© Basex, Information-Overload-Warntafel

"Mit Informationsmüll zugeschüttet"

E-Mail-Flut
10.08.2009

Wer glaubt, dass "Surfen am Arbeitsplatz" die Produktivität gefährdet, liegt falsch. Das wahre Problem ist der E-Mail-Überfluss. Über der schönen neuen Kommunikationswelt waltet Ähnliches wie das "Gesetz der verminderten Erträge" in der Volkswirtschaft.

"Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale, die sich immer schneller dreht", so Jonathan B. Spira, Geschäftsführer der New Yorker Beratungsfirma Basex, im Gespräch mit ORF.at.

Alle Untersuchungen der auf "Information-Overload" spezialisierten Firma in großen US-Unternehmen wie Intel, Microsoft und IBM der vergangenen zehn Jahre hätten im Kern dieselben Resultate gezeitigt: "Wir werden mit Informationsmüll zugeschüttet. Ein Viertel des Arbeitstages geht dadurch inzwischen verloren, Tendenz steigend."

Hauptgrund dafür sind Unterbrechungen laufender Arbeitsprozesse durch elektronische Kommunikation irgendwelcher Art. Lege man diese Zahlen auf die Weltwirtschaft um, komme man auf einen Produktivitätsverlust von 900 Milliarden Dollar pro Jahr, so Spira.

Verlorene Prioritäten

Dieser Rückgang der Produktivität habe jedoch dezidiert nichts mit "Surfen am Arbeitsplatz" zu tun, sagt Spira, denn Arbeitspausen seien nun einmal heute nötiger denn je.

Bedenken sollte man vielmehr vor einer Situation haben, in der pausenlos gearbeitet werde und eine elektronische Kommunikation die nächste jage, denn da gehe unweigerlich das Wichtigste verloren. Gemeint ist die Fähigkeit, Prioritäten in der Kommunikation zu setzen und Arbeitsgänge ungestört zu Ende zu führen.

Konjunktur für Wichtigmacher

Gerade das werde in einer Zeit, in der immer neue elektronische Kommunikationsformen auftauchen, zunehmend schwieriger, meint Spira, "denn die Leute sind sehr kreativ im Erfinden neuer Methoden, andere in der Arbeit zu unterbrechen".

Diese Kultur des vermeintlichen Sofort-antworten-Müssens begünstige ganz eindeutig einen bestimmten Typus: den Wichtigmacher, der davon überzeugt ist, seine Arbeit sei wichtiger als die anderer, und sich deshalb herausnimmt, die Kollegen zu unterbrechen, wann immer er es für richtig hält.

Mythos Multitasking

Die vielbeschworene Fähigkeit zum "Multitasking" hält Spira für einen Mythos. Alle Erfahrungen hätten gezeigt, dass es eben nicht so einfach möglich sei, mehrere Aufgaben gleichzeitig effizient zu erledigen. Vielmehr führe unkoordiniertes Multitasking dazu, dass zwischen den einzelnen Arbeitsvorgängen hin- und hergehastet werde und im Endeffekt mehr Zeit bei schlechteren Resultaten aufgewendet werde.

Es sind die Unterbrechungen, die laufende Arbeitsvorgänge massiv beeinträchtigen, denn auch ganz kurze Störungen von gerade einmal einer halben Minute haben weitreichende Folgen. Für das Wiederauffinden des verlorenen roten Fadens werde oft das Zehn- bis 20-Fache an Zeit benötigt, eine halbminütige Unterbrechung führt so zum Verlust von fünf Arbeitsminuten.

Falscher Umgang mit E-Mail

Einen Hauptgrund sieht Spira dabei im falschen Umgang mit E-Mail. Hauptvorteil dieses Kommunikationsweges gegenüber einem Telefonat sei ja gerade die Asynchronizität von E-Mail. Während ein Telefonat in Echtzeit geführt werden muss, funktioniert das Medium E-Mail bekanntlich zeitversetzt.

Der Vorteil für den Rezipienten, vor der Antwort-Mail eigene, offene Arbeitsprozesse finalisieren zu können, aber wird in der Regel nicht genützt. Vielmehr wird versucht, so schnell wie möglich zu antworten, und zwar prinzipiell auf alle E-Mails, egal wie wichtig deren Inhalt ist.

Beim führenden Chipproduzenten Intel, wo E-Mails schon sehr früh eine zentrale Rolle in der Unternehmenskommunikation spielten, wurde man bereits 1995 auf das Problem aufmerksam. Damals begann sich Intel-Manager Nathan Zeldes mit dem Phänomen "Information-Overload" zu beschäftigen, die Folge waren drei Pilotprojekte wie etwa ein E-Mail-freier Tag für eine ganze Abteilung.

Online-Symposium

Das Online-Symposium zum "Information Overload Awareness Day" startet am Mittwoch um 17.00 Uhr MESZ. Die Keynote hält Ex-Intel-Manager Nathan Zeldes, weitere Referenten kommen etwa aus dem Management von Xerox, Dow Jones und Microsoft. Wer während der Konferenz nachweislich auf "Multitasking" verzichtet, erhält 50 Prozent der Konferenzgebühr von 50 Dollar rückerstattet.

Für die Leser von futurezone.ORF.at hat Jonathan B. Spira, ein in New York geborener Österreicher, einen Gratisaccount eingerichtet. Wer "FuturezoneGast" (ohne Anführungszeichen) eingibt, kann das Event kostenlos mitverfolgen.

Keine Patentrezepte

Die neueste, noch unveröffentliche Basex-Studie über Intels Kampf gegen die Informationsflut zeigt, dass es gegen dieses Phänomen kein Patentrezept gibt.

Weder der E-Mail-freie Tag noch die vom Management ausgegebene Devise, die Standardantwortzeit für E-Mails mit 24 Stunden festzusetzen, brachten nennenswerte, dauerhafte Änderungen im Verhalten.

Fast 70 Prozent der Techniker und mehr als die Hälfte der Manager öffneten und lasen auch weiterhin jede E-Mail sofort nach deren Eintreffen. Der E-Mail-freie Tag wurde vielfach genutzt, um E-Mails zu schreiben, die dann zeitversetzt abgeschickt wurden. Bei einem vergleichbaren Pilotprojekt im Nestle-Konzern 2001 hatte der E-Mail-freie Freitag zur Folge gehabt, dass sich das Mail-Aufkommen am folgenden Montag verdoppelte.

Ein Tag ohne E-Mail

Während 20 bis 30 Prozent der Intel-Techniker einem Tag ohne E-Mail in der Praxis etwas abgewinnen konnten, fühlte sich das Management stark beeinträchtigt, zumal Manager weitaus seltener an ihrem Arbeitsplatz anzutreffen und somit noch viel stärker auf E-Mails angewiesen sind als Techniker.

Einzig das Programm "Quiet Time" - ein ungestörter Vormittag pro Woche - zeitigte positive Effekte und wurde deshalb verlängert. 70 Prozent sowohl der beteiligten Techniker wie der Manager sprachen sich dafür aus, dieses Pilotprojekt nicht nur fortzuführen, sondern auch auf andere Abteilungen auszuweiten.

Störungen alle zehn Minuten

Statistisch gesehen können "Wissensarbeiter" in einem großen Konzern gerade einmal zwischen neun und elf Minuten störungsfrei arbeiten. Diese kurzen Zeitfenster der Konzentration schrumpfen stetig.

Etwa durch Instant Messaging (ICQ etc.), das an sich ein sehr brauchbares Kommunikationswerkzeug sein kann, wenn es effizient eingesetzt wird, aber nur dann. Falsch verwendet - und das ist die Regel - bewirkt es eher das Gegenteil.

So hatten 70 Prozent der Techniker und etwa ein Drittel des Managements ihre Messaging-Programme auch während Meetings ständig offen, und auch die die neuesten Unified-Messaging-Systeme bringen alleine nicht den gewünschten Erfolg.

Diese Suites, die E-Mail-Konten, Telefonverzeichnisse, Messaging usw. in einer Oberfläche integrieren, zeigen nur dann Effekt, wenn sie richtig bedient werden.

"Status Reports"

Ihre Effizienz steht und fällt mit dem "Status Report", der anzeigt, ob die gewünschte Person in ihrem Büro, auf einem Meeting oder gerade unterwegs ist, im Heimbüro arbeitet oder auf Urlaub ist. Je nach Status kann dann die effizienteste Kommunikationsform gewählt werden.

Alles in allem gesehen scheint über der schönen neuen Kommunikationswelt mit allen ihren praktischen Innovationen ein ähnliches Gesetz zu walten wie das Ertragsgesetz ("law of diminishing returns") aus der Volkswirtschaftslehre. Verkürzt gesagt: Ab einem gewissen Punkt bringen nach dem "Gesetz des verminderten Ertrags" neue Investionen immer geringere Erträge ein, wenn nur ein variabler Produktionsfaktor erhöht wird, die anderen aber gleich bleiben.

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Da die Einführung von Maßnahmen wie E-Mail-freien Tagen in der Praxis keine dauernde Verhaltensänderung zum Positiven mit sich bringt, sondern einzelne Gruppen wie etwa das Management behindert, bleibt nur der mühsamere, an Gruppenbedürfnissen orientierte Weg.

"Jeder Versuch, E-Mails und Informationsüberflutung zu reduzieren, muss sich an der Rolle des Einzelnen und an den Charakteristiken der jeweiligen Gruppe orientieren", sagt Spira, und: "Das Allerwichtigste ist zu wissen, wie viele Informationen man selbst pro Tag verarbeiten kann."

(futurezone/Erich Moechel)