© Dax Tran-Caffee, Reality Game

Reality-Game: Flucht vor dem Computer

SPIELE
05.08.2009

In den USA locken Games mit schlauen Rätseln und digitalen Hinweisen Jugendliche von der Tastatur weg. Im Umfeld des Hacker-Labors Metalab entstand die Idee, auch in Wien ein solches Alternate-Reality-Game zu veranstalten. Im Gespräch mit ORF.at weihen die Organisatoren Markus Hametner und Lukas Fittl in das Spielkonzept ihrer "Jagd bis zum Ende der Nacht" ein.

Spätestens seit der Cyberpunk-Welle der 1980er Jahre gehört das Konzept der virtuellen Realität zur Folklore der Hacker-Kultur. In jüngerer Zeit gibt es dort aber auch den Trend, alternative Welten nicht nur im Computer oder bei Rollenspielaktionen entstehen zu lassen, sondern sie direkt in die "reale Welt" zu übertragen.

Am Freitag findet ab 20.00 Uhr in Wien ein solches urbanes Spiel statt. Der Ausgangspunkt des "Street Games" liegt im Prater, die Teilnahme ist natürlich kostenlos. Eine Nacht lang sollen, so die Veranstalter, persönliche Beziehungen, Arbeit und gewöhnliche Freizeitinteressen vergessen werden. Das Konzept ist einfach: Die Mitspieler müssen, wie bei einer Schnitzeljagd, verschiedene Zwischenstationen in der Stadt erreichen, ohne von ihren Verfolgern erwischt zu werden. Wer sich fangen lässt, wird selbst zum Jäger.

Am Ende der Nacht gibt es eine Siegesfeier im Metalab, mit der gleichzeitig die dreitägige Hacker-Konferenz PlumberCon eingeleitet wird. Ab dem Morgengrauen geht es dort und in der Netzkulturstätte WerkzeugH um Themen wie Technologie, Kunst, Verschlüsselung, Hardware und Musik.

Markus Hametner (l.) und Lukas Fittl (r.) sind Unternehmer und Software-Entwickler aus Wien. Sie arbeiten mit Partnern zusammen an Social Software und sind häufig in der Wiener Hacker-Schmiede Metalab anzutreffen. Fittl hat den Tumblelog-Dienst Soup.io und Hametner den Bestellservice Mjam.at mitgegründet.

ORF.at: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Spiel im urbanen Raum zu veranstalten?

Hametner: Bekannte von Noisebridge, einem befreundeten Hacker-Space in San Francisco, haben mir von dem Spielkonzept erzählt. In Oakland fand zuletzt im Juni eine "Journey To The End Of The Night" statt. Ich habe die Erfahrungsberichte der Teilnehmer gelesen und mir gedacht, so etwas veranstalten wir in Wien auch.

Fittl: Im Wiener Hacker-Space Metalab findet man schnell weitere faszinierte Leute, die mithelfen und sich gegenseitig motivieren. Alleine könnte man das nicht organisieren, dafür ist dieser Treffpunkt für Technikbegeisterte und Kreative auch gedacht.

ORF.at: Was ist das Spielkonzept?

Hametner: Eine Mischung aus Schnitzeljagd und Fangen spielen. Man bekommt eine Karte mit fünf Checkpoints, also Stationen, die abgelaufen werden müssen. Wird man dabei von einem Jäger am Arm berührt und damit "gefangen", muss man die Seite wechseln und seine vorigen Freunde selbst verfolgen. In der Nähe eines Checkpoints ist man geschützt und kann sich kurz ausruhen. Der Lauf wird die halbe Nacht dauern und über eine Strecke von zehn Kilometern führen. Transportmittel wie Autos oder Fahrräder sind verboten, einzig erlaubt sind öffentliche Verkehrsmittel und die eigenen Füße.

ORF.at: Sie nennen das Spiel ein "Street Game". Was für eine Art Spiel ist das?

Hametner: Die beste deutschsprachige Beschreibung wäre Geländespiel, wobei es aber in der Stadt stattfindet. Es gibt in Wien viele versteckte Ecken. Jeder Teilnehmer wird mindestens einen Teil der Stadt entdecken, den er vorher noch nicht kannte. Alles findet in der Stadt statt, und doch ist es keine normale Alltagssituation. Alternate-Reality-Games erschaffen eine zweite Welt innerhalb unserer gewohnten Welt.

ORF.at: Der Begriff "Alternate Reality" steht für veränderte Realität. Wie wollen Sie die Stadt für die Mitspieler verändern?

Hametner: Es ist real, aber ungewohnt. Man beschreitet in seinem Leben selten neue Pfade und kennt die eigene Stadt wahrscheinlich weniger als solche, die man als Tourist besucht hat. Die Stationen im Spiel werden außerdem wie in einer Science-Fiction-Geschichte eher surreal wirken.

Fittl: Es ist ähnlich wie bei einem Flashmob. Die Spieler sind eingeweiht, andere denken sich wahrscheinlich: "Was ist da jetzt los?" Das Spiel findet in einer normalen Umgebung statt, in der plötzlich Leute vorbeilaufen, die von anderen verfolgt werden. Dabei muss niemand komplexe Charaktere einstudieren. Das ist der Unterschied zu herkömmlichen Rollenspielen. Die Teilnehmer sind einfach vor Ort und kennen das ungefähre Spielkonzept. Man braucht nur einige wenige Jäger, die das Spiel starten. Die sollten die Leute auseinandertreiben und ein bisschen furchteinflößend wirken.

ORF.at: Wie gewinnt man in einem solchen Spiel?

Fittl: Im Lauf des Spiels wird es immer schwieriger durchzukommen, weil es immer mehr Jäger gibt. Nur weil man erwischt wird, heißt das aber nicht, dass man verloren hat. Es verändert sich nur das Ziel des Spiels.

Hametner: Der beste Jäger bekommt auch einen Preis. Es gewinnen der erste Läufer in der Zielstation und der Jäger, der die meisten Leute "bekehrt" hat. Es wird auf beiden Seiten genug Spaß geben.

ORF.at: Wie viele Teilnehmer erwarten Sie?

Fittl: Mit weniger als 100 geben wir uns nicht zufrieden, 200 oder mehr wären optimal. Anmelden kann man sich über die Website oder auf Facebook. Das ist aber nicht verpflichtend, sondern soll uns nur beim Einteilen des Verhältnisses zwischen Spielern und Verfolgern helfen. Die genaue Lage der Checkpoints wird erst bei Spielstart bekanntgegeben. Eine dieser Stationen wird die Künstlergruppe monochrom gestalten. Die Ausgangsposition und der erste Treffpunkt des Spiels liegen im Prater bei der Hauptallee.

ORF.at: Gibt es eigentlich eine Hintergrundgeschichte zu dem Spiel, damit man sich besser in die alternative Realität einfühlen kann?

Fittl: Dieses Mal bieten unsere Checkpoints kein eigenes Programm, da könnte man noch viel ergänzen. Das ginge auch in Richtung Rollenspiel, aber man soll sich nicht erst in eine Geschichte einlesen müssen. Es ist eben nicht einfach, eine Story in 140 Zeichen oder innerhalb weniger Minuten verständlich zu machen.

ORF.at: Die Idee zu dieser "Jagd bis zum Ende der Nacht" steht unter einer Creative-Commons-Lizenz und darf daher frei weiterentwickelt werden. Wer hat das Spiel erfunden?

Hametner: Eine Spielerplattform in San Francisco namens SFZero, oder eigentlich die Gruppe "Paragoogle" innerhalb dieser Community. SFZero ist eine nonkommerzielle Internet-Plattform, über die Alternate-Reality-Spiele in einem großen Rahmen organisiert werden. Man legt als Spieler einen Character an und kann auch selbst neue Aufgaben oder ganze Spiele erfinden. Interessierte Mitspieler können diesen Aufgaben dann nachgehen. Zum Beispiel 100 Fotos von komplett fremden Menschen zu machen, Unterschriften für erfundene Petitionen zu sammeln oder eben selbst Spiele zu organisieren. SFZero ist ein Metaspiel, innerhalb dessen Spiele ablaufen.

ORF.at: Diese Spiele haben auf den ersten Blick nicht viel mit Computern zu tun. Warum entsteht so etwas gerade in einem Hacker-Umfeld?

Hametner: Weil wir gerne Neues ausprobieren und neue Leute kennenlernen. Und natürlich, weil wir einmal abseits des PC etwas machen wollen. In der Realität etwas veranstalten, um nicht ein Computerspiel zu spielen oder den Tag in Facebook zu verbringen. Umgekehrter Eskapismus sozusagen, die Flucht vor dem Computer.

Fittl: Das Spiel ist ähnlich dem Konzept "etwas hacken", also etwas verändern und sich zu eigen machen. Es geht darum, dass man seine eigene Stadt entdeckt, mit der Realität und dem Raum, in dem man lebt, etwas Neues macht.

ORF.at: Ist die nächtliche Jagd das erste Spiel dieser Art in Wien?

Fittl: Es gibt sicher auch andere, die ähnliche Spiele organisieren. Wir wollen uns mit ihnen vernetzen und aufwendigere Projekte realisieren. Alleine schaffen wir das nicht. Wir arbeiten schließlich auch an anderen Dingen, die uns wichtig sind. Zum Beispiel an unseren Start-up-Unternehmen.

ORF.at: Könnten Sie sich vorstellen, das Game kommerziell zu veranstalten?

Hametner: Mit diesem Spiel würde das nicht gehen, weil es die Lizenz nicht erlaubt. Das Geschäftsfeld ist aber interessant, besonders wenn es dann auch um Augmented-Reality-Technik geht ("erweiterte Realität", etwa Navigationsanzeigen, die in die Windschutzscheibe von Autos eingebaut werden, und Wegweiser, die mit Handykameras die Umgebung erkennen, Anm.).

ORF.at: Wie könnte man Augmented-Reality-Ansätze in so ein Spiel integrieren?

Hametner: Bei einer Schnitzeljagd hat man das Problem, dass ein Spielgegenstand schlicht und einfach weg ist, wenn ihn jemand entfernt hat, der nicht zum Spiel gehört. Sobald es aber nur digitale Beweise braucht, dass man ihn virtuell in der Hand hatte, wird es einfacher. Mit Augmented Reality kann man Dinge aufbauen, die nur bestimmte Menschen sehen können. Die Teilnehmer könnten etwa einen RFID-Funkchip suchen, dessen wahre Form und Bedeutung nur mit einer Datenbrille oder einem Mobiltelefon erkennbar sind. Damit ist man viel weniger abhängig von der realen Welt, solange man aufpasst, dass man dabei nicht von einem Auto überfahren wird.

ORF.at: Eine genretypische Prämisse von Alternate-Reality-Games ist die Illusion "Das ist kein Spiel". Ist das hier auch der Fall? Hier wissen die Leute doch, dass sie ein Spiel spielen.

Fittl: Es ist zwar so definiert, aber man muss dieses Konzept nicht exakt übernehmen. In diesem Fall hat die Öffentlichkeit keine Ahnung, was passiert. Die Spieler interagieren zwar nicht mit Unbeteiligten, aber sie agieren im öffentlichen Raum.

ORF.at: Könnte man damit gesellschaftliche Ziele erreichen, die über das Spiel hinausgehen?

Fittl: Die Natur dieses Spiels eröffnet prinzipiell Möglichkeiten in diese Richtung. Eine breite Masse von Leuten, die sich nicht kennen, wird zu Gruppen zusammengewürfelt. Man läuft eine Straße entlang, vielleicht zu fünft in einer Gruppe, hat dabei ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Gegner. Das Wichtigste dabei ist aber, dass man den Raum, in dem man lebt, besser kennenlernt. Die meisten Leute nehmen ihre eigene Umgebung nicht wahr.

Hametner: Es wird für jeden Spieler ein sehr persönliches Erlebnis werden. Wir haben nicht die Möglichkeit, jeden Aspekt des Spiels zu kontrollieren. Jeder, der ein Band um seinen Arm trägt, gehört zu einem Team. Das schafft Gemeinsamkeit und zeigt zumindest, dass er mitspielt und sich durch die Stadt jagen lässt.

ORF.at: Die sichtbare Kennzeichnung durch farbige Bänder, hat das eine politische Aussage?

Fittl: Das Spiel soll keine politischen Assoziationen wecken. Es geht nicht darum, die Welt oder die Regierung zu verändern. Es geht mehr darum, persönlich für jeden einzelnen Menschen etwas zu verändern, durch Erlebnisse neue Perspektiven im Leben zu entdecken. Das hat nichts mit einer politischen Demonstration zu tun.

Hametner: Nicht beteiligte Menschen werden auf den Nachtlauf sicher mit Aussagen wie: "Erlaubt ist das sicher nicht" reagieren. Umso mehr geht es uns um die Erfahrungen der Spieler selbst, was sie dabei empfinden.

ORF.at: Wollen Sie in Zukunft öfters Spiele dieser Art organisieren?

Fittl: Wenn das Interesse am Spielkonzept groß ist, veranstalten wir es in ein paar Monaten noch einmal. Ich war immer an Spieleentwicklung und alternativen Welten interessiert. Dabei geht es mir um die Realität, nicht um theoretische Erfahrungen in einem Computerspiel.

Hametner: Im besten Fall finden sich jetzt bis zu 300 Personen, die mitmachen und Spaß dabei haben. Dabei bin ich kein verträumter Weltverbesserer, ich sehe es nur gerne, wenn Leute Spaß haben. Das nächste Spiel organisiert dann hoffentlich jemand anderer, damit ich selbst mitspielen kann.

(Richard Pyrker)