Realitätsprüfung für Bildungsrechner XO
Seit Mitte November wird in einer Grazer Volksschulklasse mit dem unter dem Namen "100-Dollar-Laptop" bekanntgewordenen Bildungsrechner XO unterrichtet. Auch wenn nicht alles glattläuft, ziehen die Beteiligten eine grundsätzlich positive Bilanz: Erstmals sei Hard- und Software aus der Perspektive der Kinder entwickelt und eingesetzt worden. Die Kinder sind mit Eifer bei der Sache - auch wenn manche am liebsten nur spielen würden.
11.00 Uhr Vormittag in der ersten Klasse einer Grazer Volksschule: Statt Heft und Bleistift holen die Kinder auf Geheiß des Lehrers 25 quietschgrüne Laptops auf ihre Schreibtische, stecken die Maus an und fahren die Rechner hoch. "Startet bitte das Schreibprogramm", sagt der Lehrer, und 25 Augenpaare suchen auf dem Monitor vor ihnen das passende Icon. "Schau mal, wie viel Akku hast du noch, Anton?", fragt ein Schüler den Kollegen neben sich. "Alles, weil ich hab aufgeladen." "Och", tönt es, offenbar enttäuscht, neben Anton.
Vor der eigentlichen Arbeit werden noch die Finger gedehnt, dann geht es los: "Schreibt einmal eine ganze Zeile 'au'", sagt Klassenvorstand Arnd Stöckl und tippt die gewünschten Buchstaben via Beamer vor. Umgehend suchen 50 Kinderhände auf der ebenfalls giftgrünen Tastatur die gewünschten Buchstaben. Der eine oder andere stellt die Auflösung anders ein, damit die Zeile schneller voll wird, doch abseits dieser kleinen Schummelei sind alle Kinder mit Motivation und Konzentration dabei.
Nach dem Schreiben können die Kinder selbst bestimmen, welche Programme sie auf dem Rechner laufen lassen wollen: "Am liebsten tu ich spielen", sagt eine Taferlklasslerin. Was sie sonst noch gerne benutze? "So ein Sprechding, da kann man was hinschreiben, und dann sagt er es." Das Programm heißt Speaker und ist Teil der XO-Software, genauso wie eine Art Memory, bei dem die Kinder zum Wegklicken der Karten erst Rechenaufgaben lösen müssen.
Lieblingstätigkeit: Rechnen
"Ja, das ist lustig", erklärt ein anderer Schüler und schreit kurz darauf: "Smiley!" Das bedeutet, dass er sein Spiel gelöst hat. Ein anderes Mädchen kann sich nicht entscheiden, welches Programm ihr am besten gefällt: "Da gibt es so viele." Und wenn sie es sich aussuchen könne? "Rechnen."
Die quietschgrünen Rechner sind Teil der Bildungsinititiave One Laptop per Child (OLPC), die eigentlich auf Entwicklungsländer abzielt, und werden in der Praxisvolksschule der Pädagogische Hochschule Steiermark (PHSt) im Unterricht verwendet. Für Stöckl und seine Teamlehrerin Nina Jaklitsch sind die Rechner kein Ersatz für die bisherigen Lehrmittel, sondern ein Zusatz: "Uns ist wichtig, dass der Computer das Buch und das Heft nicht ersetzt, sondern parallel dazu läuft." Mittlerweile sei es selbstverständlich, dass es das Buch sowie Heft und auch den Computer gebe.
Anpassung an die Fähigkeiten
Stöckl und Jaklitsch begleiten die 25 Kinder gemeinsam bei ihrem Eintritt in das digitale Zeitalter. Die Frage, ob es die Kinder nicht überfordere, an einem Computer zu arbeiten, noch bevor sie mit der Hand richtig schreiben können, verneint Projektleiter Johannes Dorfinger von der PHSt: "Es ist eher eine Strafe, wenn man es ihnen vorenthält. Sie wachsen ja ohnedies damit auf, für die Kinder ist das so was von logisch."
Zudem würden nur Programme genutzt, die dem jeweiligen Bildungsstand der Kinder entsprechen würden, das Schreibprogramm etwa werde vorsichtig eingesetzt und nur mit Wörtern und Buchstaben, die die Kinder kennen, so Stöckl: "Die Grundkompetenzen, die sie jetzt erwerben, sind faszinierend." Auch das Zehnfingersystem werde versucht, allerdings hapere es dabei ein wenig an der Tastatur mit englischsprachigem Layout, meint Jaklitsch bedauernd. "Man muss aufpassen, wie weit man als Lehrer geht", so Stöckl.
Mehr Anmeldungen als Plätze
Die Eltern der Kinder entschieden sich bewusst dafür, dass ihre Kinder in der Volksschule mit Computerbegleitung lernen. "Wir hatten mehr Anmeldungen als Plätze frei waren", erzählt die Leiterin der Praxisvolksschule, Marianne Baumann. Bisher gebe es auch nur positives Feedback.
Es wird nicht konstant am Computer gearbeitet: "Wir sind eine Ganztagsschule mit verschränktem Unterricht, das heißt, wir lehren dann, wenn die Kinder am leistungsstärksten sind." Die Arbeit werde mit Bewegung abgewechselt beziehungsweise mit Jause und Mittagessen, Hausaufgaben gibt es keine. "Wir machen vielleicht von der Quantität weniger, aber dafür haben wir mehr Qualität", sagt Stöckl. Nach einer halben Stunde werden die Rechner weggepackt, und die Kinder können sich selbst beschäftigen. Ein Bub holt umgehend Papier und Schere hervor und fängt an zu basteln, andere singen oder diskutieren lautstark.
Kritik an Hard- und Software
Für Dorfinger hat das Projekt trotz allen Enthusiasmus' und spürbarer Motivation der Beteiligten noch einige Tücken: "Die Geräte sind nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben", so funktioniere etwa das Mesh-Netzwerk, um die Rechner direkt miteinander zu verbinden, derzeit nicht. Ein Gerät sei zudem schon kaputt. Auch pädagogisch seien nicht alle Programme wirklich durchdacht, pflichten Stöckl und Jaklitsch zu, und müssten eigentlich für den heimischen Gebrauch adaptiert werden, obwohl der XO sonst deutlich besser in den Unterricht integrierbar sei als andere Systeme.
Für die Kollaboration der Kinder müsse man nun einen eigenen Klassenserver aufstellen, so Dorfinger: "Das ist jetzt kein Problem, OLPC Austria hat uns den auch schon angeboten, aber das sind Umstände, mit denen wir nicht gerechnet haben. Das und auch die Software muss man teilweise neu überdenken."
"Es gibt noch viel zu tun"
OLPC.at ist die erste europäische Non-Profit-Organisation zur Unterstützung des Einsatzes des Lerncomputers XO. Sie arbeitet mit offizieller Unterstützung des Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Christoph Derndorfer, der das Projekt vonseiten OLPC Austria begleitet, weiß um die technischen und sonstigen Probleme und gibt zu, dass noch nicht alles so funktioniert, wie es einst von Initiator und OLPC-Mastermind Nicholas Negroponte erdacht und auch kommuniziert wurde: "Es wurde als fertiges Produkt verkauft, aber das ist es nicht. Es gibt noch viel zu tun." Das Projekt sei im Bereich Kollaboration zwar grundsätzlich ein bis zwei Jahre voraus, aber eben auch mit den dazugehörenden Kinderkrankheiten.
Die Kritik an der Software könne er mittlerweile besser nachvollziehen, auch weil es einen direkten Austausch zwischen Software-Entwicklern und Lehrern gebe: "Als sie mir gesagt haben, dass die Sprachsoftware 'em' statt 'm' wie in der Volksschule sagt, und sie das gerne geändert hätten, ist mir zuerst einmal der Mund offenstehen geblieben - daran hätte ich nie gedacht." Er sei über die Faszination an der Technik in das Projekt eingestiegen und habe mittlerweile selber viel über die Bedürfnisse der Lehrer und Schüler gelernt.
Kooperationen sollen Lehrer entlasten
Um die Software-Entwicklung voranzutreiben und die Lehrer zu entlasten, gebe es neben der Begleitung durch die PHSt auch Kooperationen mit der TU Graz, so Dorfinger. So unterstützen unter anderem Martin Ebner von der E-Learning-Gruppe und Walther Neuper vom Institut für Softwaretechnologie das Projekt, indem sie auf Basis des Inputs der Lehrer die nötige Software schreiben. "Das Problem ist, dass die Software nicht zu 100 Prozent an unseren Unterricht angepasst ist", so Neuper.
Auch werde nicht immer der eigentliche Bedarf und natürliche Zugang der Anwender - nämlich der Kinder - berücksichtigt. "Wir schauen uns an, wie die Dinge auf die Kinder wirken, wie sie damit umgehen - und was sie noch brauchen." Der Unterschied zu bisherigen Ansätzen, mit Hilfe von Technologie Wissen zu vermitteln, ist für Neuper wie für Dorfinger, dass diesmal von der Ebene der Kinder ausgegangen und der Computer wie selbstverständlich integriert wird, statt einziger Mittelpunkt eines Konzepts sei. Der Mensch habe sich mittlerweile an den Computer gewöhnt, nun gehe es darum, die Technik an den Menschen anzupassen: "Usability bekommt Bedeutung", so Neuper.
Die Software steht im Vordergrund
Für alle Beteiligten geht es bei dem Projekt immer weniger um die mittlerweile und für heimische Verhältnisse teilweise nicht ganz aktuelle Hardware, sondern vor allem um die Software - und die Zusammenarbeit, die das Projekt mittlerweile ermöglicht. "Erstmals werden wir direkt in die Entwicklung von Lernsoftware einbezogen - das ist großartig", meint etwa Klassenvorstand Stöckl.
Derndorfer wiederum schätzt das Feedback der Lehrer, die er seinerseits direkt an die anderen Entwickler weitergibt: "Die sind extrem dankbar." Diese Möglichkeit schätzt auch Projektleiter Dorfinger sehr, der über weitere Kooperationen zudem versucht, das Projekt weiter voranzutreiben. Unterstützung erhält er dabei vom Bildungsministerium, das den Wissensaustausch in Seminaren und Vorträgen vorantreiben will, erklärt Helmut Stemmer, im Bildungsministerium für den Einsatz innovativer Technologien zuständig. "Das ist der Mehrwert - nur Technik alleine bringt es nicht."
E-Mail als Klassenziel
Profitieren werden davon vor allem die Kinder, sind sich alle Beteiligten einig. Und wie finden die Kinder die Arbeit mit dem Computer? "Lustig", lautet ihre einhellige Meinung, auch wenn sie sich nicht einig sind, ob nun Schreiben oder doch Spielen am Computer mehr Spaß macht. Als Klassenziel sollen sie übrigens zum Schulabschluss ihren Eltern eine E-Mail schreiben und ein selbst gemachtes Bild anhängen.
(futurezone/Nadja Igler)