Arbyte
Die Zeit der großen Industrien und der biografischen Masterpläne ist in Mitteleuropa vorbei. Das dokumentieren die Gespräche, die Peter Glaser zum 1. Mai mit Menschen geführt hat, denen es gelingt, sich selbst zu organisieren, mal besser, mal schlechter. Momentaufnahmen aus der Hypermoderne.
"Obwohl die Automation schon seit längerem stetig an Boden gewinnt, ist seltsamerweise erst in jüngster Zeit das Problem aufgetaucht, welche Bedeutung es hätte, wenn der Großteil des menschlichen Arbeitslebens ausradiert würde. Auch heute erkennen nur wenige, daß dieses Problem, einmal ehrlich ausgesprochen, das Endziel der Automation ernsthaft in Frage stellt. Was die mögliche Schaffung einer vollautomatisierten Welt betrifft, so können nur Ahnungslose ein solches Ziel als den höchsten Gipfel menschlicher Entwicklung ansehen. Es wäre eine Endlösung der Menschheitsprobleme nur in dem Sinne, in dem Hitlers Vernichtungsprogramm eine Endlösung des Judenproblems war."
Lewis Mumford, Mythos der Maschine (1970)
Tim
Programmierer und Organisator
"Ich habe gar keine Vorstellung von Arbeit", sagt Tim. "Ich benutze das Wort ungern. Ich arbeite nie. Klar, vieles von dem, was ich tue, würden eine Menge Leute als Arbeit bezeichnen, weil es für sie Arbeit ist. Aber für mich ist es keine. Arbeit ist für mich das Wort für Dinge, die ich nicht gern tue. Ich mag das Wort Arbeit nicht. Ich kann mich gar nicht erinnern, irgendwann etwas getan zu haben, das ich nicht gern tue. Es gibt Dinge, die hab' ich bis zuletzt abgelehnt, auch wenn es für mich katastrophal war, dass ich's nicht getan habe. Weil ich einfach eine verzogene, egozentrische Diva bin. Ich kann's mir nicht leisten, aber ich tu's trotzdem."
Tim ist Mitte 30 und wusste immer schon genau, was er machen will: das, was ihm gerade einfällt. Mit 15 kommt er mit der Hackerszene in Berührung. Leute, die passioniert mit Computern arbeiten, die meisten sind Freelancer. Tim gibt einer Werbeagentur Computerberatung. Auf die Idee, dafür ein Honorar zu nehmen, kommt er erst im Nachhinein. "Ich hätte auch dafür bezahlt, wenn ich Geld gehabt hätte", sagt er.
Als er einmal einen Achtstundenjob probiert, ist das sofort überhaupt nicht seine Sache. Über Geld denkt er nicht nach. Wenn ihm jemand einen Job anbietet, denkt er über den Job nach. Wie kann man das Problem lösen? Ein Computerprogramm ist nicht einfach quantifizierbar. Es wird nicht dadurch besser, dass es länger ist, im Gegenteil. Aber das ist dem Auftraggeber egal. Die Arbeit wird bewertet durch die Art und Weise, wie das Problem gelöst wird. Der Auftraggeber ist glücklich, wenn er das erwünschte Ergebnis bekommt. Der Programmierer ist glücklich, wenn er es gut, vielleicht sogar elegant gemacht hat.
Tim ist nicht um die Zukunft bekümmert. "Ich hab' zwar so meine Sorgen", sagt er, "aber ich bin nicht durchwallt von diesem Gefühl: Oh Gott, ich hab' keine Sicherheit hier und keine Rente da." Krankenversichert ist er privat. Momentan ist schwer zu sagen, wohin die Reise geht. Ob es ein Fehler ist, sich nicht jetzt schon um sein Lebensende zu kümmern. In einer Krankenversicherung sieht er Sinn, aber wenn Leute sich ihm gegenüber entsetzt zeigen, dass er keine Haftpflichtversicherung hat, sagt er: Das ist Geschäft mit der Angst. "Statt Haftpflicht setz' ich lieber aufs Glück. Ist bestimmt billiger."
Zu unserem Treffen kommt Tim irrtümlich ein paar Stunden zu früh. Er ist ein bisschen durcheinander, isst einen riesigen Teller Spaghetti und strahlt. Er hat gerade erfahren, dass er Vater wird.
Marina
Künstlerin und Chipherstellerin
Marina ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit einer großen Tischlerei, der Vater Tischlermeister. "Leben", sagt Marina, "war von Anfang an immer Arbeit. Das war die schönste Art von Beschäftigung, wenn es auch gleich Sinn gemacht hat." Ihre Spielsachen hat sie sich in der Werkstatt selber gebaut.
Sie liest Theaterstücke und baut nachts heimlich Bühnenbilder, die sie verstecken muss. Wenn die Mutter eines findet, landet es im Müll. Sie fängt ein Kunststudium an und verdient als Hilfsbibliothekarin Geld. Ende der 60er Jahre wird in der Bibliothek erstmals mit EDV gearbeitet. Der Programmierer schläft neben dem Computer.
Auf dem Dorf hatte es immer mähmaschinenbreite Reihen von Gras gegeben, so waren die Wiesen gestreift, dann waren die Leute aus der Familie und aus der Tischlerwerkstatt aufs Feld gefahren zum Heuwenden. Das Feld veränderte sich ständig, und so hängen auch ihre Bilder von Tätigkeiten ab. Ihr ist klar, dass sie nicht Bilder malt, um sie in eine Kunstgalerie zu tragen. Sie versteht das, was sie macht, als Arbeit. Sie jobbt in einer Kneipe, um Geld zu verdienen, und arbeitet an ihren Bildern.
Sie lernt einen Programmierer kennen, der überlegt, eine eigene Firma zu gründen. Marina kümmert sich um die Organisation der Firmengründung. Sie sieht sich nicht als Geschäftsfrau, aber es stellt sich heraus, dass ihr eine Führungsrolle zuwächst. Auf einer Fachmesse sagt ihr jemand, er wäre eigentlich lieber Verhaltensforscher geworden, statt eine Firma zu leiten. Sie sagt, dass sie eigentlich Malerin sei. "Das sind doch die besten Voraussetzungen", sagt der verhinderte Verhaltensforscher.
Der Programmierer und sie heiraten. Sie sind nun Echtzeitspezialisten und entwickeln einen kleinen Rechner, Marina organisiert Konferenzen. Reisen nach Brüssel, Einführungsseminare in Technologieprogramme der EU. Als Künstler kann man alles Mögliche machen, aber nun ist sie zum ersten Mal eingebunden in Prozesse, die nicht beliebig sind. Es ist schwierig, verleiht ihr aber Kräfte. Sie begreift, warum man die Kunst braucht. Etwas im Büro haben, das einen ganz anderen Blick auf die Welt freigibt.
Es gibt zwei Projekte der Firma, dann trennen Marina und ihr Mann sich, bei laufendem Betrieb. Sie bekommt den Chip - die Entwicklung eines speziellen Mikrochips für Industrieanlagen. Das Interesse daran ist groß, alles funktioniert. Aus Frankreich, wo die Wafer hergestellt werden - die empfindlichen Slilziumscheiben, aus denen die Chips geschnitten werden -, heißt es dann plötzlich, sie seien beschädigt worden, versehentlich. Marina weiß da noch nicht, dass ein Großunternehmen ganz ähnliche Chips bei demselben Unternehmen herstellen lässt. Große Nachfrage, keine Chips. Ein kleiner österreichischer Chiphersteller übernimmt ihren Auftrag, dann liefern die Franzosen doch noch. Wie sich erst später herausstellt, sind die Chips ebenfalls schadhaft. Ein Kunde bemerkt, dass sie nur bis zu einer bestimmten Temperatur funktionieren.
Die Prozessoren müssen zurückgerufen werden, die Firma Konkurs anmelden. Man kann seine Firma dem Konkursverwalter auch wieder abkaufen, das macht Marina. Sie arbeitet mit ein paar Ingenieuren weiter. Es fängt gut an, dann wird sie ernsthaft krank, und die Ingenieure kündigen. Mit Freunden und einer Löterin beliefert sie die verbliebenen Kunden, dann der zweite Konkurs.
Lange Zeit später, sie hat ihre Krankheit überwunden. Marina lebt in einer kleinen Ladenwohnung, die einmal eine Fleischhauerei mit geschmückten Wandkacheln gewesen ist. Aus dem Nachlass eines Hutmachers hat sie sich hölzerne Hutformen besorgt und macht nun Hüte und Lampen und kleine Bilder am Computer. An den Dingen, an denen sie arbeitet, ist viel Erfahrung zu spüren. Wie man mit Material umgeht, wie man etwas macht. Sie will nun mit ihren Erfahrungen als Künstlerin Dinge machen, die man zum Leben braucht. "Das war eine klare Entscheidung", sagt sie, "Dinge mit Gebrauchswert zu machen." Jeder normale Mensch arbeitet, um Geld zu verdienen. Wenn er nicht arbeitet, hat er Freizeit. Künstler arbeiten anders. Sie haben innere Aufgaben, die sie sich selber stellen und an denen sie arbeiten. "Das hat mit Geldverdienen nichts zu tun", sagt Marina.
Holm
Netzarbeiter und Intelligenzunternehmer
Inbild der versunkenen Zeit, in der Unternehmen ihren Arbeitern überlebensgroße Sicherheit garantierten, ist der japanische Konzern FANUC, weltgrößter Hersteller von Industrierobotern, mit einem eigenen Firmenfriedhof auf dem Fabriksgelände. Die Generationen, die nun ins Erwachsenen- und Erwerbsleben der Industriegesellschaften hineinwachsen, nehmen die dramatischen Veränderungen der Arbeitswelt, die sich seither vollzogen haben, aber nicht nur als etwas wahr, das sie erleiden; nicht nur als ein Schwinden von Sicherheiten und ein Anwachsen dessen, was man prekäre Situation nennen kann - oder aber Selbstverantwortung.
Dass sich feste Berufsbilder und Arbeitszeiten ebenso umformen und auflösen wie die Rollenverteilungen in Beziehungen, die immer wieder neu verhandelt werden müssen, ist anstrengend und macht die Lage unübersichtlich. Aber es gibt den Menschen Freiheit. Richtige Freiheit, nicht die aus Sonntagsreden. Das Bedürfnis nach fester Lebensplanung nimmt ab, sagen die einen. Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, mach Pläne, sagen die anderen. Der Wunsch nach Wahlfreiheit überträgt sich auch auf die Mediennutzung, dem kommt das Internet umfassend entgegen.
Einer, der diese Klaviatur der Hypermoderne virtuos zu spielen versteht, ist Holm. Holm ist Mitgründer und Geschäftsführer einer virtuellen Firma, ohne Büros und ohne Angestellte, auch der Geschäftszweck der Firma ist nicht einfach zu fassen. Es ist eine Art Gravitationszentrum für gute Ideen, durchdachtes Vergnügen und prima Texte. Zu den guten Ideen gehört ein preisgekröntes Weblog, in dem eine handverlesene Gruppe von Autorinnen und Autoren die Warenwelt durchkämmt oder Phänomene aus den Tiefen des Internets fischt. Mitarbeiter werden nach dem Clubprinzip nur auf Einladung zugelassen. Eine der Autorinnen ist Bachmann-Preisträgerin.
Holm bezeichnet die Firma als "ein kapitalistisch-sozialistisches Joint Venture mit dem Anspruch, neue Formen der Kollaboration zu etablieren". Die erste Maßnahme war: keine Kosten. Das geht nur in bestimmten Bereichen und Branchen, in denen mit immateriellen, digitalen Gütern hantiert wird.
Leben und arbeiten, begleitet von dem ständigen Gefühl, sich auf dünnem Eis zu bewegen, ist heute nicht nur immer mehr Menschen als Grundstimmung vertraut; immer mehr Menschen nehmen die schwierige Balance zwischen selbstbestimmter Arbeit und unregelmäßigem Einkommen auch als Chance an. Holm hat diesem von einer sonderbaren Mischung aus Leistungswut und Lässigkeit erfüllten Soziotop die provisorische Bezeichnung "digitale Boheme" gegeben. Digitale Boheme ist der unmögliche dritte Weg zwischen Festanstellung und Einzelkämpfertum.
Bei der Arbeit sind vor allem die Ergebnisse von größtem Interesse. "Man sucht die Spots, in denen die Produktivität am größten ist", beschreibt Holm den Energiehaushalt des arbeitenden digitalen Bohemiens. "Man löst sich dabei auch von der Vorstellung, dass es nur in einem Zeitfenster stattfinden könne, das dem bürgerlichen Arbeitstag von 9.00 bis 17.00 Uhr entspricht. Das war der Punkt, der auch zur Gründung der Firma geführt hat."
Holm ist überzeugt, dass man sehr gut leben kann, wenn man die produktive Arbeit in vier, fünf Stunden am Tag packt und den Rest für Dinge verwendet, die man anderweitig aufgeschoben hat. Mehr könne man ohnehin nicht schaffen. Sogar das Vergnügen ist bei den Netzwerkern arbeitsdurchsetzt. Eine der beliebtesten Erfindungen von Holm heißt "PowerPoint-Karaoke". Freiwillige müssen dabei auf offener Bühne möglichst überzeugend zufällig ergoogelte PowerPoint-Seiten präsentieren.
Auf dem Firmenkonto bleibt von jedem Honorar, wer immer von den Mitarbeitern es eingestrichen hat, der biblische Zehnte stehen. Jeder Job, nachdem er abgeschlossen ist, wird zerlegt, und man streitet sich über die Aufteilung der Einkünfte. Und zwar unmittelbar danach, wenn noch alles frisch im Kopf ist, nicht am Jahresende. So streitet man vielleicht gelegentlich über Geld, aber es kann sich keine Missgunst ansammeln. Die zehn Prozent dienen als Spielgeldkassa, um auch Jobs zu finanzieren, für die es keine Auftraggeber gibt. "Unser Grafiker hat eine Familie mit zwei Kindern, und er hatte lange überhaupt keine Arbeit von außen", erläutert Holm. "Wir haben dann interne Jobs ausgeschrieben, damit er nicht verhungert. Das ist im besten Sinne paternalistisch unternehmerisch. Nur dass es diesen Unternehmer in der Firma halt nicht gibt."
(Peter Glaser)