst, nimmt stetig neue Formen an.
"Pentium2-Schnitzel" und "Silicon Valley Pizza"
Der Schweizer Künstler Urs Dubacher nimmt sich ironisch überhöht des Elektroschrottproblems an. In seiner Performance "specialita di silico", die er während des Festivals einmal täglich aufführt, paniert er Prozessoren und verabeitet Chips und Keyboards zu Pizza und Lasagne.
"Das Schrottproblem könnte man auch lösen, indem man den Schrott isst", meinte Dubacher, der sich mit seiner Arbeit auch auf die Aktivistengruppe The Yes Men beruft, die zur Beseitigung des Welthungers einst vorgeschlagen hatte, Kot zu Hamburgern zu verarbeiten.
Berichte und Interviews von der transmediale finden sich auch auf der von Wiener Medienkünstlern betriebenen Plattform tagr.tv.
Euthanasie-Chip
Eine weit radikalere Lösung für die Probleme der Erderwärmung, des Klimawandels und der Überbevölkerung schlägt die britisch-japanische Medienkünstlerin Michiko Nitta vor. Ihre "Extreme Green Guerrillas", eine fiktive sektenartige Vereinigung trendbewusster Umweltschützer, lassen sich Chips ins Ohrläppchen implantieren. Die sorgen dafür, dass rechtzeitig zum 40. Geburtstag der umweltentlastende Freitod eintritt: "Stirb für die Erde!"
(futurezone/Patrick Dax)