Notruf am Mayday
Am 1. Mai wird in vielen Ländern der Erde den Kämpfen der internationalen Arbeiterbewegung Anerkennung gezollt. Begonnen hat diese Tradition vor mehr als hundert Jahren mit einem Generalstreik in Chicago für den Achtstundentag, 1890 streikte man erstmals auch in Wien. Doch die traditionelle Arbeiterklasse zeigt im postindustriellen Zeitalter starke Auflösungserscheinungen. Zeit für neue Ideen, meint Armin Medosch.
In Wien marschieren sie noch, die Gewerkschaften und Bezirksverbände, zur Verwunderung der Touristen aus Übersee, denen solche sozialistischen Rituale fremd sind. Doch was macht der Rest von uns? Wobei sich die Frage stellt, wie sich der "Rest" beschreiben lässt. Denn wie kürzlich die von Ö1 veranstaltete Konferenz "Creative Cities" gezeigt hat, ist die traditionelle Klassenstruktur im Umbruch.
Die kreative Klasse regt ihr buntes Haupt. Diese neue Avantgarde der Werktätigen hat jedoch mit ganz anderen Bedingungen als die traditionelle Arbeiterklasse zu kämpfen. Anstatt einem Firmenchef steht man sich selbst als Inhaber und Vorarbeiter der Ich-AG gegenüber. Wie verhandle ich also mit mir selbst die Forderung nach einem Achtstundentag? Soll ich nun streiken? Oder zuerst beim Betriebsrat vorsprechen? Viele der Errungenschaften, hervorgegangen aus den historischen Kämpfen der Arbeiterklasse, wie zum Beispiel Standards und Normen bezüglich Arbeitszeit, Einkommen, Alters- und Krankenvorsorge, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung, sind heute wieder bedroht.
Euro-Mayday der kreativen Klasse
Die kreative Klasse lebt unter prekären Umständen, sie ist von einer fundamentalen Unsicherheit betroffen, die sich auf praktisch alle Lebensumstände erstreckt. Der 2001 ins Leben gerufene Euro-Mayday versucht, politisches Bewusstsein über die Prekarisierung zu erzeugen und damit dem 1. Mai wieder neues Leben einzuhauchen. Die Initiative hat in Mailand noch klein angefangen, dann kam der Euro-Mayday über Barcelona und London schließlich auch nach Wien und wurde letztes Jahr mit einer Parade von mehr als 1.000 Teilnehmern recht stilvoll begangen. Allerdings kam es am Ende der Veranstaltung zu Übergriffen durch WEGA-Beamte.
Ob es damit in Zusammenhang steht, dass es dieses Jahr keinen Euro-Mayday in Wien gibt, ist nicht bekannt. Doch was sind eigentlich die Ziele des Euro-Mayday? "Die sozialen Forderungen sind offensichtlich, oder vielleicht nicht?", heißt es ein wenig überraschend auf der deutschen Website zum Thema. Was die allgemeinen großen Brocken wie die Kritik an Neoliberalismus, Sexismus und Rassismus betrifft, wohl vielleicht schon, im Detail allerdings weniger. Die Website verkündet: "Wir surfen gerne, und jetzt sind wir dran, auf der Welle zu surfen."
Krankfeiern und twittern
Sie meinen damit doch nicht etwa "im Internet surfen"? Vorsicht ist geboten, sollte der Surf-Ausflug in die Piratenbucht führen, wie das jüngste Urteil gegen Betreiber des BitTorrent-Trackers The Pirate Bay zeigte. Hier offenbart sich ein zentraler, die Informationsgesellschaft definierender Konflikt. Die digitale kreative Klasse, die auf Open Source und Tauschökonomie setzt, steht der alten Ordnung gegenüber, dem pyramidenförmigen System der Korporationen und des Staates: Peer-to-Peer, also die Kommunikation unter "Gleichen" in einem nichthierarchischen System, bietet sich als Metapher einer neuen politischen Ordnung an.
Hier geht es also nicht nur um Copyright, und die Haftstrafen gegen die Pirate-Bay-Leute sind auf jeden Fall politisch zu interpretieren. Trotz des Urteils ist die Website weiterhin online, und sollte sie abgestellt werden, stehen schon zahlreiche alternative Dienste wie Mininova.org in den Startlöchern. Ist die Massenverweigerung der Nutzer gegen das Filesharing-Verbot als ziviler Ungehorsam zu verstehen? Oder sind es einfach proto-anarchistische Formen des "infantilen Ungehorsams", den schon Lenin so verachtete? Ungefähr so wie Gras rauchen, krankfeiern oder am Arbeitsplatz twittern?
San Precario, bitt' für uns!
Die Energie zur Veränderung der Gesellschaft geht schon lange nicht mehr von der bodenständigen Arbeiterklasse aus, sondern von den Randständigen (-liegenden, -fallenden, -stolpernden?) der kreativen Klasse. Die Euro-Mayday-Leute sind so etwas wie die Kinder von 1968, als zum letzten Mal in Europa die große gesellschaftliche Utopie mit einiger Vehemenz eingefordert wurde. Ihre politischen Propheten sind Theoretiker wie Toni Negri, und weil das alles in Italien seinen Ausgang nahm, gibt es auch einen San Precario und eine Santa Precaria als Schutzheilige der Prekären.
Das führte prompt dazu, dass ein unermüdlicher Wikipedia-Editor den Euro-Mayday und seine philosophisch-theoretische Richtung dem "sozialen Katholizismus" zuordnete. Es bedurfte einer monatelangen Kampagne von Euro-Mayday-Aktivisten, um die sturen Wikipedia-Machtmenschen dazu zu bewegen, den Mayday doch unter die sozialistischen Bewegungen einzureihen. Doch die Energie der P2P-Generation fokussiert sich bisher weniger auf politische Programme als auf Formen des kreativen Widerstands und der karnevalesken Demonstrationen.
Kunst und Verbrechen
Zu den Vorgängern des Euro-Mayday zählen vor allem die Reclaim-the-Streets-Partys, die im Jahr 2000 auf dem Parliament Square in London einen ihrer Höhepunkte erreichten. Unter dem Motto "Guerrilla Gardening" wurde der Platz vor dem Parlament mit frischer Erde und Gras bedeckt und die Statue von Winston Churchill mit einer grünen Irokesenfrisur ausgestattet. Eine rote Linie, wie eine Blutspur aus dem leicht geöffneten Mund laufend, unterstrich die martialische Komponente dieses Erzreaktionärs, dem das Schicksal zugefallen war, zusammen mit der Roten Armee und Amerika Hitler zu besiegen. Der Künstler, ein Ex-Soldat, erhielt übrigens eine Gefängnisstrafe.
Zehn Jahre später wurde Irokesen-Churchill als Büste in einer Londoner Nobelgalerie ausgestellt, der Künstler, Marcus Harvey, erhielt einen satten Scheck. Die Schändung des nationalen Denkmals wird im einen Fall als Verbrechen, im anderen als Kunst betrachtet. Ebenso vielfältig wie die Schicksale der kreativen Klasse sind ihre Themen.
Aufstand an den Universitäten
Von den Medien in Österreich kaum beachtet, gärt es seit Monaten an Universitäten in aller Welt. Universitätsbesetzungen in Italien, Frankreich und New York, Demonstrationen von Zehntausenden in Madrid und Barcelona und ein besonders kreativer Protest in Südkorea: Unter dem Titel "Shave Tuition Fees" ließen sich Studenten öffentlich die Haare scheren, um die Halbierung der Studiengebühren zu erwirken.
Auch in Wien begeht die frühlingshafte kreative Klasse den Mayday künstlerisch. Unter dem Motto "Kreative aller Länder, vereinigt euch" wird um 12.00 Uhr auf dem Josef-Meinrad-Platz am Burgtheater ein Tableau vivant, also ein lebendes Bild, in Szene gesetzt. Die Lithografie "Der Triumph der Arbeit", die Walter Crane 1891 geschaffen hat, wurde von Michael Hacker auf die heutige Kreativwirtschaft bezogen umgezeichnet und dient als Vorlage für die Inszenierung.
Ne travaillez jamais!
Abends wird dann im brut Wien am Karlsplatz gefeiert mit einer Anzahl erlesener DJs - ohne Party geht es halt einfach nicht bei der kreativen Klasse von heute, selbst oder erst recht inmitten der "Krise". Wer es auch gerne prekär mag, aber etwas ernster, kann um 14.00 Uhr zum Omofuma-Gedenkstein am MuseumsQuartier, Ecke Mariahilfer Straße kommen, wo sich ein von Anti-Rassismus-Initiativen organisierter Gedenkzug in Bewegung setzen wird.
Hinterher bleibt noch die Möglichkeit einer Absetzbewegung zum Wiener Sportclub-Platz, wo um 15.30 die Musikarbeiterkapelle aufspielen wird. Oder man hält sich von allem fern und trifft sich zum Picknick im Grünen.
Was man aber am 1. Mai keinesfalls tun sollte, ist arbeiten.
(Armin Medosch)