© Bild: Günter Hack / ORF.at, Plakate vor Burgtheater

Netztroll-Theaterstück von Thomas Bernhard

GENIES
01.04.2009

Das Thomas-Bernhard-Jahr 2009 hat seine literaturwissenschaftliche Sensation. Bei Ausbesserungsarbeiten auf dem Bauernhof des Schriftstellers wurde ein neues Werk entdeckt, das nicht nur im Internet spielt, sondern ständig in ihm weiterarbeitet: "Trolle".

Bei Renovierungsarbeiten in Thomas Bernhards Bauernhof im oberösterreichischen Ohlsdorf haben Mitarbeiter des Wiener Instituts für Unterputzarchäologie ein sensationelles, bisher unbekanntes Meisterwerk des Schriftstellers entdeckt.

"Hinter einem alten Kasten verbarg sich ein Kabinett, in dem unser Team einen eingeschalteten Commodore 64, einen Drucker sowie einen Farbfernseher und ein sogenanntes Floppy-Disk-Gerät vom Typ 1541 und einen Akustikkoppler gefunden hat", so Ausgrabungsleiter Gerfried A. Prillinger zu ORF.at.

Die eigentliche Entdeckung, die Literaturwissenschaftler vermutlich noch Jahrzehnte beschäftigen wird, besteht jedoch nicht aus dem bisher unbekannten Manuskript zu dem Dramolett "Bill Gates kauft sich Mitteleuropa und geht mit mir essen", das noch im Neunnadeldrucker der Marke Präsident steckte.

Vielmehr mussten Prillinger und seine Mitarbeiter feststellen, dass Bernhards Commodore 64 seit 1989 ununterbrochen online war. "Jemand hat das Gerät über eine Standleitung mit dem Internet verbunden", so Prillinger, der umgehend Forensikexperten mit der digitalen Spurensicherung beauftragte. "Die letzte eingegebene Kommandofolge lautet: LOAD TROLLE,8,1 / RUN."

"Happy Computer"

Im Floppy-Laufwerk stellten die Forensiker einen Datenträger sicher, auf dem sich das digitale Erbe des Schriftstellers befindet. "Es ist ein autopoietisches Internet-Theaterstück namens 'Trolle'", so Prillinger. "Bernhard hatte es offenbar zum Wettbewerb 'Listing des Monats' an die Münchner Fachzeitschrift 'Happy Computer' geschickt, allerdings eine Absage erhalten."

Darob offenbar erzürnt, ließ der Literat seinen Rechner wohl über bisher unbekannte Unterstützer in der IT-Szene selbst ans Netz hängen. Mit grauenhaften Folgen, wie Prillinger heute weiß. "Das österreichische Internet ist Thomas-Bernhard-Territorium", so der Forscher zu ORF.at. "'Trolle' ist eine Schizo-Software, die sich auf Grundlage evolutionärer Algorithmen permanent weiterentwickelt und Millionen virtueller Bernhard-Bots generiert, die sich in allen möglichen Diensten und Foren unterhalb der .at-Domain festsetzen - und nur dort. Man kann sie zwar löschen, sie melden sich dann aber sofort unter anderem Pseudonym wieder an."

Finsteres Gewimmel der Software-Agenten

Prillingers Berechnungen zufolge sind heute "mindestens 95 Prozent der Akteure" im österreichischen Internet vollautomatische Bernhard-Bots, "die sich exakt so verhalten, wie Bernhard die Österreicher gesehen hat". Das wiederum hat gravierende Folgen. "Die Nationalbibliothek, die seit kurzem österreichische Websites archivieren soll, ist dazu verpflichtet, die derivativen Werke der Bernhard-Bots und deren Programmcode zu speichern", sagt der von ORF.at zu den rechtlichen Aspekten der Entdeckung befragte Archivar und Netzverweser Hans-Jürgen Sarkozy, der bereits an einem virtuellen Sarkophag für ausrangierte Bernhard-Bots arbeitet: "Wir haben hier verschiedenste autonome Software-Agenten, die von 'Trolle' generiert wurden, vom virtuellen Trollitiker, der mit fünf Zeilen Programmcode auskommt, bis hin zum Expertentroll, der seine eigene Datenbank mitbringt und gleichzeitig 20 Foren, 80 Blogs und nahezu unendlich viele Twitter-Accounts mit herablassenden Belehrungen und fein ziselierten Invektiven beschicken kann."

Sarkozy möchte dem Treiben ein Ende setzen. Er plant die Errichtung eines Mega-USB-Sticks in Form des Monolithen aus "2001 - Odyssee im Weltraum". Aus lichtschluckendem Material gebaut, soll das Mausoleum am Fuße der Alpen acht Kilometer in die Höhe ragen und ausreichend Platz für Trillionen frisch erlegter Trolle bieten. "Bei mir gilt 'Three Strikes Out!'. Sobald ein Bernhard-Bot dreimal gepostet hat, haben wir seine Koordinaten, und er ist fällig", sagt der Archivar.

Zur Premiere von "Trolle" im Burgtheater wird auch Avril Primero, die EU-Beauftragte für die Förderung der Desinformationsgesellschaft, erwartet. Primero zeichnete 2008 für die äußerst erfolgreiche Einführung von Bert dem Biometriebären mitverantwortlich.

Die unendliche Saison

Entscheide man sich dazu, die bereits 20 Jahre dauernde Spielsaison der "Trolle" zu beenden, reiche es nämlich keineswegs, Bernhards C64 einfach nur abzuschalten. "Der Code ist längst weltweit verstreut", so Prillinger. "Man hat ihn sogar im EPROM einer sowjetischen SS-20-Rakete nachgewiesen. Er hatte in unregelmäßigen Abständen die besten Flüche Kasachstans auf das Segment-Display des Radioweckers der Atomsilo-Wachstube geschickt. Er wollte den dritten Weltkrieg auslösen."

Trotz dieser Vorfälle will Prillinger - im Gegensatz zu Sarkozy - die Trolle nicht erlegen und in virtuellem Formaldehyd einwecken. "Sie sind Teil unserer Geschichte", so der Experte. "Es muss eine Möglichkeit geben, sie unschädlich zu machen und trotzdem zu bewahren. Wir könnten warten, bis 'Second Life' pleite ist, und sie dort auf der Serverfarm billig endlagern."

Premiere im Burgtheater

Bevor es so weit ist, lädt das Wiener Burgtheater zur "'Trolle'-Lesung". Wie ORF.at in Erfahrung bringen konnte, ist geplant, dass Schauspieler mit verteilten Rollen Beiträge der zertifizierten Bernhard-Bots "mausi1976", "mombopalombo", "GuRk3", "l33t_hamst3r", "o4schi" und "Günter Hack" von verschiedenen heimischen Internet-Plattformen lesen.

Dramaturg Olav Fake will den spontan aufkommenden Vergleich mit der berühmten "Publikumsbeschimpfung" von Peter Handke nicht gelten lassen: "Wenn überhaupt, dann beschimpft das virtuelle Publikum niemand anderen als sich selbst."

(futurezone/Günter Hack)