© Günter Hack, Atomium vor US- und EU-Flagge

Europas frühe Computerlandschaft

SERIE
19.09.2009

In den 1960er Jahren haben die USA die Europäer in der Computerentwicklung abgehängt. Experten mahnten die europäischen Staaten zur Zusammenarbeit, diese setzten aber auf nationale Alleingänge. Die Auswirkungen der politischen Fehler von damals sind heute noch spürbar. Teil zwei der futurezone.ORF.at-Serie "Europa und das Netz".

Der Reisende aus den Vereinigten Staaten zeigte sich beeindruckt: "Fast jedes europäische Land verfügt über einen Computer. In 16 europäischen Landern wurden derartige Maschinen gebaut, davon werden sieben auch kommerziell vertrieben." Doch der Physiker Nelson M. Blachman, im Auftrag der Forschungseinrichtung der US-Marine in Europa unterwegs, notierte in seinem Reisebericht aus dem Jahr 1961 auch die Unterschiede zwischen den USA und den europäischen Ländern - vor allem was die Vorgehensweise in Forschung und Entwicklung anging.

Blachman präzisierte in seinem Bericht "The State of Digital Computer Technology in Europe", dass die meisten nichtkommerziellen Computer in Europa jeweils nur von einer Handvoll Ingenieuren gebaut würden und nicht wie in den USA von leistungsfähigen Forschungsinstituten.

Eine Beobachtung, die auch der österreichische Computerpionier Heinz Zemanek stützt. In Europa wurden "Rechenautomaten" seinerzeit auch ganz ohne Auftrag gebaut, aus rein wissenschaftlichem Interesse. Zumindest in Österreich, so Zemanek anlässlich eines Vortrags im März, sei das beim Bau des ersten heimischen Computers - des "Mailüfterl" - der Fall gewesen.

Audio:

Vortrag von Heinz Zemanek am 31. März bei der Generalversammlung der Österreichischen Computergesellschaft. Zemanek ist der Vater des "Mailüfterl", Österreichs ersten "Binär dezimalen Volltransistor-Rechenautomaten".

Europas frühe Computerlandschaft

Zwei Jahre lang, von 1958 bis 1960, reiste Blachman im Auftrag des Office of Naval Research (ONR) quer durch Europa, um den technischen Entwicklungsstand zu dokumentieren. Er erinnert er sich an seine damaligen Reisen:

Nelson M. Blachman, "The State of Digital Computer Technology in Europe", Communications of the ACM, Vol. 4:2, June 1961, pp. 256-265. doi.acm.org

Zur Verfügung gestellt mit freundlicher Genehmigung von Nelson M. Blachman und dank der Unterstützung der Association for Computing Machinery (ACM).

"Ich hatte das Glück von 1958 bis 1960 in der Londoner Niederlassung des ONR zu arbeiten und von dort aus viele Computerprojekte in West- und Osteuropa besuchen zu können - von Norwegen bis Jugoslawien, von der Sowjetunion bis Frankreich. Meine osteuropäischen Gastgeber empfingen mich damals freundlich, zogen es aber vor, mich als Mitarbeiter von Sylvania Electric Products vorzustellen, die mich eigentlich beurlaubt hatte, und nicht als jemanden, der im Auftrag der US Navy unterwegs war."

Ein bis drei Jahre hatten die europäischen Ingenieure in der Regel Zeit, um ihre Rechner fertigzustellen. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in Übersee mussten sie mit kleineren Budgets auskommen und benötigten weit mehr Fantasie, um an die für den Computerbau notwendigen Materialien heranzukommen.

Konrad Zuse verwendete in Deutschland anfangs alte Spielfilme als Speichermedium. Und die Transistoren für das Wiener "Mailüfterl" wurden einer Hörgerätelieferung der Firma Philips entnommen. Das "Mailüfterl" war übrigens die zweite Rechenmaschine, an der Zemanek mit Kollegen und Studenten von 1956 bis 1958 arbeitete. Sein erstes "Lernobjekt" nannte er noch ein wenig großspurig - wie er heute selbst sagt - "Universal Relay Rechenmaschine".

Audio:

Interview mit Heinz Zemanek (2004)

Technik ist immer auch Politik

Die Vorgehensweisen bei der Computerentwicklung mochten in den USA und Westeuropa verschieden gewesen sein, sie gründeten jedoch auf ein und derselben Annahme: Spätestens Anfang der 1960er Jahre hatte sich bei Politikern auf beiden Seiten des Atlantiks die Meinung durchgesetzt, dass das Wirtschaftswachstum eines Landes von seiner technologischen Leistungsfähigkeit abhänge. In den USA stand zudem noch der Nationalstolz auf dem Spiel, denn schließlich hatte die UdSSR mit dem erfolgreichen Start der "Sputniks" und Gagarins Flug ins All einen Vorsprung im Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum errungen.

Wichtige Forscher und Politiker der USA nutzten die Gelegenheit und beschworen die Gefahr eines sowjetischen Angriffs aus dem All herauf. Damit fiel es ihnen gegenüber der Zivilbevölkerung leichter, die gewaltigen Summen zu rechtfertigen, die im noch jungen Kalten Krieg für neue Forschungsprogramme ausgegeben wurden. Unter Präsident Dwight D. Eisenhower wurde 1958 die Advanced Research Projects Agency (ARPA) gegründete und kurz darauf die zivile Weltraumbehörde NASA.

Aufholjagd in Europa

Mangels entsprechender finanzieller Mittel gingen die Westeuropäer etwas ruhiger an das Projekt Technologieförderung heran. Sie riefen auch nicht den Kalten Krieg aus, sondern konzentrierten sich vorerst auf die wirtschaftlichen Aspekte. Vor allem die technologische Abhängigkeit von den USA trieb die europäischen Politiker und Wissenschaftler an.

Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, entwarfen sie staatliche Förderprogramme, zunächst aber nur auf nationaler Ebene. Die Keimzelle der Europäischen Union, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), bestand damals lediglich aus Italien, Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten.

Dokument:

OECD, General Report, Paris 1968. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der OECD.

Der Abstand zu den USA

1968 ließ ein OECD-Bericht die Europäer aufhorchen. Dieser Bericht mit dem Titel "Gaps in Technology", also "Lücken in der technologischen Entwicklung", wurde 1968 offiziell publiziert, aber das Thema stand bereits seit geraumer Zeit auf der Tagesordnung. 1964, beim ersten großen internationalen Treffen der OECD-Mitglieder, zu denen die USA, 18 europäische Staaten, Kanada und Japan zählten, wurde bereits darüber diskutiert. Ebenso beim Nachfolgetreffen der Wissenschaftsminister 1966 und auch bei der EIRMA (European Industrial Research Management Association) einer Organisation der europäischen Industrie, gegründet unter der Schirmherrschaft der OECD.

Aus den offiziellen OECD-Berichten geht hervor, dass die Westeuropäer auf den Gebieten Forschung und Technik den USA um einige Jahre hinterherhinken würden: einerseits, so die Begründung, weil ihnen pro Jahr 2.000 Wissenschaftler an die USA abhanden kämen, und andererseits, weil sie nicht in der Lage seien, ihre Innovationen erfolgreich auf dem globalen Markt zu positionieren. Die Autoren des OECD-Berichts empfahlen den Europäern im Wesentlichen zwei Dinge: Sie sollten sich von den Amerikanern erfolgreiches Marketing und Management beibringen lassen und sich zu einer gemeinsamen Forschungspolitik durchringen.

Frankreich schlägt Alarm

Der einflussreiche französische Journalist und Mitbegründer des Nachrichtenmagazins "L'Express", Jean-Jacques Servan-Schreiber. beschrieb die Situation wesentlich drastischer. 1967 machte er in seinem Bestseller "Die amerikanische Herausforderung" klar, was er von Europas Zukunft hielt: "In 15 Jahren wird die drittgrößte Industriemacht der Welt nicht mehr Europa heißen. Vielmehr wird sie aus US-Unternehmen bestehen, die sich in Europa niedergelassen haben."

Die Bürokraten in der Brüsseler EWG-Zentrale sahen die Situation nicht ganz so dramatisch. Seit 1963 versuchten sie, ihre nationalen Regierungen zu mehr Kooperationsbereitschaft zu animieren. Eine Reaktion auf diesen Rat kam ein paar Jahre später aus Italien. 1966 forderte der damalige italienische Außenminister Amintore Fanfani einen neuen "Marshallplan" für Europa.

Redenzusammenschnitt von Amintore Fanfani unter anderen über den Marshall Plan für Technologie.

Quelle: Foreign Relations of the United States 1964-1968, Volume XII, Western Europe.

Ein Marshallplan für die Technik

Der ursprüngliche Marshallplan hatte dazu gedient, den vom Krieg verwüsteten Kontinent wieder aufzubauen. Laut Fanfani bedurfte es einer ähnlichen Anstrengung, um nun die europäische Wirtschaft auf das Niveau der USA zu bringen. Der britische Premierminister Harold Wilson pflegte hingegen eine nüchterne Herangehensweise. Er schlug die Gründung einer europäischen technischen Kommission vor, der auch England und andere Mitglieder der Europäischen Freihandelszone angehören sollten.

In den 1960er Jahren lautete Londons Botschaft an Brüssel: Nur mit einer Öffnung der EWG würde die europäische Computerindustrie dazu in der Lage sein, den Kampf gegen den damals übermächtigen IBM-Konzern aufzunehmen.

Europa und das Netz: Folge drei

Am nächsten Samstag lesen Sie: England drängt in die EU, aber Frankreichs Präsident Charles de Gaulle hat andere Pläne ...

Es sollten mehr als 40 Jahre vergehen, bis man sich in Brüssel auf die Gründung eines gemeinsames Europäischen Innovations- und Technologieinstituts (EIT) einigen konnte. 2008 stimmte das Europäische Parlament der Einrichtung des EIT zu, 2009 stellte das in Budapest beheimatete Institut seinen ersten Dreijahresplan vor.

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(Mariann Unterluggauer)