Expertin fordert mehr Respekt für Gamer
Immer wieder sorgen Studien über den vermeintlichen Zusammenhang von gewalthaltigen Videospielen und realer Gewalt für Aufregung und Besorgnis unter Eltern und Politikern. Das sei unnötig, sagt Cheryl Olson, Mitautorin des Buches "Grand Theft Childhood?": "Es gibt keinen Beweis, dass ein Videospiel jemals echte Gewalt ausgelöst hat."
Nach Amokläufen und anderen brutalen Verbrechen von Jugendlichen ziehen Politiker und Kommentatoren gerne gewalthaltige Videospiele als Auslöser heran. Dabei bedienen sie sich Studien, die einen statistisch messbaren Zusammenhang zwischen der Nutzung solcher Spiele und aggressivem Verhalten oder Gedanken festgestellt haben.
2004 führte die Forschungsgruppe um Cheryl Olsen und ihren Mann mit 1.254 Kindern zwischen zwölf und 14 Jahren in zwei US-Staaten eine schriftliche Befragung durch. Danach wurde eine ausgewählte Gruppe von Burschen sowie Eltern im direkten Gespräch genauer befragt.
Olson hat einen Doktor in Gesundheitserziehung und Sozialverhalten und arbeitet am Center for Mental Health and Media der Harvard Medical School des Massachusetts General Hospital. In ihrem Buch "Grand Theft Childhood?" bereitete sie mit ihrem Mann, dem Psychologen Lawrence Kutner, die Ergebnisse der Studie für ein breiteres Publikum auf.
Forderung nach Perspektivenwechsel
Laut der Gesundheitswissenschaftlerin Olson deutet die übermäßige Nutzung von gewalthaltigen Spielen zwar auf reale Probleme der Kinder hin, das sage aber noch nichts über die tatsächliche Wirkung von Videospielen aus. Sie wirbt im Gespräch mit ORF.at zudem für mehr Respekt für Spieler und deren Interessen. So manche Studie leide auch an methodischen Schwächen und der Voreingenommenheit der Studienleiter.
In ihrer Eröffnungsansprache auf der Fachtagung "Future and Reality of Gaming" (F. R. O. G.), die am Wochenende im Rahmen der Game City im Wiener Rathaus stattfand, plädierte Olsen dafür, dass Wissenschaftler bei ihren Untersuchungen die Perspektive der Kinder einnehmen sollten. Sie erklärte, dass noch mehr Studien zu den verschiedenen Aspekten und möglichen Zusammenhängen nötig seien und man anhand einer Querschnittsstudie wie der ihren keine Aussage über kausale Zusammenhänge treffen könne - etwa ob gewalthaltige Spiele auch reale Gewalt fördern. Die psychische Veranlagung eines Kindes und sein soziales Umfeld seien etwa ebenfalls wichtig.
ORF.at: Frau Olson, spielen Sie selbst Videospiele?
Olson: Ich habe im College angefangen, einfache Videospiele zu spielen nach Art von "Space Invaders" und die ersten Konsolenspiele. Als mein Sohn klein war, habe ich dann angefangen, mehr zu spielen. Am liebsten mochte ich ein Spiel, bei dem Zootiere ihre verlorenen Babys wiederfinden müssen und beim Draufklicken zu tanzen beginnen. Mein Sohn war damals fünf, und es war passend für sein Alter. Ich war richtig traurig, als er zu groß dafür wurde, denn ich mochte das Spiel.
ORF.at: Wenn man manche Studien über Gewalt in Videospielen liest, hat man mitunter den Eindruck, dass die Forscher nicht wirklich wissen, worüber sie da sprechen. Bei Ihnen scheint das anders zu sein.
Olson: Ich halte es für eine ethische Verpflichtung, dass ich, wenn ich Videospiele untersuche, sie entweder selbst spiele oder zumindest Leuten dabei zuschaue, wie sie spielen. Manche kann ich selbst nicht spielen, weil ich nicht gut genug bin, aber ich habe meinem Sohn, der demnächst 20 Jahre alt wird, lange beim Spielen zugesehen. Er hat eine breite Palette von Games gespielt, von "StarCraft" über "Max Payne" bis zu "Civilization". Das war sehr wichtig für mich. Ich habe ihn sogar dazu gezwungen, für mich das Schulschläger-Game "Bully" auf der Wii zu spielen, denn ich war besorgt, dass Kinder das Spiel als Vorlage benutzen könnten, weil es ein so realistisches Setting hat. Nachdem ich gesehen habe, wie das Spiel strukturiert ist und welche Regeln für die Charaktere gelten, war ich beruhigt. Ich komme aus der staatlichen Gesundheitsforschung und versuche immer, das gesamte Bild und die Ausgangsbasis zu betrachten: Was ist normal und was nicht? Wir haben keine Ahnung, welchen Einfluss Videospiele auf ihre Nutzer haben, wir wissen nicht, was normal ist für Jugendliche und Kinder, mit wem sie spielen, warum und wie viel. Und ohne dieses Wissen kann man nicht sagen, was normal und was potenziell problematisch ist. Wenn etwas typisch ist für die Kindheit, dann können wir nicht automatisch sagen, dass es abnormal und schädigend ist, vor allem wenn man sieht, dass in der gleichen Zeit die Kriminalitätsraten unter Jugendlichen gesunken sind (in den USA, Anm.). Daher habe ich mich zuerst darauf konzentriert herauszufinden, was das normale Verhalten ist, die Basis also, und dann, wo es vielleicht problematische Verbindungen und Probleme gibt.
ORF.at: Ihre Forschungsarbeit wurde von einem republikanischen Politiker angeregt, der einen Zusammenhang zwischen Gewalt in Spielen und echter Gewalt finden wollte. War er zufrieden damit, was Sie herausgefunden haben?
Olson: Ich habe ihm in einer Telefonkonferenz erklärt, dass man Forschung nicht betreibt, um bestimmte Punkte zu bestätigen, und auch, was ich gerne machen würde. Er schien damit einverstanden zu sein. Wir haben dann Geld aus dem offiziellen Programm für die Verhinderung von jugendlichen Straftaten des US-Justizministeriums (Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention) erhalten. Wenn ich im Vorfeld gewusst hätte, wie stark umstritten das Thema ist, wäre ich vielleicht gar nicht darauf eingestiegen. Ich betreibe angewandte Forschung, um Probleme zu lösen und Entscheidungsgrundlagen dafür zu erhalten, ob dieses oder jenes Programm besser ist. Und das habe ich auch bei den Videospielen gemacht. Ich bin mit gesundem Menschenverstand an das Thema herangegangen: Ich weiß, mein Sohn spielt, und er ist ein gutes Kind. Er hat davon profitiert und mit seinem Gameboy neue Freunde gefunden, mit "Starcraft" seinen Stress abreagiert und seine Probleme vergessen. Ich war nicht automatisch gegen Videospiele eingestellt. Was ich damals über "Grand Theft Auto" wusste, war, dass man in diesem Spiel Prostituierte tötet und sein Geld zurückbekommt. Ich war auch ahnungslos und wusste nicht, was ich herausfinden würde. Mir war außerdem klar, dass ich mit einer einmaligen Studie keinen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zeigen kann, daher habe ich das gar nicht versucht. Ich habe mir also Spielmuster angesehen, die mit bestimmten Agressionsmustern assoziiert sind. Jetzt kann ich zumindest den Eltern sagen, dass sie bei bestimmten Verhaltensweisen mehr aufpassen müssen, weil es einen statistischen Zusammenhang gibt. Das bedeutet nicht, dass gewalthaltige Spiele das Risiko eines gewalttätigen Verhaltens steigern. Man sollte aber auf ein Kind, das viele Stunden gewalthaltige Spiele spielt, besser aufpassen, denn das ist ungewöhnlich.
ORF.at: Auch wenn Ihre Ergebnisse sich hier von anderen Studien nicht unterscheiden, beim Lesen Ihres Buches hat man das Gefühl, dass Sie die Spieler ernst nehmen und anders an das Thema herangehen.
Olson: Ich komme nicht nur aus der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, sondern auch aus der Medienproduktion. Ich habe viele schlechte Medienproduktionen gesehen, bei denen Menschen Trainingsvideos produzieren, die sie sich selbst nicht ansehen würden - sie respektieren ihre Zuseher nicht. Und viele Forscher respektieren Kinder und Jugendliche ebenfalls nicht. Es ist meiner Meinung nach aber wichtig, dass man die Dinge aus der Perspektive der Kinder sieht und nicht herablassend. Ein Grund dafür, warum wir so gute - und meiner Meinung nach auch ziemlich ehrliche - Antworten erhalten haben, ist, dass wir viel in die Aufklärung der Kinder über den Inhalt und den Grund unserer Studie investiert haben. Nicht zu viel, sonst wäre die Studie nicht ausgewogen, aber genug, dass die Kinder wussten, worum es geht. Wenn man mit den Kindern respektvoll umgeht und mit ihnen respektvoll redet - das hören sie nicht oft von Erwachsenen -, dann reagieren sie darauf. Ich konnte es in ihren Gesichtern sehen.
ORF.at: Sie haben für Ihre Untersuchung mit den Kindern viel gesprochen und versucht, die Dinge aus der Sicht der Kinder zu sehen. Warum machen das nicht mehr Wissenschaftler?
Olson: Ich glaube, ein Teil davon ist der unterschiedliche Methodenansatz zwischen Forschung im Labor und Forschern, die sich mit Menschen in deren Lebens- und Arbeitsumgebung beschäftigen. Es gibt Wissenschaftler, die glauben, dass der einzig wahre Weg, Forschung zu betreiben, darin besteht, Experimente in einem Labor zu machen. Kinder haben ihrer Meinung nach keine Einsicht, und sie glauben daher, dass die Aussagen der Kinder daher nicht nützlich sind. Meiner Meinung nach gibt es einen tiefen wissenschaftlichen Riss zwischen der Forschung im Labor und der Forschung in der realen Welt.
ORF.at: Games sind keine Randkultur mehr, Millionen von Menschen spielen sie, und Spiele und Spieler sollten ernst genommen werden. Warum geschieht das so selten?
Olson: Bis es zu einer echten Änderung kommt, müssen wir wohl warten, bis es eine Generation von Wissenschaftlern gibt, die selbst mit komplexen Videospielen aufgewachsen sind. Ein Forscher im Alter von 50 oder 60 Jahren kennt wahrscheinlich niemanden, der Videospiele spielt. Und wenn er daran nicht interessiert ist, sagt er meist: "Das ist nur Zeitverschwendung." Manche Leute glauben, Spiele brauchen keine respektvolle Aufmerksamkeit. Ich glaube das schon. Wir sollten uns genau anschauen, was im Leben der Kinder wichtig ist und warum. Es gab schon immer Angst vor neuen Medien, ob es Comics, das Fernsehen oder vor 100 Jahren Taschenbücher waren. Einen Film kann ich mir ausborgen und schnell durchspulen, um mir ein Bild davon zu machen. Bei Videospielen ist das anders: Wenn ich nicht weiß, wie ich es bedienen kann, kann ich es mir nicht ansehen, und es bleibt eine Blackbox für mich. Das ängstigt Eltern. Ich kann auch keine Konsolen bedienen, die Wii ein wenig, ich finde sie einschüchternd, und vielen Erwachsenen geht es ebenso. Aber wenn man nicht selber spielt oder jemandem beim Spielen zusieht, weiß man auch nicht, wie reichhaltig und komplex Videospiele in den letzten Jahren geworden sind. Es gibt so viele Vorurteile gegenüber Videospielen, vielleicht weil sie aus Arcade-Shootern entstanden sind und viele sie immer noch für billige Unterhaltung halten statt für ein vollständiges Medium. Videospiele sind mittlerweile wie Bücher und Filme, komplexe Produkte mit einem breiten Spektrum von Inhalten, man kann sie mit Freunden oder Eltern spielen. Eine Freundin von mir hat von ihrer Tochter "Guitar Hero" spielen gelernt, und sie waren beide begeistert und hatten dabei viel Spaß. Kinder können auf diese Weise ihre Fähigkeiten zeigen und Eltern wiederum ihr Interesse und Respekt für das, was ihre Kinder machen, beweisen. Viele Eltern respektieren die Interessen ihre Kinder aber nicht, sobald es etwas mit Videospielen zu tun hat, sie halten es für Zeitverschwendung und Mist. Es gibt keinen Grund dafür, das zu tun.
ORF.at: Warum sind aber auch Wissenschaftler so eingeschränkt in ihrer Sichtweise? Sollten sie nicht ohne Vorurteile an die Dinge herangehen?
Olson: Die Vorstellung, dass Wissenschaftler für neue Ideen aufgeschlossen sind, ist ein Ideal - in der Realität ist das meistens nicht so. Aus unterschiedlichen Gründen: weil bestimmte Perspektiven und Richtungen der Forschung eher finanziert werden, als wenn sie sie sich gegen anerkannte Meinungen stellen. Wenn ich zum Beispiel Videospiele als Teil der gesunden Entwicklung von Kindern erforschen möchte und man lieber etwas über Gewalt in Spielen lesen möchte, dann wird es wahrscheinlich nicht finanziert werden. Ein anderer Punkt ist die Forschungsrichtung, aus der sie kommen. Schon die verschiedenen statistischen Methoden transportieren bestimmte Vorurteile mit sich. Es ist zum Teil wie eine Religion: So und so muss es gemacht werden, und alles andere ist falsch. Mir wurden durch meine Forschung die Augen geöffnet, ich war beeindruckt von der Komplexität und der Tiefe der Spiele, die ich gesehen habe. Ich fühle mich betrogen, dass solche Spiele in meiner Kindheit nicht verfügbar waren. Ich musste viele schlechte Zeichentrickfilme sehen, die darauf aus waren, Spielzeug zu verkaufen. Ich glaube wirklich, ich wäre ein besserer Mensch geworden, wenn ich diese komplexen Spiele hätte spielen können.
ORF.at: Was glauben Sie nun selbst? Gibt es einen Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Videospielen und realer Gewalt?
Olson: Ein großes Problem in der Forschung ist die Definition von Aggression und dass aggressives Spiel mit der Absicht, real zu verletzen, verwechselt wird. Manche Forscher beobachten Kinder beim Spielen und sagen: Nach dem Konsum von gewalthaltigen Fernsehshows zeigten sie beim Spielen ein härteres Verhalten und haben einander getreten. Aber sie haben sich nicht verletzt. Sie haben vielleicht Dinge kopiert, die sie im Fernsehen gesehen haben, und waren überschwänglich, aber ohne sich zu verletzen. Aggressives Verhalten ist normal bei Kindern. Ein Entwicklungsspezialist hat mir einmal erklärt, die Frage sei viel eher, warum Kinder aufhören, aggressiv zu sein. Manche Leute glauben, dass es in unserer Gesellschaft vor Fernsehern und Videospielen keine Gewalt gegeben hätte. Ich erinnere mich noch daran, als ich mit neun oder zehn Jahren europäische Märchen gelesen habe, und die sind voll von Gewalt. Abseits der Disney-Versionen gibt es Mord und Verlassenwerden und Kannibalimus, jede Menge grauenhafter Dinge. Ich bin zum Teil noch immer traumatisiert davon. Es ist eine Frage, wie man diese Dinge in den Zusammenhang stellt.
ORF.at: Worauf sollen Eltern nun achten?
Olson: Zuerst muss ich sagen, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass ein Videospiel jemals echte Gewalt gegenüber einem Menschen ausgelöst hat. Es gibt Beweise dafür, dass sie unter bestimmten Umständen vermehrt aggressive Gedanken und Gefühle auslösen können. Aber wenn mein Kind nur schreit und schreit, kann auch ich als Mutter aggressive Gefühle bekommen und das Bedürfnis verspüren, es zu schlagen. Manche Wissenschaftler tun so, als ob aggressive Gedanken immer zu realer Gewalt führen würden. Das ergibt keinen Sinn. Eltern haben jedes Recht zu sagen: Ich habe mich über ein Spiel informiert, ich habe Bilder davon gesehen, und ich finde es nicht in Ordnung, wenn du es in meinem Haus spielst. Sie können Regeln aufstellen, aber sie müssen sich bewusst sein, dass Kinder diese Regeln umgehen werden. Sie müssen mit ihrem Kind über ihre Bedenken reden. Es reicht nicht, wenn sie sagen, Videospiele sind böse. Videospiele sind ein Medium, es gibt Inhalte, die auf verschiedene Weise gut oder schlecht sein können. Eltern sollten sich damit beschäftigen und sie nicht von vornherein ablehnen. Es ist heute nicht schwierig, im Internet nach Beschreibungen und Screenshots zu suchen und dann zu entscheiden, ob man seinem Kind den jeweiligen Inhalt zumuten möchten. Nur weil ein Videospiel ein Spiel ist, heißt es nicht, dass es auch unbedingt immer für Kinder passend ist.
(futurezone/Nadja Igler)