ICANN: Machtkampf um die Nutzervertretung
Die Internet-Adressverwaltung ICANN will der für generische Domain-Namen zuständigen Unterorganisation GNSO eine neue Struktur geben. Vertreter der nichtkommerziellen Nutzerschaft sehen sich durch die neuen Regeln beträchtlich benachteiligt und fordern mehr Demokratie und Transparenz.
In der Internet-Adressverwaltung ICANN gibt es neuen Streit zwischen der Zentrale im kalifornischen Marina del Rey und nichtkommerziellen Interessenvertretern. Grund dafür ist, dass die ICANN die Struktur der Generic Names Supporting Organization GNSO reformieren will. Der Prozess dafür ist bereits seit 2007 in Gang. Die GNSO ist eine Unterorganisation der ICANN. Sie legt die Regeln für generische Top-Level-Domains wie .info und .mobi fest und wird im Zuge der geplanten radikalen Öffnung des gTLD-Namensraums beispielsweise für Städtedomains wie .berlin und .wien an Relevanz zunehmen.
Neuordnung der GNSO
Unter anderem soll bei der Neuordnung das Führungsgremium der GNSO in vier Interessenvertretungen aufgegliedert werden: eine für die Registrare, eine für die Registrys sowie je eine für die kommerziellen und die nichtkommerziellen Nutzer. Unter kommerziellen Nutzern (Commercial Stakeholders Group, CSG) versteht die ICANN sowohl Vertreter der Internet-Service-Provider (ISPs) als auch solche großer Firmen, aber auch der "Intellectual Property Interests". Unter nichtkommerziellen Usern, versammelt in der Noncommercial Stakeholders Group (NCSG), versteht die ICANN Vertreter nichtkommerzieller ISPs, gemeinnütziger Stiftungen und Universitäten.
Auf dem 35. ICANN-Treffen, das vom 21. bis 26. Juni in Sydney stattfand, präsentierte das ICANN-Management die Vorschläge für die provisorischen Statuten der CSG und der NCSG. Diese sollen nach Inkrafttreten für zwei Jahre gelten. Seither hagelt es Proteste seitens der nichtkommerziellen Interessengruppen im zuständigen ICANN-Forum. Sie werfen den Mitarbeitern der ICANN vor, die Ergebnisse eines langen Diskussionsprozesses ignoriert und unilateral schädliche Bestimmungen in die Statuten eingefügt zu haben, die die nichtkommerziellen Interessen gegenüber jenen der Business-Community schwächen würden. Die Frist für die Abgabe von Stellungnahmen zu den neuen Statuten ging am 29. Juli zu Ende.
Vetorecht und Machtfrage
Die ehemalige EFF-Juristin Robin Gross, Gründerin der Online-Bürgerrechtsgruppe IP Justice und Mitglied in der Noncommercial Users Constituency (NCUC) der GNSO, formulierte eine scharfe Kritik am Vorgehen der ICANN. "Der gegenwärtige Entwurf der ICANN für die NCSG-Statuten spiegelt nicht den Konsens wider, den 86 nichtkommerzielle Nutzergruppen bereits erarbeitet haben", so Gross. Die ICANN habe den Vorschlag der nichtkommerziellen Interessenvertreter einfach verworfen und einen neuen Vorschlag für die Statuten vorgelegt. Dieser würde die Vertretung der nichtkommerziellen User gegenüber ihrem Gegenpart aus der Internet-Wirtschaft in mehrerer Hinsicht benachteiligen.
Anders als die anderen drei Nutzervertretungen in der GNSO sollen die nichtkommerziellen Vertreter nämlich Entscheidungen des ICANN-Vorstands nicht durch ein Veto beeinspruchen können. Weiterhin habe die ICANN-Leitung in ihrem Vorschlag für die Statuten vorgesehen, die nichtkommerziellen Vertreter in kleinere Interessenvertretungen aufzuteilen. Das, so Gross, würde ihre Schlagkraft entscheidend schwächen, weswegen sich die nichtkommerziellen Vertreter in ihrem Entwurf für die Statuten dagegen entschieden hätten. Die ICANN behandle die nichtkommerziellen Nutzer wie "Bürger zweiter Klasse". Gross fordert die Internet-Adressverwaltung auf, ihren Vorschlag für die Statuten zurückzuziehen und durch den bereits vorliegenden Entwurf der Community zu ersetzen.
Außerdem stellt Gross die Machtfrage: "Wenn die nichtkommerziellen User ein Veto gegen die Entscheidungen des Vorstands einlegen können - wer leitet dann die ICANN?"
"Wie in China"
Der chinesische Blogger, Dissident und Internet-Experte Isaac Mao, der an der Universität Harvard arbeitet und seit kurzem Mitglied der NCUC ist, fühlt sich gar an die politischen Zustände in der Volksrepublik China erinnert. "Ich will nicht, dass die ICANN ein Zensor wie die chinesische Regierung wird", schreibt Mao. Wenn sich die ICANN nicht an basisdemokratische und transparente Prozesse halte und stattdessen eine kleine Expertengruppe regieren lasse, kämen am Ende Verhältnisse wie in China heraus, wo die Regierung ebenfalls vorgebe, zum Wohle aller zu handeln.
Mao wünscht sich mehr Zusammenarbeit zwischen ICANN-Zentrale und nichtkommerziellen Nutzervertretern. Es sei auch "höchste Zeit", die Interessen der Bürgerrechtler und nichtkommerziellen User zu bündeln. Tatsächlich behält sich der ICANN-Vorstand in Artikel sechs des aktuellen Entwurfs der NCSG-Übergangsstatuten vor, unilateral Änderungen an dem Dokument vornehmen zu können, wenn er glaubt, dass dadurch mehr Transparenz geschaffen wird oder "erstrebenswerter Nutzen" für die Community der Interessensvertreter in der ICANN entstünde.
Kampf der Insider
Weniger dramatisch sieht Cheryl Langdon-Orr die Situation. Sie ist Vertreterin des At-Large Advisory Committee (ALAC), der ICANN-Nutzervertretung, einem Überbleibsel der ersten internationalen User-Wahl für Sitze im Vorstand der Internet-Adressverwaltung. Sie sieht bereits im öffentlichen Diskussionsprozess über die neuen Statuten einen Fortschritt und erkennt darin die gute Absicht des ICANN-Vorstands, besser mit der Nutzergemeinde in Kontakt zu kommen. Generell biete der neue Vorschlag für die Statuten die Chance auf einen frischen Neuanfang. Langdon-Orr fing sich darob prompt Kritik von Milton L. Mueller ein. Der Internet-Governance-Experte warf Langdon-Orr vor, ihre persönlichen Beziehungen zum ICANN-Personal zu nutzen. Der weitere Kreis der Community hätte aber nicht die Möglichkeit, persönlich mit der ICANN-Leitung zu verhandeln.
Anfragen seitens ORF.at bei der ICANN zu den Vorwürfen und zum weiteren Vorgehen der Organisation wurden nicht beantwortet.
Unsichere Zukunft
Die Debatten über die Struktur der ICANN und ihrer Unterorganisationen mögen akademisch und gar esoterisch erscheinen. Letztlich geht es aber um das Mitspracherecht der nichtkommerziellen Nutzer dabei, wie die Zukunft des Netzes aussehen wird. Die ICANN selbst will sich derzeit mehr Spielraum verschaffen und nach Jahren unter der Ägide des US-Handelsministeriums auf eigenen Beinen stehen. Dazu muss sie nachweisen, dass sie sich selbst transparente Regeln geben und verantwortungsvoll handeln kann. Vom 25. bis 30. Oktober gastiert die ICANN in Seoul. Es ist das erste Treffen der Organisation nach dem 30. September 2009. An diesem Datum läuft das Abkommen (Memorandum of Understanding/Joint Project Agreement) der ICANN mit dem US-Handelsministerium aus.
Auf einer Anhörung vor dem US-Repräsentantenhaus Anfang Juni sprachen sich Vertreter von US-Registraren und -Providern explizit dagegen aus, die ICANN aus der Aufsicht des Ministeriums zu entlassen. Die Organisation sei zu intransparent, der Prozess zur Einführung neuer gTLDs sei schlecht gemanagt. Während die US-Industrie ihren Einfluss halten will, hat EU-Medienkommissarin Viviane Reding im Juni deutlich gemacht, dass EU und Regierungen mehr Einfluss auf die Internet-Adressverwaltung haben wollen. Der erst im Juni ernannte neue ICANN-CEO Rod Beckstrom hat interessante Wochen vor sich.
(futurezone/Günter Hack)