Markt der Wirklichkeiten

09.12.2006

Nach dem Amoklauf von Emsdetten blüht das Interpretationsgeschäft. Ein kurzer Blick auf das Angebot an mehr oder weniger frischen Studien und Nachrichten zum Thema Gewalt in Computerspielen.

Irrationale Taten wecken in Menschen das Bedürfnis nach Ordnung. So packen die Innenminister nach der Untat von Emsdetten die Maßnahmenkataloge aus und die Wissenschaftler ihre Studien.

Im Zeitalter der Sparmaßnahmen bei zahlreichen Medien nehmen die Nachrichtenagenturen entscheidenden Einfluss auf die Stimmung in der Gesellschaft. Zeit, einen Blick auf die von ihnen in der Alltagshektik angebotenen Erklärungen zu werfen.

Zumindest auf jene fünf Meldungen zum Themenkomplex Gewalt, Psychologie, Internet und Computerspiele, die das Agentursystem der APA auf den Suchstring [SPIEL AND STUDIE] für den Zeitraum vom 20. November bis zum 8. Dezember auswirft.

Ein Blick auf diese kleine Stichprobe sollte zumindest eine Ahnung davon vermitteln, wie die Aufmerksamkeitsökonomie heute funktioniert.

Das Thema

Am 20. November verletzte der 18-jährige Sebastian B. im Geschwister-Scholl-Gymnasium im deutschen Emsdetten zahlreiche Menschen mit Schusswaffen und Rauchbomben und ging in den Freitod.

21. November: "Neue Verbotsdebatte um Computerspiele nach Amoklauf" [Reuters]

Eine Überblicksmeldung vom Tag nach der Tat. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers besucht Opfer. Edmund Stoiber will "Killerspiele verbieten". Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann möchte die "Verbreitung von Unterhaltungssoftware zu Gunsten einer staatlichen Aufsicht" abschaffen. SPD-Chef Kurt Beck signalisiert "Unterstützung für ein hartes Vorgehen gegen einschlägige Gewaltspiele".

Psychologen kommen zu Wort, auch eine Studie mit dem Titel "Medien und Gewalt" wird zitiert, welche im Auftrag des deutschen Familienministeriums erstellt wurde.

Besagte Studie kann man vom Server des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als PDF herunterladen. Es handelt sich dabei um eine Übersichtsstudie, also eine Studie über andere Studien, die zwischen 1998 und 2003 angefertigt wurde. Auf dem Server des Familienministeriums wurde sie am 5. Juli 2005 publiziert.

Mängel in der Methodik

In ihrer Zusammenfassung bemängeln die Autoren der Studie vor allem die Methodik der von ihnen untersuchten Arbeiten zur Computerspiele-Wirkungsforschung. Eine Beurteilung der Sachlage werde "dadurch erschwert, dass viele Studien methodische Mängel aufweisen und noch keine gelungene Anpassung des Forschungsdesigns an die Besonderheiten von Computerspielen stattgefunden hat".

Wichtig sei es, außer den Spielen selbst auch die Person des Nutzers und ihr soziales Umfeld zu berücksichtigen. Deshalb sei es sinnvoll, die Forschung auf "Problemgruppen" zu konzentrieren.

In der Reuters-Meldung stehen die Expertenaussagen und die Passagen aus der herangezogenen Studie gegen die Zitate der befragten Spitzenpolitiker. Die knackigen Statements des bekannten politischen Führungspersonals überlagern aber schon durch die prominente Platzierung am Anfang der Nachricht die ausgewogenen Stellungnahmen der Wissenschaftler.

Die Stellungnahmen der Opposition aus Linkspartei und Grünen, die sich ebenfalls gegen ein pauschales Verbot von Ego-Shootern wenden, werden anonym und passiv zitiert, lediglich der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz darf kurz für "Frühwarnsysteme" plädieren.

21. November: "Studie: Zwanghaftes Web-Surfen meist Folge von psychischen Störungen" [dpa]

An der Medizinischen Hochschule Hannover wurden 23 Probanden psychologisch untersucht, "die sich über einen langen Zeitraum täglich mehr als sechs Stunden im Internet aufgehalten hatten". Im nächsten Satz werden die Probanden vom Agenturjournalisten als "Opfer" bezeichnet. "Von der Internet-Abhängigkeit seien bis zu 75 Prozent Männer betroffen." 75 Prozent der 23 Probanden?

Jedenfalls zeige die Studie, "dass es sich bei der Internet-Abhängigkeit eher um ein Symptom psychischer Probleme handle, die jeder Psychiater oder Therapeut mit herkömmlichen Methoden - einer Therapie und Medikamenten - lösen könne".

In der Geschichte wird keine Verbindung zu den Ereignissen in Emsdetten hergestellt. Sie kommt jedoch zum richtigen Zeitpunkt, um zum Klima der Verunsicherung ihren kleinen Beitrag leisten zu können.

27. November: "48 Prozent sehen Videospiele nicht als Ursache für Jugendgewalt" [APA]

"48 Prozent der Österreicher sehen gewalttätige Videospiele nicht als Auslöser für brutale Handlungen von Jugendlichen. 23 Prozent der Befragten glauben dabei allerdings an einen Zusammenhang."

Die Meldung bezieht sich auf eine Telefonumfrage des Humaninstituts Klagenfurt bei 900 Personen in Österreich. Abgesehen davon, dass "Videospiele" nicht "gewalttätig" sein können, fehlen in den Meldungen der Agentur und des Instituts Hinweise zur Methodik der Studie. Doch weiter:

"Gedankenflucht ins Irreale"

"Zu den Auswirkungen moderner Medien auf Jugendliche wurden auch 75 Pädagogen, Lehrer und Professoren befragt. Diese sehen vor allem innere Leere, die zu Depressionen führt [78 Prozent], sowie Frust und Gewalttaten [71 Prozent] als mögliche Folgen. Auch Gedankenflucht ins Irreale [69 Prozent] sowie Konzentrationsmangel und Leistungsabfall [65 Prozent] werden als drohende Konsequenzen befürchtet."

Auch zu diesem Abschnitt fehlen wichtige Angaben zu Methodik und Stichprobe, die es ermöglichen würden, die harten Aussagen einzuordnen. Zurück bleiben Verunsicherung und die Gewissheit: "Der Großteil der Österreicher lässt seine eigene Befindlichkeit durch den Gebrauch von Medien bestimmen." Die Studie gibt es auf der Website des Instituts zum Download, aber der funktionierte zumindest am Abend des 8. Dezember anlässlich der Recherche zu diesem Artikel nicht.

29. November: "US-Studie - Brutale Videospiele beeinflussen Gehirnfunktion" [Reuters] bzw. "Studie: Brutale Videospiele verringern logisches Denken" [APA/AFP]

Die Meldungen beziehen sich auf eine klinische Studie der Indiana University School of Medicine in Indianapolis. 44 "verhaltensunauffällige Jugendliche" [Reuters] beziehungsweise "Jugendliche [...] ohne Verhaltensauffälligkeiten" [APA/AFP] wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen spielten mit einem nicht näher spezifizierten Ego-Shooter [APA/AFP: "Die Hauptfigur in einem extrem brutalen Kampf"], die anderen mit einer Autorennsimulation.

"Anschließend wurde die Hirnfunktion der Jugendlichen bei verschiedenen Aufgaben gescannt" [Reuters]. Mit welcher Methode genau, darüber schweigen sich beide Meldungen aus. Sicher ist nur, dass "mehr Hirnaktivität in den Regionen für emotionale Erregungen nachgewiesen [wurde] und weniger in jenen Bereichen, die für Kontrolle und Konzentration zuständig sind". Reuters stellt in seiner Meldung gleich noch die Verbindung zu den Vorfällen in Emsdetten her ["Der Mann soll regelmäßig brutale Computerspiele genutzt haben"], APA und AFP lassen die Nachricht für sich stehen.

Aufgeregt über die Aufregung

Die Presseabteilung der Indiana University School of Medicine titelt vorsichtiger: "Videospiele mit Gewaltinhalten könnten Spieler emotional aufwühlen." Die Gamer sind also aufgeregt, wenn sie Ego-Shooter spielen.

Die verwendete Analysetechnik war die funktionelle Magnetresonanztomographie. Ein relativ langwieriges Verfahren, mit dem sich feststellen lässt, in welchen Gehirnarealen besonders viel Energie verbraucht wird, aber eben nicht während des Spielens, sondern nur während kurzer Zeit danach. "Unsere Studie weist darauf hin, dass das Spielen einer bestimmten Sorte brutaler Videogames einen anderen Kurzzeiteffekt auf das Gehirn haben könnte als das Spielen eines aufregenden, aber gewaltfreien Spieles", fasst Studienautor Vincent P. Mathews das Ergebnis seines Tests zusammen.

Die Mediziner weisen auch darauf hin, dass die Studie nur ein winziger Teil eines mehrere Jahre laufenden Forschungsprogramms sei, dessen Ziel es sei, die Auswirkungen medialer Gewalt auf die Gehirne ihrer jugendlichen Konsumenten zu testen.

1. Dezember: "Studien: Computerspiele können aggressiv machen" [dpa]

Unter Bezugnahme auf den Amoklauf von Emsdetten meldet die Deutsche Presse-Agentur, eine Studie des Instituts für Psychologie habe ergeben, dass "Gewalt verherrlichende Computerspiele" die "Aggressionsbereitschaft bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen" erhöhten. "Experimente belegen, dass solche Spiele aggressive Gedanken und Gefühle sowie aggressives Verhalten begünstigen, wie die Potsdamer Universität am Freitag mitteilte. Dies gelte besonders für Jungen und Männer."

Das Verdikt der Wissenschaftler scheint eindeutig zu sein: "Demnach kann schon das Anschauen eines Trailers für Gewalt-Computerspiele eine feindselig getönte Wahrnehmung fördern. Nach Auskunft der Wissenschaftler bestimmt die Intensität der Beschäftigung mit Gewaltspielen noch Jahre später die Aggressionsbereitschaft der Spieler. Insgesamt nahmen an den Studien von 2004 bis 2006 fast 5.000 Probanden teil."

Grüße aus der Ersatzwelt

Zum Abschluss der drei kurze Absätze umfassenden Meldung zitiert die Agentur nicht etwa einen der Potsdamer Psychologen - die kommen erst gar nicht zu Wort -, sondern den "Bielefelder Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann", der meint, dass sich "der Täter nur in seiner Ersatzwelt aus Computerspielen und Waffen stark" gefühlt habe.

Die Agentur gibt zwar die Web-Adresse des Potsdamer Instituts an, allerdings sind die zitierten "Studien" dort entweder nicht online vorhanden, oder aber sie sind im Gewirr schlecht organisierter Lehrstuhl-Subsites hervorragend versteckt. Auch auf der Website des Pressereferats der Universität selbst ist nichts von einer entsprechenden Mitteilung zu sehen. Keine Chance, die Methodik der Studie - oder der Studien? - nachzuvollziehen. Zurück bleiben die gewohnt scharfen Aussagen zum Geisteszustand jugendlicher Computerspieler.

Das dunkle Raunen

Die Berichterstattung zum Thema Medienwirkung von Computerspielen ist schon im Vorfeld der eigentlichen redaktionellen Verarbeitung oftmals boulevardesk. Befunde werden unzulässig zugespitzt, die Methodik der Studien nicht für berichtenswert erachtet. Gewiss: Alles muss schnell gehen. Aber die Zwänge des Geschäfts entschuldigen weder die groben handwerklichen Fehler noch das Bias in der Berichterstattung.

Am Ende schafft das dunkle Raunen der Nachrichtenticker eine Atmosphäre der Bedrohung. Eine Atmosphäre, in der die Bevölkerung dazu tendiert, schnelle und radikale Lösungen zu fordern.

Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Entscheidungsträger in der Politik in Fragen der Einschränkung der künstlerischen Freiheit nicht von den schnellen und schrillen Impulsen des Meinungsjahrmarkts leiten lassen, sondern eher von den liberalen Grundsätzen der Verfassung. Und, vielleicht, von fundierter Wissenschaftsberichterstattung.

(futurezone | Günter Hack)