Transparenz als "Killer App"
Vom Web 2.0 scheinen nur Facebook und Twitter übrig geblieben zu sein. Doch mit dem Prinzip des Mashups hinterließ der Boom sozialer Software ein Erbe, das als Grundlage für neues Wachstum im Netz dienen kann und Chancen für die Demokratie bietet. In den USA nehmen Bürgerrechtler das Transparenzversprechen Barack Obamas beim Wort und holen sich die Daten vom Staat.
Kürzlich saß ich mit einem altgedienten Kollegen zusammen, einem Veteranen des IT- und Wissenschaftsjournalismus. "Web 2.0 ist ja längst vorbei", sagte er. "Es wird langsam Zeit für das nächste große Ding." Das Netz ist ein komplexer Hybrid aus Hochtechnologie und Kultur, es ist Werkzeug und Pop, daher wird es getrieben von Trends. Die große Hype-Maschine der USA geriet unter George W. Bush schwer ins Stottern, und das Venture Capital, das beim Verbrennen die Hitze unter den Ideendestillatoren erzeugt, sitzt nicht mehr so locker wie in den 1990er Jahren.
Die Antwort auf die Frage nach dem nächsten großen Ding, nach der nächsten "Killer App" fürs Netz, kam mir natürlich erst auf dem Nachhauseweg. Das nächste große Ding müsste eigentlich Transparenz sein. Die Macht ist aus dem öffentlichen Bereich längst in die Komplexität und in die Langeweile geflüchtet, der zeitgenössische mitteleuropäische Staat funktioniert nur allzu oft wie ein Apparat zur Vernichtung von Verantwortung, und die wirklich harten Kämpfe drehen sich nicht mehr um Ideologien, sondern um Subtilitäten im Satzbau von EG-Richtlinien - denn hier bewegen einige Worte schnell einmal ein paar Milliarden Euro.
Da kommt nicht mehr jeder mit. Das ist ein Problem, in einer Demokratie. Zumal gleichzeitig die Übersetzungsapparate der Gesellschaft, die unabhängigen publizistischen Einheiten, unter Kostendruck und Renditezwang von den Medienkonzernen zusammengeschrumpft oder ganz abgeschafft werden.
Neue Verbindungen
Einen Ausweg aus der Situation könnte die wesentliche Kulturtechnik des gescholtenen Web 2.0 bieten: das Mashup. Man nimmt Daten, die über eine standardisierte und offene Schnittstelle stets aktuell von der Quelle bereitgehalten werden, und mischt sie mit Informationen anderer Herkunft, bereitet sie auf, stellt sie in neuen Kontext und ermöglicht damit neue Sichtweisen auf Tatsachen und Probleme.
Staatliche Institutionen produzieren Unmengen an Daten und stellen diese zuweilen auch kostenlos zur Verfügung. Allerdings muss der Nutzer oft allzu genau wissen, wo es welche Daten gibt und wie aktuell diese sind. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf in den USA war Obama als Reaktion auf die fatale Geheimniskrämerei der Regierung Bush mit einem Transparenzversprechen ins Rennen gegangen. Eines der greifbaren Resultate daraus ist die Website Data.gov, eine Übersicht öffentlich verfügbarer kostenloser Datenquellen aus Ministerien und Regierungsagenturen wie der Bundespolizei (FBI) und der Umweltbehörde (EPA).
Giftproduzenten in Google Earth
393 Rohdatenquellen umfasst der Katalog in Data.gov mittlerweile. Darunter so verschiedene Materialien wie Daten zur Kriminalstatistik und der von der EPA erfasste Giftmüll in Samoa. Wer wissen will, welche Unternehmen in seiner Umgebung mit problematischen Chemikalien umgehen, kann sich von Data.gov eine KML-Datei herunterladen und direkt in Google Earth nachsehen. Das ist ein einfaches Mashup, aber ein durchaus effizientes.
Die Bürgergesellschaft der USA verlässt sich aber auch in der Ära Obama nicht darauf, dass sich der Staat von ganz alleine öffnet. So unterhält die liberale Sunlight Foundation, eine gemeinnützige Stiftung, die sich der staatlichen Transparenz im digitalen Zeitalter verschrieben hat, nicht nur ein eigenes Techlabor zur Auswertung von Regierungsdaten und zur Erstellung neuer Websites und Tools für interessierte Bürger. Sie rief mit transparencycorps.org auch eine Plattform ins Leben, auf der Netzbürger relevante Ressourcen ausfindig machen und mit anderen teilen können.
Öffentliches Verstecken
Wer Daten findet und darauf hinweist, bekommt Punkte. Die derzeitige Aufgabe lautet: "Finde Twitter-Feeds von Abgeordneten." Die gefundenen Ressourcen können dann von den Bürgern mit anderen Tools verknüpft und in neuem Kontext nutzbar gemacht werden. Damit möchte die Stiftung auch einer der beliebtesten Verschleierungstaktiken von Bürokraten entgegensteuern: Dem öffentlichen Verstecken wichtiger Informationen, also dem Publizieren an einem Ort, von dem der Verantwortliche glaubt, dass niemand ihn aufsuchen wird. Solche Orte gibt es auch im Web.
Auch einen Wettbewerb schrieb die Sunlight Foundation aus und tat sich dabei mit Größen aus der IT-Branche wie Google und dem O'Reilly-Verlag zusammen. Unter dem Namen "Apps for America" werden Anwendungen gesucht, die mit den Rohdaten von Data.gov Nützliches anstellen. Die Sieger bekommen Geldpreise und können ihre Projekte am 8. September auf der Fachmesse Gov 2.0 Expo in Washington DC vorstellen. Dass sich Google und O'Reilly daran beteiligen und mit dem Republikaner Cyrus Krohn der Director of Local Programming von Microsoft in der Jury sitzt, weist darauf hin, dass sich die IT-Wirtschaft von der neuen Datenflut neue Ideen und einen Wachstumsimpuls erwartet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in den USA private und gemeinnützige Anbieter oft einen komfortableren und schöneren Zugang zu Regierungsdaten bieten als die staatlichen Institutionen selbst. Beispiele dafür sind das Parlamentsportal Opencongress.org der Sunlight Foundation und Googles Patentsuche.
In Europa
Initiativen wie Opencongress.org fehlen in Europa leider ganz. Bevor hier auch nur an Initiativen wie Data.gov gedacht werden kann, müssten erst die Websites der Institutionen dringend notwendiger Renovierung unterzogen und von Repräsentationsplattformen in Werkzeuge umgewandelt werden.
Die Website des mächtigsten Organs, des Ministerrats, ist eine Zumutung. Allein schon die grafische Gestaltung sagt: Weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen. Die Website der Kommission ist nach außen hin bunt und freundlich, doch demjenigen, der mit ihr arbeiten will, bietet sie kaum Hilfestellung. Die beste Site hat noch das EU-Parlament, sie bietet beispielsweise mit OEIL ein Tool, mit dem sich der Interessierte automatisch über Dokumente zu bestimmten Stichwörtern auf dem Laufenden halten lassen kann.
Videos statt Inhalte
Doch auch hier gibt es noch gewaltigen Spielraum für Verbesserungen: Dokumente liegen nicht immer in der aktuellsten Form vor. Und auch die besten Live-Videoübertragungen von Abstimmungen nützen nichts, wenn der Bürger am anderen Ende nicht die Abstimmungslisten der Fraktionen vorliegen hat, denn über Abänderungsanträge wird in Sekundenschnelle abgestimmt. Auch Abstimmungsergebnisse sollten live ins Netz gestellt werden, um Missverständnisse zu vermeiden.
Bisher sind die Bürger hier noch auf die Vorarbeit von NGOs wie La Quadrature du Net angewiesen, die zum Telekompaket solche Abstimmungslisten zum Download ins Netz gestellt haben. Diese Listen zu erstellen und zu kommentieren erfordert große Sachkenntnis und macht sehr viel Arbeit - nur die Institutionen, die Parteien und Lobbyisten können sich das leisten.
Auf europäischer Ebene fehlt natürlich auch ein One-Stop-Shop für Daten, der mit Data.gov vergleichbar wäre.
Die Parlamente
Der deutsche Bundestag ließ am vergangenen Mittwoch seine neu gestaltete Website ins Netz. Begrüßenswert ist, dass das deutsche Parlament für einige seiner Dienste RSS-Feeds anbietet, und zwar nicht nur für Pressemeldungen, sondern auch für Tagesordnungen der Ausschüsse und Analysen der wissenschaftlichen Dienste.
Der Website des österreichischen Parlaments fehlen solche Dienste leider. Wünschenswert wäre beispielsweise ein RSS-Feed für Parlamentarische Anfragen und die dazugehörigen Antworten, damit Bürger und Öffentlichkeit den Aktivitäten der Abgeordneten zumindest auf diesem Gebiet besser folgen können. Vorbildlich ist in dieser Hinsicht die jüngste Initiative des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), der die wichtigsten Entscheidungen über RSS-Feed zeitnah verfügbar macht. Bis die Entscheidungen und Urteile allerdings im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts auftauchen, dauert es dann wieder.
Die Grenzen und deren Öffnung
Auch die Regierung Obama ist alles andere als offen, wie ihre Weigerung zeigt, den Verhandlungsprozess über das Anti-Piraterie-Abkommen (ACTA) zu öffnen. Aber wenn es erst einmal eine zentrale Übersicht wie Data.gov gibt, wächst der Rechtfertigungsdruck auf Geheimniskrämer, die dann nämlich erklären müssen, warum sie bestimmte Informationen nicht publik machen. Letztlich ermöglichen Initiativen wie Data.gov, dass es überhaupt eine öffentliche Debatte darüber gibt, wie offen ein Staat unter welchen Umständen und an welchen Stellen sein kann. Diese Debatte ist in Europa deutlich unterentwickelt.
Transparenz ist die nächste "Killer App". Der Trend des Mashups mit öffentlichen Daten kommt aus dem Herzen des Internets. Gemeinsam arbeiten, frei Informationen teilen und forschen - dafür ist dieses Mediensystem gebaut worden. Zeit, diese Chance auch in Europa zu nutzen.
(futurezone/Günter Hack)