EU-Parlament gegen Netzsperren ohne Richter
Das EU-Parlament hat dafür gestimmt, dass nur ein ordentliches Gericht, kein "Tribunal" darüber entscheiden kann, ob ein Bürger Einschränkungen seiner Verbindung zu elektronischen Netzwerken hinnehmen muss. Es hat damit die Rechte der Bürger gestärkt. Das Telekompaket selbst muss nun ins Vermittlungsverfahren und kann nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden.
Das EU-Parlament hat am Mittwoch in Straßburg den ursprünglichen Text des Änderungsantrags 138 zum Bericht von Catherine Trautmann (SPE) im Telekompaket mit einer großen Mehrheit von 407 Stimmen bei 57 Ablehnungen und 171 Enthaltungen angenommen. Damit muss das Telekompaket ins Vermittlungsverfahren und kann nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden.
Das Parlament hat damit abermals den Richtervorbehalt bei Eingriffen in Internet-Anschlüsse in der Richtlinie zu elektronischen Netzwerken und Dienstleistungen in seiner starken Fassung angenommen. Das heißt: Nicht ein "Tribunal", wie beim Kompromiss zwischen Ministerrat und Parlament ausgehandelt, sondern ein ordentliches Gericht muss darüber entscheiden, ob ein Nutzer vom Netz getrennt werden darf.
Strategische Manöver
Ermöglicht wurde das durch eine Reihe geschickter Manöver der Parlamentarier. Nach der Abstimmung über den Bericht von Malcolm Harbour über Konsumentenschutz- und Datenschutzaspekte des Pakets beantragte Rebecca Harms, Abgeordnete der deutschen Grünen, eine Umstellung der Abstimmungsreihenfolge. Das sollte sicherstellen, dass das Plenum erst über den ursprünglichen Vorschlag des Parlaments mit dem starken Richtervorbehalt abstimmt, dann erst über den Kompromiss.
Weiters meldete sich der Liberale Alexander Alvaro zu Wort und stellte fest, dass seine Fraktion die Unterstützung für den Kompromissvorschlag zurückgezogen habe. Das und die Feststellung, dass der Industrieausschuss mit 40 zu vier Stimmen den ursprünglichen Änderungsantrag 138 angenommen hatte, veranlassten die Parlamentspräsidentin Diana Wallis dazu, die Abstimmungsreihenfolge zu ändern.
Wäre nämlich zuerst über den Kompromissvorschlag abgestimmt und dieser angenommen worden, wäre Antrag 138 aus dem Rennen gewesen. Auch Berichterstatterin Trautmann stimmte schließlich für den ursprünglichen Antrag. Die deutsche Konservative Angelika Niebler (CSU), Vorsitzende des Industrieausschusses, und Trautmann hatten sich dafür ausgesprochen, die Abstimmungsreihenfolge beizubehalten.
Auswirkungen auf Frankreich
Das Parlament hat damit zum wiederholten Mal gezeigt, dass es von dem französischen Plan zur Einrichtung einer Behörde (HADOPI), die Nutzer bei vermeintlichen Verstößen gegen das Urheberrecht nach zweimaliger Warnung vom Internet trennen soll, nichts hält.
Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte sich persönlich auf höchster EU-Ebene für den HADOPI-Ansatz eingesetzt. Inwieweit die Entscheidung des Parlaments Auswirkungen auf die Debatte in Frankreich hat, bleibt abzuwarten. Dort soll die Nationalversammlung am kommenden Dienstag die Beratungen über das Gesetz zur Einführung von HADOPI wieder aufnehmen.
In einer ersten Reaktion auf die Abstimmung im EU-Parlament erklärte Jeremie Zimmermann, Sprecher der französischen Bürgerrechtsbewegung La Quadrature du Net, das Netzsperrengesetz für gescheitert. Auch die EU-Kommission habe sich für ein Grundrecht auf Netzzugang ausgesprochen, das Parlament habe mutig gehandelt und sei bei seiner Ablehnung von Netzsperren geblieben.
Reaktionen der Parlamentarier
"Besonders wichtig an diesem Abstimmungsergebnis ist, dass es auch einem großen Nationalstaat wie Frankreich nicht gelungen ist, auf europäischer Ebene das durchzuboxen, was auf nationaler Ebene nicht gelingt", sagte Eva Lichtenberger, EU-Abgeordnete der österreichischen Grünen, die für ihre Fraktion die ursprüngliche Version von Änderungsantrag 138 wieder eingebracht hatte.
Lichtenberger zeigte sich naturgemäß mit dem Ausgang der Abstimmung zufrieden: "Dieses Ergebnis ist ein Erfolg für die Bürgerrechte, das Parlament und auch für all jene, die von Anfang an vor Maßnahmen wie Internet-Sperren gewarnt haben, weil die den Anfang vom Ende des Internets bedeutet hätten."
Anlässlich des erzielten Kompromisses zwischen Parlament und Rat hatten sich auch die EU-Parlamentarier von ÖVP und SPÖ gegenüber ORF.at gegen Netzsperren ohne richterlichen Beschluss ausgesprochen.
Lobbyismus und Software-Patente
Diese mit letztlich nicht erwarteter überwältigender Mehrheit erfolgte Abfuhr für die Lobbyisten der Unterhaltungsindustrie verglich Lichtenberger, die ORF.at im Sitzungssaal telefonisch erreichen konnte, mit der Entscheidung des EU-Parlaments gegen die Patentierbarkeit von Software. Auch damals hatte eine mächtige und ebenso stark agierende Lobby im Sold der Elektronik-, Auto- und Rüstungsindustrie nichts unversucht gelassen, um deren Partikularinteressen durchzusetzen.
Am Ende eines langen Prozesses hatten die Parlamentarier damals mit ebenso großer Mehrheit das Gegenteil von dem verabschiedet, was die Hardware-Lobby gefordert hatte.
"Kooperation mit Rechteinhabern"
Vor dem parlamentarischen Krimi um Änderungsantrag 138 hatte das Parlament allerdings noch über den Bericht des britischen Konservativen Harbour abgestimmt und den Kompromiss mit dem Rat mehrheitlich angenommen. Änderungsanträge der Grünen und Linken sowie der Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie (IND/DEM; EU-Skeptiker), die gesichert hätten, dass die Provider keine Eingriffe in die Netzneutralität vornehmen dürfen, wurden abgeschmettert. Außerdem stimmten Konservative, Sozialdemokraten und Liberale für einen Passus, der die Internet-Provider zur "Kooperation" mit den Rechteinhabern in Sachen "Lawful Content" auffordert.
Auch ein Änderungsantrag der Linken (GUE/NGL), nach dem die Nutzer über "Traffic-Management" seitens der Provider hätten informiert werden müssen, wurde abgelehnt. Auch Erwägungsgrund (Recital) 39 enthält nun einen Passus, der die Provider zur "Kooperation" mit den Rechteinhabern auffordert. Die Grünen, die Linken und IND/DEM hatten gefordert, dass der Hinweis auf die "Kooperation" gestrichen wird. Auch im Trautmann-Bericht wurde ein Änderungsantrag von IND/DEM und Linken zurückgewiesen, der die Provider auf mehr Transparenz in Sachen Traffic-Management verpflichtet hätte.
Das Parlament hat damit tendenziell die Bürgerrechte gestärkt, aber die Netzneutralität geschwächt.
(futurezone/Günter Hack/Erich Moechel)