Europa und die Geburt des Internets
Die Entstehung von Computernetzwerken gilt als US-Erfolgsgeschichte. Weitgehend unbekannt ist, dass viele wichtige Ideen der Netzwerktechnik aus Europa kommen. Teil eins der futurezone.ORF.at-Serie "Europa und das Netz".
So mancher europäische Computerwissenschaftler blickte in den 1950er und 60er Jahren wehmütig in die USA. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) stand "Whirlwind", eine eindrucksvolle Maschine mit damals neuartigem Bildschirm als Ausgabegerät, die von der U.S. Air Force als Flugsimulator genutzt wurde. In den 60er Jahren experimentierten die amerikanischen Kollegen bereits mit Timesharing-Systemen, die es erlaubten, viele Nutzer und Programme auf einem einzelnen Computer mit Rechenzeit zu bedienen.
Unter der Bezeichnung "Cloud Computing" erlebt das gemeinsame Arbeiten an vernetzten Rechnersystemen derzeit eine Renaissance. Der Unterschied zu Timesharing besteht im Wesentlichen darin, dass heute nicht mehr nur die Computerzeit, sondern auch Speicherplatz und Anwendungen verteilt genutzt werden.
Kontrolle und Kommunikation
"Command and Control" lautete das Credo der amerikanischen Militärs, dem J.C.R. Licklider in den 60er Jahren "Communication" hinzufügte. Licklider träumte von einem "intergalaktischen" Netzwerk. Aus seiner Vision wurde Ende der 60er Jahre das ARPAnet, der Vorläufer des heutigen Internets. Geplant und verwirklicht von der Advanced Research Projects Agency (ARPA), die je nach politischer Situation immer wieder ein D für Defence vorne angefügt bekam. Im Frühjahr 2008 feierte die DARPA ihr 50-jähriges Jubiläum in Washington D.C. In der Jubiläumsbroschüre liest man sehr viel über Waffensysteme aller Art, aber auch der Entstehungsgeschichte des ARPAnets wurde zumindest ein sechsseitiger Artikel zugestanden.
In Europa hingegen reicht es nicht einmal dafür. Jubiläumsfeiern im Zusammenhang mit der Verbreitung des Internets in Europa finden, wenn überhaupt, nur im kleinen Kreis statt. Es gibt keine offizielle Hochglanzbroschüre, die den Start für den Aufbau eines Europäischen Informatik-Netzwerks im Jahr 1968 feiern würde. Selbst aus dem Jahr 1978, als das Projekt "Cost eleven - a European Informatics Network" (EIN) offiziell präsentiert wurde, gibt es als offizielle Spur gerade einmal den Vertrag selbst und eine kleine Broschüre, bescheiden gehalten, im Format A5. Dieses Heftchen findet man in keiner offiziellen Bibliothek, sondern nur in Privatarchiven.
Europas Beitrag zum Internet
Kaum jemand kennt daher die frühen Entwicklungen für ein Europäisches Netzwerk, und kaum jemand kennt die Computerwissenschaftler, die sich damals in Europa für dessen Aufbau eingesetzt haben. Dabei waren sie auch an der Entwicklung des ARPAnets beteiligt und prägten ab und an auch das Vokabular. Der Begriff "Packet Switching" stammt von dem britischen Mathematiker Donald Watts Davies, der französische Computerwissenschaftler Louis Pouzin, der in den 70er Jahren in Frankreich das Netzwerk Cyclade aufbaute, ersann für die entstehenden "Netze von Netzen" den Begriff "Catenet", abgeleitet vom lateinischen Wort "catena" für Kette.
Aber in den 70er Jahren hatten Wortkreationen, die aus dem Lateinischen abgewandelt wurden, international bereits keine Chance mehr. Es musste schon Englisch sein, meint Pouzin heute. Die Erwähnung von Catenet endete in der Netzwerklektüre in den 80er Jahren. Dass man sich an den Begriff hie und da überhaupt noch erinnert, ist auch dem amerikanischen Netzwerkpionier Vint Cerf zu verdanken.
Daniel Karrenberg (arbeitete am Aufbau von EUnet mit, heute Chief Scientist bei RIPE NCC) und der französische Netzwerkpionier Louis Pouzin über den Begriff "Catenet" - ein Wort, das deswegen in Vergessenheit geriet, weil kaum jemand wusste, wie man es richtig auspricht.
Catenet und Internet
"Ich verwendete den Begriff Catenet in einem frühen Artikel, zum Teil auch, um die Arbeiten von Louis Pouzin am Institut IRIA (Institut de Recherche en Informatique et en Automatique, später umbenannt in INRIA, wobei das N für National steht, Anm.) zu würdigen. Der Begriff 'internetwork' wurde von Bob Kahn und mir in einer Arbeit vom Mai 1974 verwendet. Im Dezember 1974 verkürzten wir es auf 'internet', um es im Titel für unserere TCP-Spezifikation zu verwenden." (E-Mail-Korrespondenz der Autorin mit Vint Cerf, 20. März 2008)
Am 1. Jänner 1983 wurde aus dem ARPAnet das Internet, und der Rest ist Geschichte - eine oft beschriebene und vor allem amerikanische Erfolgsgeschichte. Und Europa? Die Europäer, so der englische Computerwissenschaftler Peter Kirstein, trugen aus der frühen Netzwerk- und Computergeschichte vor allem eines davon: einen Minderwertigkeitskomplex.
Internationale Partnerschaft
Dafür gibt es vielleicht weniger Gründe, als man auf den ersten Blick annehmen möchte - zumindest was das Wissen und die technischen Entwicklungen betraf. Die amerikanischen Netzwerktechniker wussten die Arbeiten ihrer europäischen Kollegen sehr wohl zu schätzen. Pouzin entwickelte die "Datagrams", eine Form der Datenpaketvermittlung, die Cerf und Kahn in ihren ersten Entwurf für das TCP-Protokoll 1974 einarbeiteten.
Und der englische Mathematiker Watts Davies ersann in den 60er Jahren, genauso wie die US-Amerikaner Paul Baran und Leonard Kleinrock, ein Konzept für die paketvermittelte Datenkommunikation. In den 60er Jahren wurde nicht nur in den USA das ARPAnet aufgebaut, sondern es gab auch in Europa experimentelle Computernetzwerke für Datenaustausch und Kommunikation.
Die amerikanischen, europäischen und auch japanischen Wissenschaftler kannten einander. Sie trafen sich einmal in den USA, das andere Mal in Europa. Technische Entwicklungen finden nie isoliert statt, und die Struktur des Internets verrät viel darüber, dass es nicht "den Erfinder" oder "die eine Nation" geben kann, die das Entstehen des Netzes ermöglichte.
Vergessene Geschichte
Die beteiligten Wissenschaftler arbeiteten nicht nur an "Internetworking", sie lebten es auch. Der Aufbau von Netzwerken war eine Gemeinschaftsproduktion. Schließlich ging es allen Beteiligten um das eine: Verbindungen zu schaffen, um zu kommunizieren und Informationen auszutauschen.
Aber technische Entwicklungen können durch die Politik gefördert oder von ihr vereitelt werden. Technik sei immer auch Politik, meinte einst der britische Computerwissenschafter Kirstein in einem Interview, und davon handelt der erste Teil der Serie "Europa und das Netz", die über die nächsten Wochen in der Futurezone erscheinen wird.
In zahlreichen Interviews mit den beteiligten Wissenschaftlern und mit umfangreichem Archivmaterial folgt Mariann Unterluggauer den europäischen Spuren in der Entwicklung von Computernetzwerken.
Im zweiten Teil der Serie geht es um die Anfänge, um politische Interessen, Macht und technische Experimente. Es geht um jene Jahre, über die die Erinnerungen bereits zu verblassen drohen und über die in Archiven nicht immer nur die Wahrheit zu finden ist: die Jahre 1960 bis 1980.
(Mariann Unterluggauer)