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Creative Class - Denken nach dem Crash

GESELLSCHAFT
28.03.2009

Ideen gelten als der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Doch Rohstoffe sind dazu da, ausgebeutet zu werden, wie viele Kreative im Netz feststellen müssen. Armin Medosch denkt darüber nach, wie die kreative Klasse doch noch die Welt retten kann.

Konferenz in Wien

Richard Barbrook, Diedrich Diederichsen, Maurizio Lazzarato und Marion von Osten zählen zu den Teilnehmern der Ö1-Konferenz "Creative Cities. Das Versprechen der kreativen Ökonomie" am 31. März von 14.00 bis 20.00 Uhr im RadioKulturhaus, Argentinierstraße 30a. Der Eintritt ist frei.

In den USA spricht man bereits von der "großen Rezession" in Anlehnung an die große Depression der 1930er Jahre. Der US-Ökonom und Geograf Richard Florida nennt es hingegen den großen Reset, also Neustart, und vergleicht die jetzige Krise mit der von 1873. Damals war die Industriearbeit gerade erst im Begriff, sich durchzusetzen und die Landwirtschaft als Arbeitgeber Nummer eins abzulösen.

Florida vertritt die Theorie von der Creative Class, der kreativen Klasse, die, wie jetzt bereits in Keimform erkennbar, in Zukunft die treibende Kraft des Wirtschaftslebens sein wird. So wie die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert die Avantgarde des Kapitalismus war, sei es jetzt die kreative Klasse, meint Florida. Dazu zählen neben traditionellen Zweigen der Kunst- und Kulturproduktion auch die Werbung, PR, Kommunikation, Fachleute in Rechts- und Finanzberufen, Software-Entwickler und Teile des Wissenschaftsbetriebs.

Richard Florida: The Rise of the Creative Class ... And How It's Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life

Standortfaktor Toleranz

Mit zahlreichen Statistiken belegt er, dass diese Klasse einen seit 30 Jahren stetig wachsenden Anteil am Bruttoinlandsprodukt hervorbringt. Er zeigt auch, dass dieses Wachstum ungleich verteilt ist. Es konzentriert sich in Creative Cities, also Städten mit einem besonders hohen Anteil an Mitgliedern der Creative Class. Besonders wichtig für die Attraktivität eines Standortes sind für Florida die drei Ts: Technologie, Talent und Toleranz. Während sich die ersten beiden Ts als Wirtschaftsfaktoren bereits herumgesprochen haben, unterstreicht Florida die besondere Bedeutung des dritten T, der Toleranz.

Jene Städte und Regionen werden besonders florieren, die besonders offen sind für Einwanderer, für Künstler und Kreative aller Art, für Menschen mit ungewöhnlichen Subjektivitäten und Sexualitäten. Das steht im krassen Gegensatz zum traditionellen Wertekanon der Industrie, dem zufolge Disziplin und Gehorsam innerhalb straffer Hierarchien als Schlüssel zum Erfolg galten. Florida ist überzeugt, dass die Werte der Gegenkultur der 60er Jahre heute Mainstream geworden sind, akzeptiert von Menschen, die selbst durchaus "normal" leben und sich auch nicht als Teil des linken politischen Spektrums sehen.

Armin Medosch: Operaio oder Unruhe in der "gesellschaftlichen Fabrik"

Dienstleister gegen Arbeiter

Obwohl deklarierter Anhänger von Barack Obama, bezeichnet er dessen Stützungsmaßnahmen für die Autoindustrie als falsch. Florida sieht die Krise als die große Chance für einen Neustart, um eine kreative Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen.

Von einem neuen "kognitiven" Kapitalismus spricht auch die europäische Linke, allen voran die Philosophen und Soziologen des "Post-Operaismus". Dieser Begriff bezieht sich auf eine politische Bewegung aus Italien in den 70er Jahren, die Autonomia Operaio (Arbeiterautonomie). In Italien und anderen hochentwickelten Industrieländern protestierten junge Arbeitnehmer nicht nur für besseren Lohn, sondern gegen den entfremdeten Charakter der Lohnarbeit in der Fabrik und für ein besseres Leben.

Outsourcing als Waffe

Da die Arbeiter in Europa zunehmend unregierbar geworden waren, wurde die Produktion in Länder der "Dritten Welt" verlegt. Der Westen konzentrierte sich fortan darauf, hochwertige "informationelle" Güter zu erzeugen, und forcierte Bereiche wie Design, Entwicklung und Marketing.

Mit dem Outsourcing der Produktion entzog man den Arbeitern die Verhandlungsmasse in Konflikten um Jobsicherheit und Konditionen.

Maurizio Lazzarato: Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus. In: Maurizio Lazzarato, Antonio Negri, Paul Virno (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin 1998, S. 39-52.

Social Networks statt soziales Netz

Das vollzog sich in den 80er Jahren zeitgleich mit dem Aufstieg der Werbebranche, der Privatmedien und anderer "Image-Industrien". Wie Maurizio Lazzarato, einer der wichtigsten Vertreter des Post-Operaismus, argumentiert, hat sich der Charakter der Arbeit grundlegend verändert, sie ist "immateriell" geworden. Im postmodernen Kapitalismus ist das Image der Marke wichtiger als der Gebrauchswert des Produkts.

Dieses Image wird aber eigentlich von allen erzeugt, von den Fankulturen, die um die Marken entstehen und deren kommunikative Arbeit den immateriellen Wert der Marken erst erzeugt. Lazzaratos Analyse ist durchaus richtungsweisend, wenn man sich die New Economy ansieht: Der Wert im Web wird eigentlich von allen geschaffen, die dort eigene Blogs schreiben, auf Flickr oder YouTube Bilder und Videos posten, Remixes und Mash-ups machen; doch der Mehrwert, also Profit, wird nur von wenigen abgeschöpft.

Richard Barbrook, Andy Cameron: Die kalifornische Ideologie: Wiedergeburt der Moderne?

Kultur ohne Profit

Ähnlich sieht das der Londoner Politologe und Historiker Richard Barbrook. Die Jugend- und Subkulturen, die seit den 50er Jahren London zu einer Creative City machten, von den Mods über Ska und Punk bis hin zu neuen Stilen wie Drum 'n' Bass und Dubstep, sind als Straßenkulturen entstanden. Sie werden produziert von Menschen, die ganz normalen Jobs nachgehen, jedoch abends oder am Wochenende als Fans, Promoter, DJs ihrem Hobby nachgehen. Nur die wenigsten verdienen auch Geld damit.

Doch für Barbrook ist die Do-it-yourself-Kreativität der Massen die eigentliche Quelle der Innovation. Insofern widerspricht er Florida, der die kreative Ökonomie allein an wirtschaftlichem Output bemisst. Die Wurzeln der kreativen Klasse lassen sich also bereits in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen. Doch als eigene Klasse oder Schicht wurde sie erst in den 90er Jahren fassbar, und das liegt vor allem an der New Economy.

Das Vorbild der Skateboard-Tycoons

Damals wurden junge Menschen mit frechen Ideen und Computerkenntnissen plötzlich zum Ideal des neuen Unternehmertyps. Alte Wahrheiten des Wirtschaftslebens galten als auf den Kopf gestellt, und ein tiefgreifender Wertewandel wurde im Herzen der Hightech-Ökonomie sichtbar. Auf der Achse zwischen Silicon Valley und Market Street, San Francisco, im Zentrum der ehemaligen Gegenkultur der 1960er Jahre, entstanden neue Arbeitsformen.

In "coolen" Großraumbüros in ehemaligen Fertigungs- und Lagerhallen arbeiteten Menschen, die an der Garderobe ihr Skateboard deponierten, unter Kopfhörern Grunge oder Hip-Hop hörten, sich vor allem aber voll mit ihren Jobs identifizierten. Die Arbeit war nicht mehr eine entfremdete Tätigkeit, die man sozusagen neben sich stehend ausführte. Jeder, ob Chef, Angestellte, Freelancer oder Praktikant, wollte sein oder ihr Bestes geben, neue, glänzende Dinge machen, einfallsreich, geschickt, ja sogar genial sein. Die kalifornische Ideologie, also die unwahrscheinliche Synthese zwischen ultralibertären, wirtschaftskonservativen Ansichten und kulturellen Werten und Einstellungen, geformt durch Hippie, Punk, Ökobewegung, breitete sich rasch nach Europa aus, wo sich in Stadtteilen wie Shoreditch im Londoner East End und in Amsterdam "Silicon Alley"-Viertel bildeten.

Andrew Ross: No-Collar. The Humane Workplace and Its Hidden Costs. Philadelphia: Temple University Press 2003. Siehe auch: Nice Work if You Can Get It (PDF)

Capitalist Chic

Die Schattenseiten dieser Entwicklung waren nicht nur der freiwillige Verzicht auf soziale Sicherheit, wie Andrew Ross analysierte, sondern viel unterschwelliger: Die freiesten Gedanken und Impulse, die tiefsten Regungen der Kreativen wurden plötzlich zum Gegenstand kapitalistischer Lohnarbeit. Während Gegen- oder Subkulturen früher eine mögliche Abkehr vom Mainstream der Gesellschaft versprachen, ein Anderssein oder gar den Ausstieg, so war genau das jetzt voll im Programm des "hip" gewordenen, postmodernen Kapitalismus.

Fortune-500-Unternehmen wollten "Urban Guerrilla"-Chic. Die schnell wachsenden Web-Buden in den Silicon-Tälern und -Grachten konnten ihn liefern. Mit einem Mal wurde Kreativität nicht mehr als Eigenschaft ausgegrenzter Künstler-Vögel gesehen, sondern als Triebkraft für Innovation und wirtschaftliche Erneuerung.

New Labour statt Arbeit

Etwa zur selben Zeit, 1998, verfasste die New-Labour-Regierung unter Tony Blair in Großbritannien ein "Mapping Document". Anstatt den Kultursektor als chronischen Subventionsempfänger zu sehen, wurde der Beitrag der verschiedenen Sparten zum Bruttonationalprodukt unter dem Schlagwort der Creative Industries zusammengezählt. Das "Mapping" ergab, dass dieser Bereich mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und mit sechs Prozent überdurchschnittlich schnell wächst.

Das Beispiel machte Schule, und die Methode wurde bald von anderen Nationen in Europa und aller Welt adaptiert. So gibt es zum Beispiel in Wien seit einigen Jahren eine eigene Fördereinrichtung für diesen Sektor namens departure. Österreichweit fördert das Programm Impulse des austria wirtschaftsservice kreative Vorhaben in einem frühen Entwicklungsstadium.

Armin Medosch: Achtung, die Flexicutives kommen

Ausgebrannt oder Aristokrat

Nach zehn Jahren Creative Industries und dem Hype um die "Creative Entrepreneurs" ist bereits eine Gegenbewegung im Gange: Drohender Burn-out, ständige ökonomische Unsicherheit und mangelnde Sozialversicherung lassen Jobs etwa im öffentlichen Sektor wieder attraktiv erscheinen. Zudem kann die kreative Klasse Opfer ihres eigenen Erfolges werden. Dort, wo sich besonders viele Kreative ansiedeln, gehen bald die Immobilienpreise in die Höhe.

In von der Gentrifizierung betroffenen Vierteln sind oft die Künstler diejenigen, die als Erste wieder ausziehen müssen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Innerhalb der Creative Class bildet sich eine Zweiklassengesellschaft zwischen einer erfolgreichen Aristokratie der Creative Class und den ewig dahingrundelnden Unternehmern ihrer selbst.

Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.

BMUKK: Studie zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich

Marion von Osten: Be Creative. Der kreative Imperativ. Ausstellungsdokumentation

High von sich selbst

Wie es der deutsche Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen sarkastisch in seinem Buch "Eigenblutdoping" beschreibt, treibt sich die kreative Schicht zu immer neuen Höchstleistungen, indem sie sozusagen "high von sich selbst" ist, gedopt an der eigenen kreativen Substanz. Allen Bemühungen zum Trotz leben viele Kunstschaffende im engeren Sinn am Armutslimit, wie eine jüngst erschienene Studie des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) herausfand. Nicht zu Unrecht sind die Künstler mit dem Diskurs über die kreative Klasse und die Creative Industries nicht wirklich glücklich. Sie fürchten, dass Kreativität als Feigenblatt für Subventionskürzungen dient.

Bedroht sei auch die Rolle der Kunst als kritisches Gegengewicht, meint die Künstlerin und Feministin Marion von Osten. Denn obwohl Künstler und Künstlerinnen gewissermaßen selbstmotiviert und eigenunternehmerisch tätig sind, ist ihr Ziel nicht primär der Profit, sondern kritisch die Gesellschaft zu reflektieren. Die Forderung "Sei kreativ" gilt inzwischen für alle Berufsgruppen, wie es von Osten im Rahmen einer Ausstellung unter dem Titel "Be creative" bereits 2003 formulierte, nicht nur für Künstler.

Mehr zum Thema:

Das Ö1-"Radiokolleg" hat eine mehrteilige Serie zum Thema "Creative Cities" produziert, deren Teile als WMA-Streams im Netz abgerufen werden können:

Upgrade des Betriebssystems

Doch wie sollten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aussehen, damit wirklich alle kreativ sein können, wie es sich auch die EU im Jahr der Kreativität und Innovation 2009 wünscht? Dazu wird es wohl mehr als einen Reset brauchen. Nämlich ein umfassendes und ausgesprochen kreatives Upgrade des globalen Betriebssystems.

Dabei kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass die kreative Frischzellenkur letztlich doch wieder in die alten Bahnen des Industriezeitalters gelenkt werden soll. So wird den kreativen Jungunternehmern ein Modell vorgeschlagen, dem zufolge der starke Schutz geistigen Eigentums den wirtschaftlichen Erfolg sichern soll. Wie aber die Beispiele der Musikindustrie und der Software-Branche zeigen, sind inzwischen andere Modelle gefragt, die einen flexibleren Umgang mit Copyright erlauben.

(Armin Medosch)