Die Suche nach der neuen Elite
In jeder Epoche versuchen Denker, die aktuelle ideologische Führungselite zu identifizieren. Der britische Medientheoretiker Richard Barbrook hat mit "The Class of the New" eine Chronik der Suche nach Meinungsführerschaft und Hipness erstellt. Ausgehend von Adam Smith kommt er über die Sex Pistols bis zu den Ravern der jungen Internet-Ära.
"The Philosophers" (1776), "The Self-Made Man" (1859), "The Superman" (1883), "The Samurai" (1905), "The Proletarianised Professionals" (1975), "The Virtual Class", "The Swarm Capitalist" (1998), "The Precariat" (2002) - egal welche Wortkreation man nimmt, im Grunde geht es immer um dasselbe: den Versuch, jene Gruppe von Menschen zu definieren, die in ihrer Epoche die Zukunft maßgeblich beeinflussen soll. Das meint der britische Medientheoretiker Richard Barbrook, der sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Geschichte der Zukunftsentwürfe beschäftigt hat.
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Buzzwords statt Klassenkampf
Der Unterschied zu den Denkern der frühen Nachkriegszeit, so Barbrook, liege darin, dass die Soziologen und Politikwissenschaftler der letzten 30 Jahre den Begriff "Klasse" nicht mehr so allgemein fassten wie ihre Vorgänger. Vielmehr sei der Begriff in jüngerer Zeit immer enger gefasst und dabei immer weitere Teile der Bevölkerung davon ausgeschlossen worden. Und das, obwohl im Vergleich zu früheren Jahrhunderten zumindest im Straßenbild die Grenzen zwischen den Klassen immer mehr verschwinden.
Zur Person:
In den 80er Jahren war Richard Barbrook Radiopirat. In den 90er Jahren schrieb er gemeinsam mit Andy Cameron "The Californian Ideology", eine Kritik an der Verherrlichung des damaligen Internet-Zentralorgans Wired und der virtuellen Klasse. In den letzten Jahren brachte er den Studenten des Hypermedia Research Center der Westminster-Universität in London das Schreiben bei. Sein Buch "Imaginary Futures" erschien 2007. Jene Zitate, die nicht mehr in das Buch passten, veröffentlichte er unter dem Titel "The Class of the New" gratis im Netz. Im Mai soll es bei Microgiants.com auch auf Deutsch erscheinen.
Barbrook: Im 19. Jahrhundert war die Unterscheidung zwischen der Elite und den Arbeitern klar ersichtlich. Sie kleideten sich anders, sie hatten eine andere Sprache, eine andere Kultur und führten ein sehr unterschiedliches Leben. Bei der Präsentationsfeier von Ursula Huws Buch "Cybertariat" war auch ein Multimillionär anwesend. Es war unmöglich, ihn von den anderen zu unterscheiden. Er sah genauso aus wie die anderen, die überwiegend teilzeitarbeitende Ex-Studenten waren. Er hat denselben Akzent, dieselbe Kultur, er zieht sich gleich an und mag dieselbe Musik. Der einzige Unterschied besteht darin, dass er mehrere Millionen Pfund besitzt. Er lebt in einem großen Haus und hat Frau und Kinder, weil er es sich leisten kann, für sie zu sorgen.
Wertsteigerung durch Spezialisierung
Es sei fraglich, welcher Elite man angehöre, wenn man ohne Hilfe eines Arbeiters seinen Computer nicht bedienen könne, dafür aber Millionen auf dem Konto habe, fügt Barbrook noch hinzu. Aber damit meint er nicht den speziellen Gast bei der Buchpräsentation, sondern so manch anderen Besitzer einer dicken Brieftasche. Im Gegensatz zu den Kapitalisten, so Barbrook, sei die arbeitende Klasse gezwungen, sich zu spezialisieren, um selbst so etwas wie eine Wertsteigerung zu erfahren.
Barbrook: Sie fragten mich, warum ich bei Adam Smith beginne. Wenn Sie an die vormoderne, landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft denken, dann erkennen Sie, dass die Menschen damals autark waren. Sie machten alles selbst: Sie waren in Familien organisiert, nähten ihre eigenen Kleider und bauten ihre eigenen Häuser und Dörfer. Adam Smith hat erkannt, dass das System Kapitalismus darauf abzielt, dass sich die Klasse der Arbeiter spezialisiert. Ich finde es in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, dass eine der Forderungen bezüglich Kreativität heute genau auf diese Ausschließung abzielt: Man sagt, man könne nur kreativ sein, wenn man der kreativen Industrie angehört.
Kreative Freizeitarbeit
Die "kreative" Arbeit der anderen findet in der Freizeit statt. Die Mitglieder der "Arbeiterklasse" sitzen am Tag im Büro und treten am Abend mit ihrer Band in einem Club auf, um ein klassisches Beispiel zu bemühen. Aus so manchen dieser "kreativen Freizeitarbeiter" wurde am Ende ein erfolgreiches Mitglied der mehr oder weniger "kreativen" Medienindustrie. Bei den Sex Pistols, zu deren Konzerten der junge Barbrook selber gerne ging, gelang das zumindest all jenen, die diesen Lebensstil lange genug überlebten.
Als Akademiker, so Barbrook, orientiere er sich am Hype, als Person, so könnte man hinzufügen, provoziert er gerne. Aber zumindest seiner Mutter scheint es zu gelingen, ihn ab und an auf den Boden der Realität zurückzubringen. Für sie seien weder neue Medien noch Telekommunikation und Computer großartige wissenschaftliche Errungenschaften, sondern Antibiotika und die Anti-Baby-Pille, erzählt Barbrook. Antibiotika, weil sie vielen das Leben retteten, und die Anti-Baby-Pille, weil sie den Frauen die Kontrolle über ihren eigenen Körper zurückgab.
Barbrook: Und auf eine gewisse Art hat sie recht. Genauso galt im 19. Jahrhundert als wichtigste industrielle Errungenschaft die automatische Produktion von Seife. Seife gab es schon lange, aber die Möglichkeit, Seife billig zu produzieren, war entscheidend. Heute werden in den Geschichtsbüchern weder Antibiotika noch die Anti-Baby-Pille als "heroische" Produkte beschrieben, obwohl sie die Gesellschaft sehr wohl entscheidend verändert haben. In meinem Buch "Imaginary Futures" beschäftigte ich mich mit der Frage, warum man ausgerechnet das Internet als Technologie mit Kultcharakter darstellt. Und ich denke, das hat damit zu tun, dass wir gerade dabei sind, eine neue Gesellschaft zu formen.
Dieses Vorhaben scheint nicht ganz so einfach zu sein. Neue Namen für die jeweils aktuellen Gesellschaftsentwürfe gibt es viele. Vor allem in den letzten 100 Jahren ließ man sich für die "neue" Gesellschaft alle paar Jahre einen neuen Namen einfallen. Eine Übung, die man von Bürokraten und Marketingabteilungen kennt: Wenn sich eine Idee nicht verkaufen lässt, dann findet man dafür eben einen neuen Begriff.
Richard Barbrook referierte am 31. März auf dem vom Ö1-"Radiokolleg" veranstalteten Symposion "Creative Cities" in Wien. Sein Vortrag ist auf der Plattform Tagr.tv als Webvideo verfügbar.
Gesellschaft der "Pro-Ams"
Als eines der Beispiele aus der jüngeren Zeit führt Barbrook den Begriff "Pro-Ams" an. Mit diesem Schlagwort beschließt er seine Zitatensammlung über "The Class of the New". Vor fünf Jahren führten die Autoren Charlie Leadbeater und Paul Miller den Begriff ein und meinten damit all jene Amateure, die auch in ihren Nebenbeschäftigungen professionellen Ansprüchen folgen. Tagsüber sitzen sie im Firmenloft und programmieren Anwendungen fürs Internet, nachts komponieren sie elektronische Sounds. "Pro-Ams" werden beschrieben als "sachkundig, gebildet, engagiert und gut vernetzt". Und das klingt mittlerweile ungefähr so aktuell wie die Musik der Sex Pistols.
(matrix/Mariann Unterluggauer)