
Fetisch Soziale Netzwerke
Soziale Netzwerke wie Facebook und MySpace sind die neueste und am höchsten entwickelte Form des Warenfetischismus. Auf zentralisierten Plattformen wird das grundlegende Kommunikationsbedürfnis der Menschen ausgewertet und ausgenutzt. Ein scheinbar kostenloses Vergnügen, das die Nutzer dieser Plattformen teuer bezahlen müssen - mit Lebenszeit und beträchtlichen Mengen an Geld. Ein Essay von Armin Medosch.
Zusammenfassung:
Die Sozialen Netzwerke sind die neueste und am höchsten entwickelte Form des Warenfetischismus. Die Weiterentwicklung von Facebook und Co. gegenüber dem konventionellen Warenkapitalismus ist die, dass uns nicht mehr die Ware als Fetisch gegenübertritt, welcher die sie hervorbringenden sozialen Beziehungen verschleiert, sondern dass die sozialen Beziehungen selbst zum Fetisch geworden sind. Unser Dasein als soziale Wesen nimmt in den Sozialen Netzwerken Warenform an.
Damit einher geht die Ästhetisierung und Fetischisierung der Zwischenmenschlichkeit und, infolgedessen, eine Modellierung von Persönlichkeitstypen. Unser Wert als soziale Wesen misst sich daran, wie viele Freunde wir haben, wie viele Interaktionen wir eingehen, von welcher Qualität diese sind. Diese Interaktionen und komplexen sozialen Beziehungen werden zugleich von hochentwickelter Software ständig auf der Basis von sozialen Netzwerkanalysetechniken ausgewertet. Dieses "Wissen" und sein Handelswert ist das eigentliche Produkt von Sozialen Netzwerken, der Fetisch des Informationszeitalters, das neue Eldorado.
Die mediale Aufmerksamkeit, die Soziale Netzwerke in letzter Zeit erfahren, sorgt dafür, dass Nachrichten, Berichtenswertes, Dinge, worüber man sich aufregen und die man gleich wieder vergessen kann, nun schon im Minutentakt über den Ticker rasseln. Den Sozialen Netzwerken wird eine Aufmerksamkeit zuteil, wie sie viel früher wohl nur das Orakel von Delphi, der Papst und der Kreml erfuhren.
Alle Anzeichen sind gegeben, dass Soziale Netzwerke nun selbst zu Medienereignissen wurden, zur nie versiegenden Gerüchtequelle, zu zentralen Objekten, denen wir Subjekte uns zuwenden, kurz: zum Fetisch. Ob sie nun in österreichischen Beamtenstuben verboten werden müssen oder der Protestbewegung im Iran auf die Sprünge helfen, ob sie es ermöglichen, eine Lichterkette um das Parlament zu schließen oder ob ein russischer Internet-Konzern einen Preis pro Stammaktie zahlt, demzufolge Facebook 6,5 Milliarden Dollar wert sein müsste, niemand, so scheint es, kann sich den übernatürlichen Kräften, ob in Anziehung oder Abstoßung, der Sozialen Netzwerke entziehen.
Arbeit und Kapital
Um nicht immer nur auf der Oberfläche zu bleiben und von einem endlosen Strom von Pro- und Kontra-Argumenten hinweggespült zu werden, ist es nötig, einmal eine etwas grundlegendere Analyse anzustellen.
Dazu ist es nötig, bei der von Karl Marx angestellten grundlegenden Unterscheidung zwischen Arbeit und Kapital anzusetzen. Jene Menschen, die nichts anderes besitzen als sich selbst, sind gezwungen, ihre Arbeitskraft, also lebendig verausgabte Zeit, anderen zur Verfügung zu stellen, so dass diese damit Dinge produzieren können. Durch den Verkauf dieser Dinge erzielen die Kapitalgeber in der Regel einen Mehrwert, das heißt, sie erhalten mehr, als sie für Maschinen, Rohstoffe und die Arbeit der anderen ausgegeben haben.
Rohstoff Lebenszeit
Da die Maschinen und Rohstoffe gewissermaßen tote Dinge sind, die aus sich selbst heraus zunächst gar nichts machen, ist die eigentliche Quelle des Werts die verausgabte Arbeit. Die Arbeiter erhalten gerade so viel, manchmal auch weniger, wie für die Erneuerung der Arbeitskraft nötig ist. So ist es dem Kapital möglich, zu akkumulieren, also Mehrwert an sich zu ziehen. Dieser Mehrwert ist aber eigentlich nichts anderes als die verausgabte Mehrarbeit, also Lebenszeit der Arbeiter.
Nun treten diese produzierten Dinge als Waren in den Warenkreislauf ein. Die Produzenten treten den von ihnen hergestellten Dingen plötzlich als potenzielle Konsumenten gegenüber. An dieser Stelle setzt eine zweite fundamentale Erkenntnis von Marx an. Wenn uns Dinge als Waren begegnen, erscheinen sie zugleich in Form eines Tauschwerts und eines Gebrauchswerts.
Die Ware als Fetisch
Hieraus ergibt sich ein für die Marktwirtschaft charakteristischer Gegensatz. Der Käufer steht auf dem Standpunkt des Bedürfnisses, sein Zweck ist ein bestimmter Gebrauchswert. Der Verkäufer jedoch trachtet nur nach der Realisierung des Tauschwerts, die eigentliche Beschaffenheit des Produkts, sein Gebrauchswert, ist ihm egal.
Diese besondere, doppelte Beschaffenheit der Ware bildet den Ausgangspunkt für Marx' Analyse des Fetischcharakters der Ware. Dinge, die uns als Waren gegenübertreten, sagt Marx, sind zugleich sinnliche und übersinnliche Dinge. Als Beispiel verwendet er einen ganz normalen Holztisch. Dieser hat seine physische, sinnliche Beschaffenheit, man kann Dinge daraufstellen, ihn zum Essen oder Schreiben benutzen. Diese Dinghaftigkeit des Tisches verschleiert jedoch seine zweite Seinsweise, nämlich dass dieser Tisch, als Ware in kapitalistischen Zusammenhängen produziert, zugleich die zum Produkt geronnene, verfestigte lebendige Arbeitszeit der Produzentinnen ist. Oder, In Marx' eigenen Worten: Das Geheimnisvolle der Warenproduktion besteht darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt.
Die Produktion des Fetischs
Daher, so Marx weiter, erscheint den Produzenten das gesellschaftliche Verhältnis zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dieses Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Produkte (siehe Marx, Kapital, Band I, S 50-51).
Um diesen sinnlich-übersinnlichen Charakter der Waren zu beleuchten, erfindet Marx den Begriff des Fetischcharakters der Ware."Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt." Um das zu verstehen, meint Marx, müsse man "in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Das nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist."
Tausch und Gebrauch
Diesen "eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert" und aus dem der "Fetischcharakter der Ware entspringt", hat Wolfgang Fritz Haug in seinem 1971 erschienenen Buch "Kritik der Warenästhetik" weitergedacht. Auf dem von Marx erkannten Widerspruch zwischen Tauschwert und Gebrauchswert aufbauend, konstatiert Haug als ein weiteres wesentliches Element das der Zeitverschiebung: vom Tauschwertstandpunkt - also jenem des Verkäufers her - ist der Prozess abgeschlossen, wenn die Ware verkauft ist, für den Käufer beginnt die Realisierung des Zwecks aber erst damit.
Dieser Widerspruch ist für Haug "Ausgangspunkt einer Tendenz zur stetigen Veränderung der Warenkörper". Denn von nun an wird neben dem Gebrauchswert "zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes" produziert. Deshalb liegt ein "ökonomisch funktioneller Akzent" darauf, den Gebrauchswert in möglichst schönem Schein erstrahlen zu lassen. Das geht so weit, dass sich das "Ästhetische der Ware im weitesten Sinn", ihre sinnliche Erscheinung und der Sinn ihres Gebrauchswerts voneinander ablösen: der Schein wird für den Vollzug des Kaufakts wichtiger als das Sein (Haug 1971, S. 29).
Schein und Sein
Mag diese Erkenntnis 1971 noch recht revolutionär geklungen haben, so hat man sich heute, im postmodernen Hightech-Kapitalismus, daran gewöhnt, dass sich der Schein - also die Markenästhetik, die über das Logo vermittelte Aura des Konzerns - vom Sinn des Produkts, also seinem Gebrauchswert, abgelöst hat. Dass es sich hierbei um nichts grundlegend Neues, sondern lediglich eine Weiterentwicklung und Zuspitzung von Verhältnissen im Kapitalismus handelt, zeigt das folgende Zitat. Marx, aus dessen Frühwerk, den Pariser Manuskripten, paraphrasierend, schreibt Haug:
"Jedes Produkt der Warenproduktion ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld an sich locken will. Andrerseits ist jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis des sinnlichen Menschen eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird. Wo immer eine Not, ein Bedürfnis, da bietet ein Warenbesitzer unter dem liebenswürdigsten Schein seinen Liebesdienst an, um alsbald die Rechnung zu präsentieren."
Die Liebe zum Produkt
Der Verweis auf den "Liebesdienst" ist nicht rein zufällig. Denn, wie ebenfalls bereits Marx geschrieben hat, "die Ware liebt das Geld, dem sie mit ihrem Preis als Liebesaugen winkt". Die Liebesreize, schreibt Haug, gehören zu einer ganzen Gattung der starken Reize, die im Kapitalismus immer historisch dazu gedient haben, neue Märkte zu öffnen. In diesem Liebeswerben der Ware wirkt eine gewisse Reziprozität, erklärt Haug. Die Ware wirft Liebesblicke nach den Käufern, womit sie das werbende Verhalten der Käufer gegenüber deren menschlichen Liebesobjekten imitiert (Haug 1971, S 33).
Mit anderen Worten, es gibt eine gewisse Rückkopplung zwischen der Sinnlichkeit der Menschen und dem aus Verwertungsmotiven aufreizenden Gebrauchsgestalt der Ware. Die bewusste Gestaltung der Warenästhetik, darauf zielend, die menschliche Sinnlichkeit so geschickt nachzuahmen, so dass die Ware attraktiv wird, hat eine Rückwirkung auf die Konsumenten. Diese lernen nämlich wiederum von der Warenwelt, wessen es bedarf, um selbst attraktiv zu sein. Das Gebrauchswertversprechen der Ware erhöht sich umso mehr, als es dem oder der Käuferin eine Bereicherung der Persönlichkeit verspricht. Diese Rückwirkung auf die Person nennt Haug "Modellierung der Sinnlichkeit", den gesamten Komplex, als Herrschaftsmodell verstanden, "Technokratie der Sinnlichkeit". "Starker ästhetischer Reiz, Tauschwert und Libido hängen aneinander wie die Leute in der Geschichte von der goldenen Gans" (ebenda).
Software als Fetisch
Wie lassen sich diese Vorbemerkungen nun auf die Sozialen Netzwerke anwenden? Es liegt nahe zu sagen, dass die Sozialen Netzwerke die neueste und höchstentwickelte Form des Warenfetischismus sind. Da der spekulative Wert von Facebook, obwohl oder gerade weil es noch nicht an die Börse gegangen ist, sich in astronomische Höhen bewegt, und da es auch Einnahmen von gar nicht so insignifikanter Größe gibt - auf 500 Millionen US-Dollar Umsatz hofft die Firma für dieses Jahr, was einer Steigerung von 70 Prozent gleichkäme - kann man auf jeden Fall sagen, dass auch hier eine Akkumulation von Kapital stattfindet.
Diese - tatsächliche, erhoffte oder in die Zukunft projizierte Akkumulation von Kapital - basiert jedoch nicht auf dem Handel mit konventionellen Gütern wie im Kapitalismus 1.0, sondern auf einer postmodernen, spekulativen "Ökonomie der Aufmerksamkeit" (Michael Goldhaber). Wie schon im Web-Boom der neunziger Jahre geht es darum, wie es US-Fachblätter so schön ausdrücken, "to monetize the users", also die Nutzer in Geld zu verwandeln. Praktischerweise - für das Kapital - ist es gar nicht mehr nötig, den Gebrauchswert, also beispielsweise Inhalte, selbst zu erzeugen, da das von den Usern gemacht wird.
Klebrige Websites
Der "Inhalt", wenn man überhaupt noch so sagen kann - und nirgendwo tritt das in einer reineren Form in Erscheinung als bei Facebook - ist die Kommunikation der User. Alles, was das unternehmerische Kapital hierzu bereitstellt, ist die Plattform. Das Erfolgskriterium, frei nach Marx, ist dass ihnen die größte Zahl von Fliegen auf den Leim geht. Ironischerweise gibt es dazu ein weiteres Kriterium, das man im Silicon-Valley-Jargon der Neunziger bereits "stickyness" nannte, also "Klebrigkeit": sie sollen nicht nur kommen, die Nutzer, sondern auch möglichst lange hängen bleiben.
Dafür haben sich die Erfinder von Facebook und ihre Partner zahlreiche kleine Anwendungen und Features einfallen lassen, die User anziehen, zum Verweilen einladen, oder gar süchtig machen sollen: ob man nun einen Vampirkuss bekommt oder eine virtuelle Blume als Geschenk, ob man eingeladen wird, einer Gruppe beizutreten oder jemandes "Fan" zu sein, immer werden dazu gleich auch E-Mails verschickt, welche die Inbox auffüllen, und sehnsüchtig einer Antwort harren. Denn das besonders Perfide daran ist, dass die meisten dieser neckischen Reize von Leuten ausgesandt werden, die wir tatsächlich kennen. Es liegt im Wesen der zwischenmenschlichen Kommunikation, dass eine gewisse Wechselseitigkeit erwartet wird. Wer nicht zurückgibt, wird verdächtigt, "sauer" oder "irgendwie komisch" zu sein.
Modellierung der Zwischenmenschlichkeit
In Anlehnung an Haug ließe sich sagen, dass die Modellierung der Sinnlichkeit hier zugleich eine Modellierung der Zwischenmenschlichkeit beinhaltet. Das Gebrauchswertversprechen, das von Facebook ausgesandt wird, ist unser Wert als soziale Wesen, der sich zum Beispiel daran misst, wie viele Freunde wir haben, wie viele Interaktionen wir eingehen, von welcher Qualität diese sind, usw. Die Weiterentwicklung von Facebook und Co. gegenüber dem konventionellen Warenkapitalismus ist also die, dass uns nicht mehr die Ware als Fetisch gegenübertritt, welcher die sie hervorbringenden sozialen Beziehungen verschleiert, sondern dass die sozialen Beziehungen selbst zum Fetisch geworden sind, ohne den Umweg über eine Ware.
Der Warencharakter der sozialen Kommunikation ist also, was hier verschleiert wird. Dieses zuvor so ungreifbare Ding, das Zwischenmenschliche, wird in den Sozialen Netzwerken "produziert". Facebook-Usern wird ein idealisiertes soziales Wesen vorgespielt, das sich beständig in glücklichen sozialen Interaktionen wähnt, und zu dem sie selbst werden können, indem sie sich beteiligen. Die Fetischisierung der Ware Kommunikation konnte nur deshalb so weit kommen, weil zuvor der Kapitalismus alle echten sozialen Beziehungen zerstört hat. Über den langen Prozess der Vertreibung der Kleinbauern vom Land durch die Einfriedung der Commons (Gemeindeweiden) und die Schaffung eines urbanen Proletariats, bis hin zur Desintegration der Arbeiterklasse seit den 1960er Jahren wurden die verschiedensten Formen der sozialen Kohäsion, ob auf der Ebene der organischen Communitys oder auf jener der sich selbst als solche wahrnehmenden Klassen, zerstört.
Monetarisierung der Beziehungen
Der moderne Mensch ist sprichwörtlich der oder die Einsame in der Masse. Damit haben sich die Möglichkeiten bewussten solidarischen Handelns massiv eingeschränkt. Nachdem die Gemeinschaft zerstört und somit ein künstlicher Mangel geschaffen wurde, kann uns nun genau dieser Mangel wieder als Produkt verkauft werden, als "Soziales Netzwerk", oder wie man im angloamerikanischen Raum immer häufiger sagt - denn Netzwerk mag manchen zu geheimnisvoll und bedrohlich klingen - als "Social Media". Da wir bereits gelernt haben, uns selbst, oder zumindest einen großen Teil unserer Lebenszeit als Arbeitskräfte auf dem Markt zu verkaufen, sind wir es schon gewohnt, als Dinge neben uns selbst zu treten.
Nun werden jene Aspekte von uns selbst, die bisher noch nicht verdinglicht waren, als Social Media, und zwar von uns selbst und das auch noch freiwillig, zu Markte getragen. Was Walter Benjamin über die Ästhetisierung des Krieges schrieb, dass diese es uns nämlich erlaube, unsere eigene Vernichtung als Spektakel zu genießen, wird hier auf die Kommunikation angewandt. Die sozialen Medien erlauben es uns, die Auslöschung authentischer sozialer Beziehungen als unterhaltsames Spektakel zu konsumieren.
Medien der Machtlosigkeit
Das Training dazu erfolgte durch das ehemalige Leitmedium Fernsehen, das uns die Verdinglichung der sozialen Verhältnisse permanent vor Augen geführt hat: als Massenmedium von einem Sender zu vielen Empfängern sprechend, wurde der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern, zwischen Produzenten und Konsumenten schon in der Kommunikationsstruktur des Mediums selbst verankert.
Die sozialen Medien spiegeln nun eine falsche Aufhebung dieses (Ohn-)Machtverhältnisses vor. Indem sie angeblich Partizipation ermöglichen, also sozial gleichberechtigte und auch technisch symmetrische Kommunikationen, wird der Eindruck erweckt, dass die formale Ungleichheit, die in der Einwegkommunikation des Fernsehens besteht, beseitigt wurde. Das mag zwar vordergründig stimmen, doch wird die Ungleichheit auf einer fundamentaleren Ebene wiedererrichtet.
Die Plattform ist der Chef
Die vorgebliche "Befreiung" aus der Ödnis der medialen Einwegkommunikation wird zugleich wieder als neue Ungleichheit auf der Ebene von Nutzern/Usern und Produzenten/Hosts der Plattform eingeführt. Die immaterielle und affektive Arbeit der Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Medien wird zum Profit der Investoren verwandelt. Der Fetischcharakter der Ware Kommunikation wird damit, im Vergleich zum Fernsehen, nicht beseitigt, sondern auf eine neue Stufe gehoben. Eine Analyse, die hier aus Platzgründen nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet werden kann, würde danach fragen, ob die Scheinhaftigkeit der Partizipation mit der Scheinhaftigkeit demokratischer Repräsentation korrespondiert.
Dem Gesagten könnten nun verschiedene Argumente entgegengehalten werden. So zum Beispiel, dass menschliche Kommunikation seit langem schon medial vermittelt abläuft, wie zum Beispiel über das Telefonsystem. Doch das Telefonnetz hat - vor dem Siegeszug des Mobiltelefons, muss hinzugefügt werden - zu keiner ähnlichen Fetischisierung des Kommunikationsmediums geführt, wie das bei Sozialen Netzwerken der Fall ist. Auch könnte jemand einwerfen, dass das Internet in den Zeiten der New Economy bereits schwer fetischisiert wurde, dass die Sozialen Netzwerke somit "nichts Neues" wären. Dem ist erstens entgegenzuhalten, dass der Fetischcharakter der Ware Kommunikation tatsächlich nichts grundsätzlich Neues ist, dass es sich aber um eine Zuspitzung auf einer neuen Ebene handelt.
Es gibt kein falsches Netzwerken im Echten
Das Netz - und nicht bloß das Web - also E-Mail, Mailinglisten, FTP-Server, private Homepages, Newsgroups und Web-Foren ermöglichten symmetrische und reziproke Formen der Kommunikation in offenen, dezentralen Systemen. Auch in diesen vernetzten Kommunikationen gab es bereits Macht- und Schwerpunktzentren, besonders attraktive - klebrige, süchtig machende - Sites, von mächtigen "Kapitalinteressen" betriebene Sites wie das frühe Yahoo, Netscape und Altavista, doch der Warencharakter der Kommunikation hatte sich hier noch nicht völlig durchsetzen können, war mehr Wunschdenken der Risikokapitalisten als Wirklichkeit gewesen.
So wurde zwar das Internet in der Phase seiner Privatisierung fetischisiert, doch diese Blase ist geplatzt, musste platzen, da die dezentrale Kommunikation der User, verteilt auf viele Plattformen und Anwendungen, sich nicht monetarisieren ließ. Der Warencharakter der zwischenmenschlichen Kommunikation konnte sich erst voll entwickeln, indem durch die sozialen Medien eine neue Einfriedung vorgenommen wurde, indem sich diese Medien vom Internet abkapselten und durch das Gebrauchswertversprechen des erfüllten Sozialdaseins - mit ihren Liebesblicken - Millionen Menschen (250 Millionen sind es derzeit angeblich bei Facebook allein) auf den Leim gehen ließen.
Beispiel Facebook
Es soll hier als Zwischenbemerkung eingefügt werden, dass der Autor weder eine besondere Vorliebe für noch Antipathie gegen Facebook hat. Es geht hier auch nicht darum, moralische Urteile zu fällen, sondern um eine rein wissenschaftliche Abhandlung über den Warenfetischismus in Bezug auf Soziale Netzwerke. In dieser Hinsicht eignet sich Facebook deshalb als bestes Beispiel, weil es kein weiteres Gebrauchswertversprechen als den, Sozietät herzustellen, transportiert. Bei MySpace gibt es Musik, bei YouTube Videos, bei Facebook gibt es vor allem und in erster Linie "uns".
Das soll auch nicht heißen - und hier endet die Zwischenbemerkung bereits wieder - dass über Facebook keine sinnvollen Kollaborationen hergestellt werden können. Dieses "Medium im Medium" kann tatsächlich praktisch sein, um eine Demonstration zu organisieren oder eine Konferenz zu bewerben, oder eine Party, oder ein Produkt. Diese Offenheit von Facebook, die bisher, so weit bekannt ist, davon abgesehen haben, gegen Nutzergruppen zu diskriminieren, ob Individuen, Firmen, Verwaltungen oder Nichtregierungsorganisationen, ist auch seine Stärke, weil es damit das Kriterium Nummer eins am besten erfüllen kann, die maximale Nutzerzahl an sich zu binden. Insofern macht es Facebook auch gar nichts aus, wenn sich User, um das System zu "unterwandern", mit falschen Namen oder mehrfach registrieren: Hauptsache, sie registrieren sich.
Rein spekulative Werte
Hinter dieser quantitativen Nutzermaximierung - es sei erinnert, Nutzerzahl = spekulativer Geldwert der Plattform - verbirgt sich eine qualitative Maximierung. Plattformen wie Facebook betreiben Relationship Mapping und soziale Clusteranalyse. Mittels ausgetüftelter mathematischer Verfahren werden die Beziehungen zwischen Useragents erfasst, als Graphen abgebildet und diese miteinander verglichen. Resultat dessen ist nicht nur, dass den Nutzern "neue Freunde" vorgeschlagen werden können, was an sich nicht "böse" ist und häufig erstaunlich gut funktioniert, sondern, erstens, eine unglaubliche Konzentration von Wissen und Macht in einer Hand; zweitens ein neues Stadium der Entfremdung und Verdinglichung, das damit eingeleitet wird; und drittens eine neue Phase der Akkumulation, der Umwandlung von sozialem in reales Kapital.
Soziale Auswahl
Facebook, bekannt dafür, eine sehr geheimniskrämerische Firma zu sein, werden personelle Verknüpfungen zu Geheimdiensten nachgesagt. Problematisch daran ist nicht nur der "Verlust der Privatsphäre", sondern die Perfektionierung dessen, was David Lyon als "social sorting" (soziale Auswahl) bezeichnet. Die soziale Netzwerkanalyse, die mittels einer Datensammlung wie der von Facebook betrieben werden kann, ermöglicht mit militärischer Präzision festzustellen, wer mit wem in Verbindung steht und wer welche Interessensgebiete hat.
Dieses Wissen hat ein Missbrauchspotenzial, das schon kaum mehr in Worte zu fassen ist und einen eigenen Artikel verlangen würde. Aber nur so viel: von der Auskundschaftung und Vernichtung oppositioneller Gruppen, wie sie via Facebook angeblich bereits geschehen ist, bis hin zu personengenauen Analysen, die für Marketing, Wahlwerbung, Job-Recruitment (oder dessen Gegenteil) herangezogen werden können, ermöglicht dieses Wissen die Steuerung sozialer Prozesse und Ausführung diverser Kontrollfunktionen in Mikro- und Makrobereichen des gesellschaftlichen Lebens.
Der Mensch als Gegenstand
Der zweite Punkt ist mit diesem ersten verknüpft. Indem wir uns in diesen Netzwerken tummeln, einander Freundschaftsdienste erweisen, auf Angebote zur reziproken Kommunikation antworten oder mit Liebesaugen nach neuen PartnerInnen schielen, sondern wir, ohne es zu wollen oder maßgeblich beeinflussen zu können, Teile von uns selbst ab, Teile, die durch die unermüdlichen Software-Agenten zu digitalen Repräsentationen von uns und unseren Beziehungen zusammengesetzt werden.
Die Verdinglichung ist hier also nicht bloß eine Metapher, sondern findet real statt. Diese verdinglichten Software-Produkte lösen sich potenziell von uns selbst ab wie die Schatten in Haruki Murakamis Roman Hardboiled Wonderland. Es soll dabei niemand im Ungewissen gelassen werden, dass sie selbst es wären, die, im Normalfall, von irgendeiner Bedeutung sind. Die Kommunikationen der einzelnen User, ihr wahres Sein als real existierende Menschen, ihre sprachlichen Äußerungen und Meinungen, das alles ist hier so egal wie das einzelne Molekül in der Brown'schen Bewegung.
Fiktives Kapital
Es ist ein rein statistisches Phänomen, das den "herrschenden Klassen", um es altmodisch auszudrücken, nichts bedeutet. Sie trachten zunächst nur nach der Realisierung des Tauschwerts des sozialen Kapitals. Die sozialen Graphen - also die digitalen Repräsentationen unseres sozialen Verhaltens - sind "soziales Kapital", das so lange fiktiv bleibt, bis es schließlich über den Verkauf der Plattform als reales Kapital verwirklicht wird. Das spekulative, fiktive Kapital - ob Facebook nun 6,5 Milliarden oder doch 15 Milliarden Wert ist - stellt auch eine Aussage der Gesellschaft darüber dar, welchen Dingen sie Wert beimisst.
Die Milliarden, die hier "sinnvoll' investiert erscheinen - in die Verdinglichung der sozialen Beziehungen der "Reichen" - werden eben nicht in Aids- und Hungerbekämpfung investiert. Was, abgesehen davon, aus der Macht- oder Herrschaftsperpektive zählt, ist potenziell die Zugriffsmöglichkeit auf und Adressierbarkeit des Einzelnen über sein Soziales Netzwerk im Ausnahmefall, beispielsweise im Wirtschaftskrieg, im Protest, in der Revolte, also immer dann, wenn wir auffällig werden und aus der Schafsherde ausbrechen, um tatsächlich, kollektiv, ökonomisch oder politisch aktiv zu werden.
Masse der Individuen
Diese reale Verdinglichung der sozialen Beziehungen über den algorithmisch erstellten sozialen Graphen steht, um an das Modell der Technokratie der Sinnlichkeit von weiter oben anzuknüpfen, in einem seltsamen Verhältnis zum "sozialen" Aspekt dieser "Medien". Die fortwährende Adressierung des "sozialen" Elements drückt sich in Namensgebungen aus, die "uns" in den Mittelpunkt stellen: ob MySpace, iPod oder YouTube, es wird immer so getan, als würden wir, das Individuum, der oder die Einzelne, im Mittelpunkt stehen.
Das tun wir gewissermaßen tatsächlich. Wir stehen nämlich im Mittelpunkt der genauesten forensischen Datenanalysen, in Echtzeit selbstverständlich, welche sich die besten Eggheads der Topuniversitäten ausgedacht haben, der hochentwickeltsten chaos-, komplexitäts- und systemtheoretischen Analyseinstrumente, zu denen sich der Informationskapitalismus aufschwingen konnte. Es ist, als hätte man tausend Laserkanonen ständig auf uns gerichtet.
Leben in der iSociety
Das korrespondiert auf merkwürdige Art damit, dass sich niemand mehr als einer Klasse zugehörig definiert. Einer kürzlich erhobenen Umfrage zufolge glauben 90 Prozent der Amerikaner, keiner besonderen Klasse anzugehören. Indem uns erfolgreich eingeredet wurde, Teil einer iSociety oder MySociety zu sein, einer Nicht-Gesellschaft von selbstzentrierten Glückssuchenden und Zweckrationalisierern, haben wir als soziale Wesen kapituliert. Die Suggestion der Individualität korrespondiert direkt mit der Simulation des sozialen Seins im Sozialen Netzwerk. Indem die Sozialen Netzwerke zum Fetisch werden, stellen sie den ästhetischen Schein der Kommunikation über deren ethischen Inhalt.
Als "Teilnehmer" in Sozialen Netzwerken entledigen wir uns eines der wertvollsten Güter, das direkt aus unserem Menschsein erwächst, der Möglichkeit zur Freundschaft und der daraus erwachsenden Großzügigkeit, die über Kosten-Nutzen-Kalkulationen hinausgeht, der Möglichkeit zum solidarischen Handeln im kleinen und größeren Kreis, der freien Assoziation zwischen Fremden auf der Basis gemeinsamer ethischer Werte und vieler anderer Optionen mehr.
Wohin das Geld geht
Es soll nun nicht so getan werden, als ob es darum ginge einen authentischen Urzustand vor den "bösen" Sozialen Netzwerken zu retten. Diesen Urzustand gab es, wie oben angemerkt, ohnehin schon lange nicht mehr - ganz abgesehen davon, dass wohl kaum noch jemand im Urzustand der festen Clan- und Sippenbindungen leben möchte. Es wäre auch falsch zu sagen, dass es sich hier um etwas ganz Neues handelt. Diese Tendenz zur Verdinglichung des Sozialen ist schon mindestens so alt wie der Kapitalismus. Es muss also dazugesagt werden, dass diese theoretische Analyse, wie jede andere, vorhandene Tendenzen aufgreifen und zuspitzen muss, um Aussagen treffen zu können.
Es kann auch von kurzfristigem taktischem Vorteil sein, Facebook oder ein anderes "soziales Medium" zu benutzen, und es kann sogar "Spaß" machen. Doch es muss klar sein, dass das einen Preis hat, dass wir damit unser soziales Sein wie eine Schicht von uns abstreifen und hergeben, es, für nichts quasi, dem Kapital überreichen, so dass es dann seine Gewinn bringenden Spiele treiben kann, über die wir dann wiederum mit Staunen in der Zeitung lesen, obwohl es doch unser eigener sozialer Mehrwert ist, den wir hier abgestreift haben und der uns plötzlich als sagenhafter Mehrwert von 15 Milliarden gegenübertritt.
Die Zentrale
Ebenso kann jemand kommen und sagen, dass doch niemand gezwungen ist, Facebook zu benutzen. Auf diesen sehr leicht zu machenden Einwand gibt es nur eine Antwort: genau, richtig! Das andere Internet gibt es nach wie vor, mit seiner Netzwerkschicht auf der Basis von TCP/IP, das eine offene Many-to-many-Kommunikation erlaubt, die Bildung von symmetrischen und dezentralen Netzwerken, die schwer zu kontrollieren sind und wo es wenig priveligierte Hubs für Abhör- und Kontrollmaßnahmen gibt; die Anwendungsschicht mit E-Mail, FTP, Usenet, HTTP und vielen anderen mehr, alles Systeme auf Basis offener Standards, die es ermöglichen, zu kommunizieren, Dateien auszutauschen und eigene Websites zu bauen; und, falls es jemand etwas komplexer will, Open-Source-Baukastensysteme wie etwa Drupal, um nur eines zu nennen, mit denen dynamische Anwendungen im Web gebaut werden können.
All das existiert, wird auch genutzt, nur schreibt kaum jemand darüber, wohl weil es, wie sich bereits gezeigt hat, schwer zu monetarisieren ist. Kein Geld, kein Fetisch. Das allein sind schon zwei gute Gründe, dann doch lieber diese freien Dinge zu nutzen als die ummauerten Gärten der Sozialen Netzwerke.
(Armin Medosch)