Reality Check Check

23.12.2006

Alle Haushalte sind mit Glasfaser verkabelt, die Durchschnittsmenschen verfügen über eigene CD-Recorder und freuen sich auf Telesex. Beginn einer Serie über die gar nicht mal so alten Zukünfte des Jahres 1996.

Für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr bereiten Journalisten gerne Jahresrückblicke vor. Was aber macht ein futurezone-Autor, der sich gefälligst mit der Zukunft zu beschäftigen hat? Er darf sich nur eine Art der Nostalgie erlauben, und zwar jene für die Zukünfte der Vergangenheit.

Die wahre Zukunft

Er greift also ins Bücherregal, wo er ein Werk aus dem Hause Hardwired findet, das exakt vor zehn Jahren erschienen ist. "Reality Check" heisst es und kommt mit einem kernig formulierten Untertitel daher: "Sie haben den Hype erlebt. Wired hat die Experten befragt. Das hier ist die wahre Zukunft."

Die Ware Zukunft ist selten so gut verpackt worden. Die Herausgeber Brad Wieners und David Pescovitz sammelten die gängigen Futurismen der Web-Hype-Periode und wiesen ihnen ihre Plätze auf dem Zeitstrahl zu.

Telesex via Glasfaserkabel

Dabei mutet das Buch uns Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts heute schon so fremdartig an wie die Vision eines atomgetriebenen Toasters von 1953. Beispielsweise fantasiert die Expertenschaft des Jahres 1996 von Glasfaserkabeln, Intelligenzdrogen und Telesex-Spielzeugen, aber Mobiltelefone und deren potenzielle Anwendungen kommen nur am Rande vor. Sie waren in den USA vor zehn Jahren einfach noch nicht wichtig.

Im Vorwort bewundert der texanische Intellektuelle Bruce Sterling die Chuzpe der Herausgeber. Es sei gut, schreibt er, sich einfach frech festzulegen, ohne sich feige abzusichern. Natürlich wisse jeder, dass man die Zukunft nicht vorhersagen könne. "Reality Check" sei aber eine Sammlung der attraktivsten Vorstellungen von der Zukunft.

Wahrscheinlichkeiten

Die echten Herausforderungen aber, so Sterling, könne niemand vorhersehen. Niemand hätte 1919 daran denken können, dass es einmal den PC oder AIDS geben würde. "Reality Check" hat eine wirkungsvolle Impfung gegen HIV für 2002 erwartet.

Bruce Sterling selbst hat für die Dezember-Ausgabe von "Wired" kürzlich seine letzte Kolumne als Zukunftsexperte verfasst. "Auguren haben keine Zukunft", schreibt er darin. "Die Werkzeuge und Techniken, die früher nur einer kleinen Elite von Experten zur Zukunftsschau zur Verfügung standen, sind heute offen zugänglich und weit verbreitet." Sterling lebt heute in Belgrad und bloggt lieber, anstatt Science-Fiction zu schreiben.

Letzte Worte

Wenn wir heute also alle unsere eigenen Zukunftsexperten sein sollen, dann wäre es sinnvoll, von den Experten von gestern zu lernen. Wir bringen deshalb zum Jahresende eine kurze neunteilige Serie mit den "Reality Check"-Vorhersagen von 1996 bis heute.

Wohlgemerkt nicht zu dem Zweck, sich über die Fehler von damals lustig zu machen, sondern um zu sehen, was wir alles geschafft und verpasst haben. Und was wir noch tun könnten, trotzdem und stattdessen.

(futurezone | Günter Hack)