ETech 2009: Raus aus der Scheinwelt
Die Emerging-Technology-Konferenz des O'Reilly-Verlags galt lange Zeit als Testgelände für die Zukunftstechnologien des Web 2.0. Doch die Wirtschaftskrise hinterlässt auch hier ihre Spuren. "Wir haben die schlimmste soziale Ungleichheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts", so Verleger Tim O'Reilly, "und was machen unsere klügsten Köpfe? Sie schmeißen auf Facebook mit virtuellen Schafen um sich."
"Das sind ganz schön harte Zeiten", sagte O'Reilly am Montagabend (Ortszeit) in San Jose während seiner Eröffnungsrede zur Emerging-Technology-Konferenz (ETech). O'Reilly ist im Netz als ausgesprochener Optimist bekannt, der seiner Vorträge gerne dazu nutzt, über seiner Meinung nach visionäre Start-ups zu schwärmen.
Die Besucher der ETech bekamen jedoch am Montag einen anderen O'Reilly zu Gesicht. "Die Technologiebranche lebt in einer Scheinwelt", beschwerte sich der Verlagsgründer. Man habe zu lange die Augen vor den wahren Problemen der Welt verschlossen und sich stattdessen auf Geschäftsmodelle konzentriert, die auf Werbung für Dinge basierten, die niemand brauche.
Neben der aktuellen Witschaftskrise nannte O'Reilly unter anderem den Treibhauseffekt und Armut als Probleme, für die es dringend eine Lösung brauche. "Wir haben die schlimmste soziale Ungleichheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts", so O'Reilly, "und was machen unsere klügsten Köpfe? Sie schmeißen auf Facebook mit virtuellen Schafen um sich."
Die ETech findet bis einschließlich Donnerstag in San Jose statt. In den vergangenen Jahren diente die Konferenz unter anderem als Geburtsstätte für Dienste wie Flickr, FireEagle und Google Code. ORF.at wird die Konferenz bis zum Ende der Woche mit tagesaktuellen Berichten begleiten.
SMS gegen Seuchen
O'Reilly knüpfte mit dieser Kritik an Reden und Blog-Beiträge an, mit denen er Entwickler und Internet-Unternehmer in den vergangenen Monaten immer wieder dazu aufgefordert hatte, an Dingen mit Potenzial für echte Veränderung zu arbeiten.
Am Montag präzisierte er diesen Gedanken. Ihm gehe es nicht darum, Leute zur Arbeit für gemeinnützige Organisationen zu überzeugen. "Ich glaube nicht, dass wir es diesen Organisationen überlassen sollten, unsere Probleme zu lösen", so O'Reilly. Stattdessen solle jeder in seinem Bereich daran arbeiten, die Welt zu verändern.
Der Wunsch nach fundamentalen Veränderungen spiegelt sich in diesem Jahr auch im Programm der ETech-Konferenz wider. Die Konferenz war in der Vergangenheit als kreatives Trendsetter-Event der Web-2.0-Welt bekannt. In den nächsten Tagen bekommen die Besucher jedoch weniger über soziale Bookmarks und Blog-Suchmaschinen und dafür mehr über umweltfreundliche und sozial relevante Technologien zu hören.
So werden unter anderem einige Forscher erklären, wie sie in Vietnam SMS-Dienste zum Bekämpfen von Seuchen einsetzen. Konferenz-Organisator Brady Forrest sagte dazu in einem Vorabinterview mit ORF.at: "Diese Beispiele dienen als Augenöffner dafür, wie existierende Technologien für neue Anwendungsszenarien genutzt werden können."
Plastiksackerl statt Konferenztasche
Die ETech steht in diesem Jahr unter dem Motto "Living, Reinvented: The Technology of Abundance and Constraints" lautet. Auf Deutsch beutetet das in etwa so viel wie "Leben neu erfinden: Technologie unter Bedingungen von Überfluss und Beschränkungen". Zu Herzen genommen haben sich die Konferenzveranstalter das Motto offenbar auch für den für solche Veranstaltungen typischen Goodie-Bag: In den Vorjahren bekamen Teilnehmer mitsamt Konferenzprogramm und anderen Dreingaben schicke Umhängetaschen, komplett mit iPod-Halter im Schulterriemen. Dieses Jahr gibt es für alle Teilnehmer dagegen nur eine simple Plastiktüte.
Diese wiederum ist symbolisch für die Schwierigkeiten, mit denen Konferenzveranstalter wie O'Reilly in diesen Tagen zu kämpfen haben. Angesichts massiver Entlassungsrunden in der US-amerikanischen Internet-Wirtschaft sind immer weniger Unternehmen bereit, bis zu 1.500 US-Dollar für Konferenztickets auszugeben. O'Reilly erwartet dieses Jahr nur etwa 600 Teilnehmer - halb so viele wie im Vorjahr. Forrest dazu: "Die Wirtschaftslage hat definitiv einen Einfluss auf das Konferenzgeschäft. Das ist auch an uns nicht spurlos vorbeigegangen."
Weniger Sponsoren, mehr Programm
Noch schmerzhafter dürfte der Sparzwang einiger hochkarätiger Sponsoren sein. Sponsor-Partnerschaften stellen gerade für Technologiekonferenzen eine wichtige Einnahmequelle dar. So gab Sun im letzten Jahr 75.000 Dollar aus, um auf der ETech präsent zu sein. Dieses Jahr entschied man sich für ein bescheideneres Paket, das die Firma laut Listenpreis nur 25.000 Dollar kostete. Die im letzten Jahr ebenfalls präsenten Sponsoren Google, Disney, Amazon und Adobe fehlen dieses Mal vollkommen.
Die meisten Konferenzbesucher dürften den fehlenden Sponsoren allerdings nur wenige Tränen nachweinen. Teil des Konferenzgeschäfts ist, dass Sponsoren prominente Plätze im Programm einer Veranstaltung bekommen. Im Fall der ETech bedeutete das in der Vergangenheit: Wer 75.000 Dollar zahlte, durfte eine 15 Minuten lange Keynote-Ansprache vor allen Teilnehmern halten. Für 25.000 Dollar gab es eine 45 Minuten-Präsentation im kleineren Rahmen. Die Zahl der derart erkauften Programmplätze ist in diesem Jahr deutlich geringer.
Die digitale Gesellschaft aufbauen
O'Reilly selbst ging am Montag mit keinem Wort darauf ein, welchen Einfluss die derzeitige Krise auf sein Unternehmen hat. Stattdessen ließ er es sich dann doch nicht nehmen, an der einen oder anderen Stelle seiner optimistischen Natur freien Lauf zu lassen.
Großen Mut mache ihm beispielsweise die Obama-Regierung. "Wir haben eine einzigartige Chance", ließ er sein Publikum wissen. "Wir haben einen Präsidenten, der will, dass dieses Land funktioniert wie das Internet: offen und transparent." Es sei deshalb wichtig, dass die Internet-Welt die Obama-Regierung mit allen Kräften unterstütze. "Wir haben die Möglichkeit, eine einzigartige digitale Gesellschaft aufzubauen", so O'Reilly.
(Janko Röttgers)