EU: Endspurt im Kampf um Netzfreiheit
In dieser Woche geht das EU-Telekompaket in seine letzte Runde. Am Montagabend werden die Mitglieder des Vermittlungsausschusses formal bestätigt. Der einzige offene Punkt besteht darin, ob Internet-Sperren nach dem ursprünglichen französischen Muster ohne richterlichen Beschluss in der ganzen Union erlaubt sein sollen.
Am Dienstag tagt der Vermittlungsausschuss zum ersten Mal. Er besteht aus einer Gruppe von 27 EU-Parlamentariern, die paritätisch nach Stimmstärke der Fraktionen ausgewählt wurden. Den Ausschussvorsitz stellen die drei Vizepräsidenten des EU-Parlaments gemeinsam mit einem Vertreter der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft.
Dazu kommen die Berichterstatter - jene Abgeordneten, die für das Management der Richtlinien verantwortlich sind, Catherine Trautmann (Sozialdemokraten) und Malcolm Harbour (Konservative) und die Vorsitzenden der Ausschüsse Binnenmarkt (IMCO) und Industrie (ITRE) sowie die "Rapporteurs", die Schattenberichterstatter, pro Parlamentsfraktion je eine Person.
Der Trilog
Nach den Ausschusstreffen tagt der "Trilog", das sind die Rapporteurs, Vertreter der EU-Kommission und Delegierte des Ministerrats. In diesem kleinen Kreis wird letztlich ausgehandelt, was dann von Rat und Parlament verabschiedet wird.
Doch nicht immer halten solche "Kompromisse", wie sich vor dem Sommer gezeigt hat. Eigentlich hätte das Paket bereits im Juni verabschiedet werden sollen, denn am Ende war nur noch ein wirklich strittiger Punkt übrig gewesen, der Änderungsantrag 138. Er betrifft die Möglichkeit von Internet-Sperren ( alias "Three strikes out" oder "Eins, zwei, drei - Internet abgedreht") bei mutmaßlichen Verstößen gegen das Urheberrecht.
Netzsperren, Tribunale
Frankreich hatte unter stillschweigender Unterstützung anderer Staaten mit allen Mitteln immer wieder versucht, den betreffenden Absatz so zu formulieren, dass die Möglichkeit von Internet-Sperren auf administrativem Weg offenbleibt - also ohne Verhandlung und ohne richterlichen Beschluss.
Das EU-Parlament stimmte dagegen mit wachsenden Mehrheiten wiederholt für einen Richtervorbehalt und tat das auch in der letzten Sitzung. Die Kompromissformulierung der Berichterstatterin Trautmann, ein nicht näher definiertes "Tribunal" genüge, um Internet-Sperren auszusprechen, wurde im Juni vom Parlament verworfen.
HADOPI 2 und das EU-Paket
Seit vergangenen Freitag ist die neueste Version des Internet-Sperrgesetzes (HADOPI) 2 vor dem französichen Verfassungsgericht anhängig. Am 10. Juni hatten die Verfassungsrichter - zum großen Ärger von Staatspräsident Nicolas Sarkozy - den ersten Gesetzesentwurf als verfassungswidrig abgelehnt.
Laut HADOPI 2 kann sich der Staatsanwalt dafür entscheiden, ein Strafverfahren oder ein beschleunigtes Verfahren einzuleiten. Hier prüft ein Richter die von der Medienindustrie gelieferten Indizien und straft auch ab. Das geschieht hinter verschlossenen Türen, der Beschuldigte hat keine Möglichkeit zur Stellungnahme. Hier setzt die Argumentationslinie der klagenden Catherine Trautmann (Sozialdemokraten) und Malcolm Harbour an. Dass kein Rekurs möglich sei, verstoße gegen die Verfassung.
Ministerrat "not amused"
Wie aus dem Ministerrat zu erfahren war, hielt sich das Amüsement darüber in äußerst engen Grenzen. Auch wenn man inhaltlich den Standpunkt des Parlaments durchaus teile, so werde durch diese Vorgehensweise "ein gefährlicher Präzendenzfall" für künftige Verhandlungen geschaffen, verlautete von mehr als einer nationalen Ministerratsdelegation gegenüber ORF.at.
Übersetzt heißt das: "Pacta sunt servanda." Weniger fein ausgedrückt: Wo kommen wir hin, wenn man sich auf den üblichen Kuhhandel nicht mehr verlassen kann?
Aufschnüren nicht erwünscht
Etwas jedoch eint alle Seiten: Niemand will das Richtlinienpaket aufschnüren und neu verhandeln, um etwa den eher mühsam erzielten Kompromiss zur neuen EU-Regulierungsbehörde BEREC an den Start zurückzuschicken.
Sowohl die Ratspräsidentschaft als auch die Kommission hatten im Vorfeld daher betont, ausschließlich über den "Änderungsantrag 138" diskutieren zu wollen.
Die Novelle für den Telekommarkt enthält auch Vorgaben über die Verteilung frei werdender Frequenzen, die "Digitale Dividende". Gerade das ist Rat und Kommission ebenso wie dem Parlament ein Anliegen, denn hier haben die USA die Nase vorn. Diese Frequenzen wurden dort längst versteigert.
Mobilfunk hat es eilig
Es werden nicht nur drei veraltete Richtlinien, die zwar Informationstechnologie zum Inhalt haben, aber noch in der Telefonie-Begrifflichkeit gehalten sind, den neuen technischen Entwicklungen angepasst.
Den europäischen Mobilfunkern, die mitten im Wettbewerb um drahtloses Breitband stehen, kommt die Verzögerung des Prozesses äußerst ungelegen, weil mit dem Paket auch längst Spruchreifes noch nicht angegangen werden kann.
Refarming UMTS
Im Juli wurde von Ministerrat und Kommission eine Einigung zur Nutzung von Funkfrequenzen erzielt. Bisher war das 900-MHz-Band ausschließlich der GSM-Telefonie vorbehalten. Durch Doppelnutzung bestehender GSM-900-Masten und -Sender kann mobiles Breitband überall dorthin vordringen, wo GSM-Telefonie schon funktioniert. Dadurch ?paren die Provider Kosten im Wettbewerb beim Breitbandausbau.
Die Verordnung der Kommission zum "Refarming" der GSM-900-Frequenzen ist nämlich Teil des Telekompakets - bzw. referenziert auf dessen Inhalt - und hängt damit ebenfalls fest.
Insgesamt gibt es also genug Gründe, das Großvorhaben so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu bringen. Die große Unbekannte dabei ist, wie der Ministerrat reagieren wird.
Differenzen
Intern gibt es ausgesprochen große Differenzen in den Standpunkten zu Internet-Sperren. Neben der österreichischen Delegation teilen noch eine ganze Reihe anderer, eher kleiner bis mittlerer Staaten die Position des EU-Parlaments, das auf einem Richtervorbehalt bei einem solch massiven Eingriff in die Grundrechte beharrt.
Dasselbe hat auch das französische Verfassungsgericht Präsident Sarkozy schon einmal ausgerichtet - und die Entscheidung kam ziemlich schnell.
(futurezone/Erich Moechel)