© Bild: Günter Hack/ORF.at, Amsel Twitter

Zwitschermaschine sucht Geschäftsmodell

WEB
23.04.2009

Vor rund drei Jahren hat der ehemalige Google-Mitarbeiter Chris Sacca in ein Start-up investiert, dessen wesentliche Funktion darin besteht, seinen Nutzern die Veröffentlichung von 140-Zeichen-Kurznachrichten zu ermöglichen: Twitter. Heute bedient der Dienst Millionen Nutzer in aller Welt, nach einem Geschäftsmodell jenseits des Aufgekauftwerdens sucht die Firma noch immer. Im Gespräch mit ORF.at gibt sich Sacca optimistisch.

Hollywood-Star Ashton Kutcher hatte kürzlich triumphiert, als Erster die Reichweitenmillion auf dem Microblogging-Dienst Twitter erreicht zu haben, knapp gefolgt vom Nachrichtensender CNN. Für den US-Investor und Twitter-Anteilseigner Chris Sacca steht Twitter "über allen anderen Medien" als Filter. ORF.at sprach mit ihm bei der Next-Web-Konferenz in Amsterdam.

In maximal 140 Zeichen pro Nachricht teilen weltweit Millionen Nutzer des Sozialen Netzwerks und Informationsdienstes Twitter einander mit, was sie momentan beschäftigt. Neben den üblichen Mitteilungen nach dem Muster "Was machst Du gerade?" wird der Dienst auch von journalistischen Angeboten und zur Koordination politischer Kampagnen genutzt. Twitter erfährt derzeit die für soziale Software übliche starke Wachstumsphase.

Der Sinn von Tagebüchern

Auf der letzte Woche zu Ende gegangenen Amsterdamer Konferenz Next Web versuchten Experten, die aktuellen Trends zum Thema Social Networks zu reflektieren. Eingeladen waren bekannte Redner wie der "New York Times"-Autor Jeff Jarvis und Andrew Keen, der selbsternannte "Anti-Papst des Silicon Valley". Letzerer stieß etwa mit der Meinung, dass "Web 2.0 tot und Twitter die Zukunft" sei, nicht nur auf Verständnis. Und der Google-Produktmanager Bradley Horowitz lieferte ein Argument dafür, warum es sinnvoll sein kann, Tagebuch zu führen: "Denken Sie an Anne Frank."

Der private Investor und Berater Sacca hält Anteile an Twitter und war bis Ende 2007 als Projektleiter bei Google unter anderem für das Datenzentrum in The Dalles und den Aufbau eines freien WiFi-Netzes in Mountain View zuständig. Er gehört mit etwa 350.000 "Followers" zu den meistgelesenen Twitter-Usern.

ORF.at: Warum haben Sie in Twitter investiert?

Sacca: Ich glaube sehr an das Team. Evan Williams hatte schon mit der Entwicklung von Blogger.com das Web revolutioniert, und Jack Dorsey, sein Kollege und eigentlicher Erfinder von Twitter, ist ein Visionär. Das ganze Team hat sich dem Prinzip verpflichtet, auf seine User zu hören und nicht an erster Stelle daran zu denken, wie man damit Geld machen kann. Ich bin aber stark davon überzeugt, dass Twitter bald ein Geschäftsmodell finden und eine Menge Geld damit machen wird.

ORF.at: Warum hat Twitter das 500 Millionen Euro hohe Übernahmeangebot von Facebook abgelehnt?

Sacca: Twitter als Netzwerk wächst nach wie vor, und das Team ist begeistert von den vielen neuen Nutzungsmöglichkeiten, die ihre Benutzer selbst dazu entwickeln. Ihre eigenen Familienmitglieder, immer mehr Stars, Politiker und auch Unternehmen beginnen, es zu verwenden. Es ist viel befriedigender, in einem Büro mit einem großartigen Team von 29 Personen zu arbeiten, als von einer großen Firma gekauft zu werden und sich dort mit Meetings und Budgets beschäftigen zu müssen.

ORF.at: Also sind die Gründer selbst auch "Twitterholics" und "Twaddicts"?

Sacca: Ganz sicher.

ORF.at: Glauben Sie, dass der medial stark beachtete Einstieg von Prominenten wie dem Schauspieler Ashton Kutcher und der US-Talkmasterin Oprah Winfrey den Pioniergeist von Twitter zerstören könnte?

Sacca: Durch den großen Erfolg berühmter Persönlichkeiten (Ashton Kutcher hat nach einem Wettlauf-Hype mit CNN inzwischen über eine Million "Follower", also Leser auf Twitter, Anm.) könnten sich normale User mit ihren vielleicht um die hundert Freunden zu klein vorkommen. Dabei ist das verrückt, wann hat man in unseren ganz normalen Leben sonst die Chance, zu hundert Menschen zu sprechen? Das ist doch absolut großartig!

ORF.at: Was ist für Sie der Nutzen Sozialer Netzwerke?

Sacca: Ich hatte einmal eine Freundin in Österreich. Facebook hilft mir dabei, mit meinen Freunden aus dieser Zeit in Kontakt zu bleiben, wir senden einander etwa Bilder. Das jüngste Redesign bei Facebook mit einem neuen Layout der Startseite hat mich und viele andere Benutzer ziemlich bewegt. Es wird damit versucht, einen Eindruck von Echtzeitinformation zu erzeugen.

ORF.at: Sind Meldungen in Echtzeit nicht der Hauptnutzen von Twitter?

Sacca: Ich selbst nutze Twitter für eine viel direktere und schnelle Kommunikation mit Freunden. Ich kann damit verfolgen, was sie momentan beschäftigt. Facebook dient für mich mehr dem Austausch in langfristigen Freundschaftsbeziehungen. Aus meiner Zeit bei Google habe ich gelernt, nicht den Entwicklungen der Konkurrenz zu folgen, sondern den Usern. Das kann das Team von Twitter sehr gut.

ORF.at: Lesen sie alle Updates ihrer Freunde bei Twitter?

Sacca: Das Gute an Twitter ist die Asynchronität, ich verfolge die Updates von etwa 500 Personen, werde aber selbst von über 300.000 "Followers" gelesen. Es gibt eine Handvoll Menschen, von denen ich nicht eine Meldung verpassen will, von meiner Mutter, meinem Vater, Bruder und ein paar engen Freunden. Mein Vater ist übrigens ein wirklich lustiger User, sein Account heißt "Thekooze", er ist 62 Jahre alt und benutzt es ganz fleißig. Auch mit meinen restlichen Freunden stehe ich gerne in Kontakt, auch wenn ich manchmal ein paar ihrer Meldungen unter Zeitdruck verpasse.

ORF.at: Microblogging lässt sich wahrscheinlich nur schwer beschleunigen. Wo sehen Sie den nächsten Trend bei Twitter?

Sacca: Niemand kann das sagen. Jeder, der behauptet, das zu wissen, ist verrückt. Ich glaube, das "nächste große Ding" wird nicht von Twitter selbst kommen, sondern von seinen Usern.

ORF.at: Matt Mullenweg, Initiator der freien Blogger-Software WordPress, betonte auf der Next-Web-Konferenz das Verlangen nach offenen Datenstandards in Sozialen Netzwerken.

Sacca: Matt ist ein brillanter Denker und Vorreiter von Open-Source-Projekten, ich schätze ihn sehr. Twitter bietet mit seiner standardisierten Programmierschnittstelle (API, Anm.) die Möglichkeit, alle eigenen Daten wieder auszulesen. Facebook hingegen verhindert das "Absaugen" von Profildaten, und wer es trotzdem versucht, bekommt rechtliche Probleme.

ORF.at: Der Internet-Kritiker Andrew Keen meinte in seiner Rede auf der Konferenz, dass Twitter eines Tages alle anderen Medien ersetzen wird und einzelne User diktatorische Medienmacht ausüben werden.

Sacca: Ich glaube, dass Twitter ein Komplementärmedium ist. Der Filter, dem wir vertrauen, um interessante Artikel oder Blogs zu finden. In der Aufmerksamkeitsökonomie ist Zeit das höchste Gut. Wofür wir sie aufwenden, entscheiden wir mit Hilfe der Menschen, denen wir vertrauen oder die wir bewundern. Twitter ist für mich ein Filter und eine Empfehlungsmaschine, die über allen anderen Medien steht.

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(Richard Pyrker)