Quantenforschung im Lichtleiterlabyrinth
Quantenphysiker Anton Zeilinger hat fünf Jahre Zeit geschenkt bekommen. Die will er dazu nutzen, im Rahmen eines Experiments mit neuartigen Lichtleitersystemen zu prüfen, ob wirklich erst die Messung den Zustand von Quanten festlegt. ORF.at sprach mit Zeilinger über seine Pläne und seinen Informationsbegriff.
2008 hat der European Research Council, der für die Förderung hochrangiger Grundlagenforschung in der EU zuständig ist, dem Wiener Quantenphysiker Zeilinger eine Unterstützungssumme (Advanced Grant) in Höhe von 1,8 Millionen Euro zugesprochen. Seit Anfang Jänner 2009 arbeitet Zeilinger mit seinem Team an einem neuen Experiment, mit dem komplexe Quantensysteme untersucht werden können. Geht Zeilingers Plan auf, dann könnte unser traditionelles Weltbild mit seinem Ursache-Wirkung-Prinzip einmal mehr destabilisiert werden.
Anton Zeilinger leitet das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
ORF.at: Herr Professor Zeilinger, mit dem ERC-Grant haben Sie jetzt fünf Jahre Zeit, um zu tun, was Sie wollen.
Zeilinger: Ja.
ORF.at: Was haben Sie vor?
Zeilinger:: Ich möchte Experimente mit komplexeren Quantensystemen machen. Diese möchte ich mit mikrooptischen Techniken verwirklichen. Mikrooptik heißt, dass ich das optische Analogon zu einem Halbleiter-Chip aufbaue, in dem aber nicht mit Elektronen, sondern mit Photonen gearbeitet wird, also mit Licht.
Ich baue Lichtleiter und Netzwerke von Lichtleitern, die miteinander verkoppelt werden. Diese Mikrooptik-Technologien sind derzeit im Entstehen. Es gibt zurzeit weltweit nicht mehr als zwei, drei Gruppen, die auf diesem Gebiet schon erste Experimente gemacht haben.
Man könnte solche Systeme auch dazu verwenden, echte Quantencomputer aufzubauen, die nicht nur fünf oder zehn Quanten-Informationseinheiten, Qubits, verarbeiten, sondern tausend oder eine Million Qubits. Das wäre ein enormer Fortschritt. Aber das ist es nicht, was mich wirklich interessiert.
Mich interessiert, dass diese Verfahren die Möglichkeit eröffnen, viel komplexere Quantensysteme zu beobachten als bisher. Bisher haben wir Experimente mit zwei bis vier Photonen gemacht. Der Aufbau war dabei mindestens ein mal einen Meter groß, wenn nicht größer.
Das gleiche möchte ich jetzt auf einem Chip unterbringen, der einen Zentimeter Kantenlänge hat, vorerst noch ohne Detektoren, allerdings. Das heißt, wenn ich viele dieser Chips habe, kann ich mir große Multi-Photonen-Systeme ansehen. Das ist die grundsätzliche Idee.
ORF.at: Wie spielt sich das im Experiment ab?
Zeilinger: Da möchte ich nicht zu sehr ins Detail gehen, um nicht schon vorher alles zu verraten.
ORF.at: Aber zu den Mikrooptiken können Sie sicher etwas sagen. Wie können wir uns diese Geräte vorstellen?
Zeilinger: Das kann man schön erklären. Die schönste Methode ist verblüffend einfach. Ich nehme einen kleinen Quarzglasblock her und ziele mit einem Hochleistungslaser auf ihn, den ich so fokussiere, dass die ganze Strahlleistung auf einem möglichst kleinen Punkt im Glas zusammenkommt. Das Glas wird dort für kurze Zeit hoch erhitzt und ändert seine Struktur. Die Bindungen zu den Nachbaratomen werden aufgebrochen und es bilden sich zum Teil neue Bindungen.
Das hat letztlich die Konsequenz, dass die behandelte Stelle eine andere optische Dichte hat als das Glas rundherum. Wenn ich diesen Fokuspunkt dann durch den Glasblock bewege, kann ich eine Linie ziehen. Das sieht dann ungefähr so aus wie dieser Glasblock hier, in den eine dreidimensionale Figur hineingezeichnet wurde, die darstellt, wie die verschränkten Photonen erzeugt werden.
Solche Dinge kann man auch in Andenkenläden kaufen. Die sind allerdings ziemlich grob gearbeitet und die Atomstruktur wurde so zerstört, dass es wie nebelig aussieht. Da kann ich kein Licht mehr durchlenken. Aber wenn ich das sehr genau fokussiere und die Energie genau kontrolliere, dann kann ich winzige Lichtleiter anlegen und mit dem Laser komplizierte dreidimensionale Strukturen in den Glasblock hineinschreiben.
Eine britische Forschergruppe hat kürzlich in "Science" publiziert, wie man sowas macht. Der Durchmesser eines solchen Lichtleiters beträgt einige wenige Mikrometer. Da kann man auch einzelne Photonen hineinschicken, in einer Überlagerung von mehreren Inputs. Oder man kann zwei oder drei Photonen hineinschicken und dann schauen, wie sich das entwickelt.
ORF.at: Wie sieht dann ein Detektor aus, der in so einem System eingesetzt wird?
Zeilinger: Ach, das sind die gleichen Detektoren, die wir auch heute schon verwenden. Das sind Halbleiter, auf die das Photon auftrifft und Elektronen auslöst, und diese Elektronen weist man dann nach.
ORF.at: Mit einem solchen System könnte man beispielsweise beobachten, wie sich das Phänomen der Verschränkung von Quanten in größeren Systemen zeigt. Oder ergeben sich da auch neue Zusammenhänge?
Zeilinger: Es ergeben sich neue Zusammenhänge. Es wird möglich, Experimente aufzubauen, in denen man einer grundlegenden Frage der Quantenphysik nachgehen kann, nämlich ob das Weltbild des Realismus haltbar ist oder nicht. Ich will herausfinden, ob bei Systemen aus verschränkten Photonen das, was ich messe, eine Eigenschaft des Photons widerspiegelt, die es schon vorher in sich getragen hat - oder ob erst die Messung die Eigenschaft des Photons festlegt. Außerdem will ich wissen, ob das Ergebnis meiner Messung davon abhängt, was jemand anderes, der weit vom Standort des Experiments entfernt sein mag, in dem Moment tut, in dem das Experiment stattfindet.
Die beiden Annahmen können nicht zur selben Zeit zutreffen. Daraus ergeben sich weitere Fragen: Ist Lokalität falsch, also ist die Welt nichtlokal? Können Dinge über große Entfernungen zusammenhängen? Oder stimmt unser Wirklichkeitsbild nicht? Kann es also sein, dass das, was ich messe, eben nicht das wiedergibt, was vorher existiert hat. Wenn man bei den Experimenten zu komplexeren Systemen übergeht, die mehrere Zustände einnehmen können, nicht nur zwei, dann kann es sein, dass dabei die Lokalitätsannahme fällt.
Man könnte damit auch zeigen, dass die untersuchten Systeme ihre Eigenschaften unabhängig von der experimentellen Frage haben, die ich stelle. Das Fachwort dazu heißt Nichtkontextualität. Damit bezeichnen wir die Vorstellung, dass die Eigenschaften eines Systems nicht von dem Kontext abhängig sind, in dem ich es mir anschaue. Es gibt schon Vorhersagen dazu, wie sich diese Systeme verhalten müssen, um diese Nichtkontextualität zu haben. Und die kann man im Experiment widerlegen.
Man kann sie aber nur dann widerlegen, wenn diese Systeme mindestens drei Zustände haben können und nicht nur zwei wie bisher. Genau das wollen wir jetzt machen, mit verschränkten Systemen, die jeweils drei Zustände haben, und das überprüfen.
Außerdem geht es bei diesen Experimenten um den Aspekt der Information. Man sollte glauben, dass man, je reicher ein System wird und je mehr Zustände es erlaubt, auf umso mehr verschiedene Arten Informationen in diesem System codieren könne. Wir kennen aber Spezialfälle - wir sprechen hier von Hilbert-Räumen -, in denen Quantensysteme mehr Zustände zulassen als nur zwei oder drei. In denen plötzlich, wenn ich einen zusätzlichen Zustand dazugebe, ein System weniger Informationen codieren kann. Das kann man mathematisch zeigen, aber das ist intuitiv überhaupt nicht verstanden. Und da möchte ich ansetzen und darüber nachdenken. Aber das ist eine sehr langfristige Geschichte. Wahrscheinlich werden wir an diesem Projekt jahrelang arbeiten.
ORF.at: Wenn man die Experimente vergrößert und man es mit mehr Zuständen und komplexeren Systemen zu tun hat als bisher, dann geht es doch eher um statistische Berechnungen als um genaue Messungen, oder?
Zeilinger: Es stecken da Wahrscheinlichkeiten drin. Freilich. Ich will sehen, ob gewisse Messergebnisse, die man beobachtet, gemäß der Quantenmechanik eine viel größere Wahrscheinlichkeit haben, aufzutreten, als wenn ich annehmen würde, dass die Eigenschaften, die die Systeme haben, unabhängig von dem Beobachtungskontext sind. Das ist der Trick bei dem Ganzen.
ORF.at: Unabhängig vom Beobachtungskontext?
Zeilinger: Nach der Quantenphysik gibt es Fälle, in denen ein System seine gemessenen Eigenschaften erst dann hat, wenn ich hinschaue. Wenn ich die Experimente aus Sicht der Quantenmechanik betrachte, dann kann ich versuchen, sie so zu verstehen, dass die beobachteten Systeme nicht davon abhängen, auf welche Weise ich sie untersuche. Sondern dass es eine darunterliegende Erklärungsebene gibt, so dass die Zufälligkeiten, die ich in der Quantenphysik sehe, erklärt werden können. Dass es Eigenschaften von Systemen gibt, die ich im Experiment nicht sehen kann.
Oder wenn ich beispielsweise annehme, dass meine Beobachtung nicht nur davon abhängt, was das System selbst für Eigenschaften besitzt, sondern auch davon, was ein weit weg davon befindliches System für Eigenschaften hat. Eine mögliche Konsequenz der Experimente lautet: Die Beobachtung schafft in gewissen Fällen die Wirklichkeit.
Aber da gibt es noch Schlupflöcher. Das ist noch nicht fix bewiesen. Unser Experiment ist ein wichtiger Schritt in die Richtung auf einen Beweis hin, dass die Beobachtung in gewissen Fällen tatsächlich das schafft, was ich beobachte. Es wird vielleicht noch kein endgültiger Beweis sein, aber ein wichtiger Schritt in diese Richtung, wenn es hoffentlich funktioniert.
ORF.at: Ist es, um den kritischen Rationalismus zu bemühen, ein Falsifikationsversuch?
Zeilinger: Dieses Wissenschaftsbild ist sowieso viel zu simpel. Das ist ein typisches Wissenschaftsbild von Theoretikern zu sagen, dass es in der Wissenschaft um Falsifikation gehe. Es geht sehr häufig um ganz andere Dinge. Es geht darum, mit den Dingen einfach Erfahrung zu gewinnen. Auch dann, wenn man bestätigt, was man erwartet.
Man kann nur dann das nächste Tor für neue technische und physikalische Entwicklungen aufstoßen, wenn man Erfahrung gewinnt. Man muss das Experiment aber schon so gestalten, dass die Falsifikation der These im Prinzip möglich wäre. Sonst wäre es ja sinnlos. Man könnte die Annahme durchaus falsifizieren, wenn etwas anderes dabei herauskommt, als die Quantenmechanik sagt.
ORF.at: Zum Experiment: Sie sagen, es gehe Ihnen darum, im Experiment eine dritte Eigenschaft einzuführen. Es gibt bei Quanten den Impuls, den Spin und den Ort, an dem es sich befindet.
Zeilinger: Hm. Nein. Wir sprechen von einer Eigenschaft eines Quantums, die aber drei verschiedene Zustände einnehmen kann.
ORF.at: Der Spin kann nur zwei einnehmen.
Anton Zeilinger: Genau. Aber der Ort kann drei einnehmen. Dann geht es schon. Damit kann ich schon spielen.
ORF.at: Und das haben Sie vor.
Zeilinger: Ja. Und zwar geht das so, dass man an drei verschiedenen Positionen misst, ob ein Photon vorhanden ist. Es kommt beim Durchspielen dieser Dreierkombinationen zu Fällen, in denen ein Photon sich nachweisbar an einem Ort aufhält, an dem es eigentlich nicht sein dürfte. Damit habe ich die Idee widerlegt, dass ein Photon an einem wohldefinierten Ort ist, ehe ich es beobachten konnte. Der einzige andere mögliche Schluss bestünde darin, dass die Beobachtung den Ort schafft. Das ist der direkte Beweis der Nichtlokalität. Und der ist bisher noch nicht geführt worden. Eine direkte Argumentationslinie.
ORF.at: Sie sagten, es gehe auch um Informationen. Die Information entsteht ja erst dann, wenn man das System beobachtet und damit einfriert.
Anton Zeilinger: Das ist die Interpretation der Quantenmechanik. Die Frage lautet: Was ist zuerst da? Die Information? Oder haben die Dinge Eigenschaften und die Information ist nur die Darstellung dieser Eigenschaften. Ist die Information nur eine Darstellung von Eigenschaften, die die Systeme haben, oder bestimmt die Information die Möglichkeiten, wie die Wirklichkeit sich präsentiert? Das Ganze ist zum Glück nicht nur philosophischer Natur, sondern hat im Experiment direkt beobachtbare Konsequenzen.
ORF.at: Welche Konsequenzen hat das eigentlich, wenn sich das Weltbild der Quantenphysik weiter verfestigen ließe?
Zeilinger: Ich will herausfinden, welche der Grundannahmen in der Quantentheorie tatsächlich wichtig sind. Es ist zum Beispiel nicht so klar, ob die Frage nach der Lokalität oder Nichtlokalität überhaupt relevant ist. Ich glaube nicht, dass es uns hilft, unser traditionelles Weltbild zu retten, wenn wir nichtlokale Einflüsse zulassen. Viele Physiker glauben noch, dass sich ein anschauliches Weltbild aufrechterhalten lässt, wenn man zulässt, dass das Messergebnis an Standort A davon abhängt, was jemand anderes am Standort B macht. Diese Annahme ist wahrscheinlich falsch.
Das Fernziel besteht nicht darin, die Quantenmechanik zu testen, sondern daraus zu lernen, was die wesentlichen Punkte der konstruktiven Struktur sind, zu lernen, wie es vielleicht weitergehen könnte. Wenn wir je eine neue Theorie haben sollten, die weiter geht als die Quantenphysik, dann ist es wichtig, zu wissen, was an ihr wesentlich ist und was ich über Bord werfen kann. Das hilft dann vielleicht dabei, den nächsten Schritt zu tun. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass wir hier eine physikalische Theorie hätten, nach der es nicht weitergeht. Wenn es weitergeht, dann ist die neue Theorie wahrscheinlich noch stärker kontraintuitiv als die Quantenphysik.
ORF.at: Die Quantenphysik ist ja dadurch möglich geworden, dass man mit immer feineren Instrumenten immer genauere Beobachtungen machen konnte. Nun ist man bei den kleinsten Teilchen angelangt. Geht es nun darum, vorsichtig wieder aufzubauen?
Zeilinger: Wir spielen mit den elementarsten Bausteinen, das ist richtig. Man lernt, diese Systeme immer besser zu beherrschen. Mit ihnen zu spielen und sie zu fragen, wie sie sich wirklich verhalten. Eine Physik, die weiter geht als die Quantenphysik kann nicht eine sein, die noch tiefer geht im Sinne eines "noch kleiner". Es muss in eine andere Richtung gehen. In welche, das wissen wir noch nicht.
ORF.at: Geht es dann darum, zu verstehen, wie Komplexität entsteht? Geht es um Emergenz? Zu schauen, was passiert, wenn die beobachteten Systeme immer komplexer werden?
Zeilinger: Das ist ein sehr interessantes Forschungsgebiet, auf dem es zahlreiche Aktivitäten gibt. Ich glaube aber nicht, dass das die dahinterliegende Erklärung sein wird. Ich glaube nicht, dass die Frage der Emergenz etwas mit dem Verständnis der elementaren Grundstruktur der Physik zu tun hat. Das hilft dabei, komplexe Systeme zu erklären und wir wissen heute, dass es auf höheren Ebenen in komplexeren Systemen oft einfache Gesetze gibt, die man nicht unmittelbar aus den darunterliegenden Ebenen herleiten kann. Das ist wohlbekannt. Aber das hilft nicht auf eine fundamentale Art und Weise weiter, finde ich.
ORF.at: Welche Rolle spielt die Zeit in den Systemen, die Sie da jetzt bauen wollen. Mich hat an den verschränkten Systemen immer fasziniert, dass deren Zustand bei Beobachtung ohne Zeitunterschied sofort festgelegt ist, wobei es egal zu sein scheint, wie weit sie voneinander entfernt sind.
Zeilinger: Das hängt auch mit dem Problem der Lokalität/Nichtlokalität zusammen. Nochmals: Die Quantenmechanik sagt uns, dass die Dinge, die wir beobachten - Messung hier, Messung da, Messung zu diesem oder jenem Zeitpunkt, völlig unabhängig sind von ihrer relativen raumzeitlichen Anordnung. Es ist völlig egal, ob Ereignis A vor B ist oder A gleichzeitig mit B stattfindet, ob sie am selben Ort sind oder durch große Entfernungen voneinander getrennt.
Raum und Zeit spielen bei diesen Phänomenen keine Rolle. Das ist eigentlich eine hochinteressante Botschaft. Für mich sagt das, dass es einen anderen Begriff geben muss, der tiefer liegt. Und das ist für mich der Begriff der Information. Die Information, die in einem System codiert ist, ist unabhängig davon, wie ich es beobachte und unabhängig von den üblichen raumzeitlichen Beschränkungen, die ich mir normalerweise überlegen würde.
ORF.at: Also ist jede Beobachtung, die wir machen, letztendlich ein konstruktiver Akt.
Zeilinger: Da wäre ich wieder vorsichtig, sehr vorsichtig. Konstruktiv würde irgendwo auch implizieren, dass ich das konstruieren kann, was ich konstruieren möchte. Aber das kann ich nicht. Ich kann nur der Natur eine Frage stellen. Und die Natur gibt mir eine Antwort, die rein zufällig ist. Das heißt, es läuft in eine andere Richtung. Ich weiß aber noch nicht genau, in welche. Rein konstruktiv ist es nicht. Ich sage immer, die Messung ist konstitutiv für das, was Wirklichkeit sein kann.
Wir können allerdings durch Auswahl des Messapparats darüber entscheiden, welche Eigenschaft in der Messung auftritt. Wir haben also einen qualitativen Einfluss. Wir können darüber entscheiden, ob wir den Ort oder den Impuls messen wollen. Aber auf die Ergebnisse der Messung haben wir keinen Einfluss. Das heißt: die Natur entzieht sich in irgendeiner Weise unserer vollständigen Einflussnahme. Die Natur ist letztlich die Natur und aus. Sie ist das, was die Griechen das Chaos genannt haben, also das nicht gesetzlich Festgelegte.
ORF.at: Was macht das mit Ihnen? Man wächst ja in einer Welt auf, in der das Ursache-Wirkung-Prinzip sich tagtäglich bestätigt. Aber Ihre Lebenswelt hat sich ja verschoben. Die Beschäftigung mit dem Chaos ist für Sie Alltag.
Zeilinger: Ich habe das Gefühl - das ist ein Gefühl! -, dass wir Menschen mit dem Verlangen leben, für alles eine Erklärung haben zu müssen. Wenn man keine Erklärung hat, dann konstruiert man sich eine. Und das ist der Grund, warum in primitiven Kulturen ein Blitzgott erfunden wurde. Der Mensch erträgt es nicht, dass der Blitz einfach einschlägt. Er braucht eine Erklärung dafür. Dann hat eben der Blitzgott zugeschlagen.
Ich habe das Gefühl, dass auch im normalen Alltag viel zu viele Erklärungen konstruiert werden. Ich glaube, man muss die Welt einfach so nehmen, wie sie ist. Das mechanistische Weltbild und seine Erklärungen greifen zu kurz. Das gilt auch in der Psychologie. Zum Beispiel wenn man bei der Therapie auf ein frühkindliches Ereignis trifft. Dann wäre es schon interessant, herauszufinden, ob dieses Ereignis schon vor der Beobachtung, vor dem analytischen Gespräch die Rolle gespielt hat, die ihm zugewiesen wurde. Oder ob das erst konstruiert wurde, dann aber als kausale Erklärung sehr gut herhalten kann - genauso wie der Blitzgott.
ORF.at: Die Grundlagen für die Quantenphysik sind ja in den 1920er und 1930er Jahren gelegt worden. Inwieweit sehen Sie, dass diese Erkenntnisse in unser Alltagsverständnis von der Welt eingedrungen sind?
Zeilinger: Keine Ahnung. Ich möchte auch den Leuten nicht sagen, wie sie ihre Welt sehen sollen. Das ist ja jedem sein eigener Kaffee. Da möcht ich mich nicht einmischen. Für mich ist es auch sekundär, ob das in die Öffentlichkeit eingedrungen ist oder nicht. Für mich geht es darum: wie geht es in der Physik weiter? Das ist das Spannende.
ORF.at: Also: Informationen statt Raum und Zeit. Das wäre der nächste Schritt nach der Relativitätstheorie.
Zeilinger: Vielleicht deutet es in diese Richtung. Ich glaube, dass es in die Richtung deutet. Aber da muss man aus dem Informationsbegriff mehr herausbekommen können, nicht?
ORF.at: Was wird informiert? Wo bleibt die Spur?
Zeilinger: Richtig. Das muss man ganz sauber und klar untersuchen.
(futurezone/Günter Hack)