Piraten nach der Wahl: Ändern oder kentern?
Die deutsche Piratenpartei konnte bei ihrem ersten Auftreten bei einer Bundestagswahl beachtliche zwei Prozent der Zweitstimmen holen. In einem Gastkommentar für ORF.at analysiert der deutsche Politikwissenschaftler Christoph Bieber das Ergebnis. Starker Online-Wahlkampf, die Schwäche der etablierten Linken auf dem Gebiet der Netzpolitik sowie die Erosion der Volksparteien gaben den Piraten demnach Rückenwind.
Zur Person:
Christoph Bieber ist Politikwissenschaftler an der Universität Gießen. Er hat sich in zahlreichen Publikationen mit politischen Prozessen im Netz auseinandergesetzt und führt auch ein Weblog zu diesem Thema.
Die neue Struktur des Parteienwettbewerbs gilt als eines der wesentlichen Resultate der Bundestagswahl vom 27. September 2009. Gemeint sind damit meist die Festigung des Fünfparteiensystems sowie das schlechte Abschneiden der einstmals großen Volksparteien. Doch auch unterhalb der Fünfprozenthürde ist Bewegung ins Parteiengefüge der BRD gekommen: mit 2,0 Prozent - das sind rund 880.000 Wähler - ist die Piratenpartei die größte unter den kleinen Parteien und nun endgültig auf dem politischen Radarschirm aufgetaucht.
Das sieht zunächst nicht wie ein überwältigender Erfolg aus, denn von den magischen fünf Prozent, die ihr den Einzug in den Bundestag erlauben würden, ist die thematisch auf "digitale Bürgerrechte" fokussierte Partei noch sehr weit entfernt – allerdings ist das Tempo der Parteienentwicklung mehr als erstaunlich. Noch zu Jahresbeginn hatte die deutsche Piratenpartei nicht einmal 1.000 Mitglieder. Die seit Anfang 2009 tobende öffentliche Debatte über die Einführung von "Netzsperren" führte zum sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahlen – allein über das Wahlwochenende kamen etwa 350 Anmeldungen hinzu.
Mit dem kurz vor der Bundestagswahl verabschiedeten "Zugangserschwerungsgesetz" führte die deutsche Bundesregierung ein System ein, mit dem das Bundeskriminalamt ohne richterliche Kontrolle eine geheime Sperrliste führt, die alle Provider übernehmen müssen. Lediglich der Bundesdatenschutzbeauftragte soll Einsicht in die Liste erhalten. Auf dieser Sperrliste sollen die Netzadressen von Kinderpornoanbietern verzeichnet sein. Opposition und Bürgerrechtler kritisieren das Gesetz, mit dem eine zentrale Polizeibehörde Kontrolle über ein Massenmedium erhält, den Einstieg in die staatliche Zensur. Die Debatte über das Gesetz verschaffte der deutschen Piratenpartei starken Zulauf.
Wendepunkt Internet-Sperrgesetz
Im Rückblick waren zwei Ereignisse dabei von besonderer Bedeutung: die äußerst populäre und von 134.000 Menschen unterzeichnete Online-Petition gegen das "Zugangserschwerungsgesetz" im Mai und der zugehörige Bundestagsbeschluss vom 18. Juni. Die Auseinandersetzung um das mit den Stimmen der Regierung beschlossene Paket verschaffte den Gegnern erhebliche Aufmerksamkeit und sorgte für massiven Zulauf bei der Piratenpartei. Erst dadurch gelang es, die Zulassung zur Bundestagswahl sicherzustellen – am 31. Juli. Im Wahlkampf befanden sich die Piraten demnach gerade einmal zwei Monate. Eine immense Herausforderung, zumal gleich zwei Aufgaben zu lösen waren: die Organisation des Wahlkampfs und der Aufbau einer rasch wachsenden Parteistruktur.
Vor diesem Hintergrund ist das Wahlergebnis also durchaus als Erfolg zu werten, zumal außerdem nur ein schmaler Etat für die Durchführung eines klassischen "Offline-Wahlkampfs" zur Verfügung stand – das wird sich künftig ändern, denn die insgesamt 845.904 Wählerstimmen sichern einen nicht unerheblichen Anspruch auf staatliche Mittel zur Parteienfinanzierung.
Einschnitte bei den Grünen
Doch wie ist das Resultat näher zu bewerten, und was bedeutet der Ausgang der Bundestagswahl für die weiteren Perspektiven der Piratenpartei?
Zunächst einmal scheinen die Gewinne der Piraten ein besseres Resultat der Grünen verhindert zu haben – die Hochburgen der Piraten liegen über das ganze Land verteilt in Hochschulstädten, einem klassischen Stimmenreservoir auch der grünen Konkurrenz. Die Auswertung der Resultate ist in noch vollem Gange und von außen sehr gut nachvollziehbar, denn das Piraten-Wiki dokumentiert minutiös die Wahlergebnisse und hebt ein besonders "piratiges" Abschneiden hervor.
Die Darstellung der Ergebnisse im Piraten-Wiki schlüsselt nicht nur die Resultate nach Bundesländern auf, sondern kommentiert besonders gute und schlechte Teilergebnisse. So muss sich der strategisch wichtige Landesverband Nordrhein-Westfalen die Zeile "#fail :( warum?“ gefallen lassen – mit 1.7% blieben die Piraten dort deutlich unter dem Bundesschnitt.
Wahlkampf als Rollenspiel
Hier wird nochmals die auf gegenseitige Motivation und internen Konkurrenzkampf angelegte Organisations- und Kommunikationskultur der Piratenpartei deutlich: bisweilen ähnelte die "Mission Bundestagswahl" einem Rollenspiel, das in eine Folge von Teilaufgaben zerlegt war: Europawahl, Zulassung zur Bundestagswahl, Übernahme der Mehrheiten in den Sozialen Netzwerken, Mitgliederwerbung. Das vorerst letzte "Quest" war eben die Bundestagswahl am Sonntag.
Unmittelbar nach der Bundestagswahl beginnt nun schon die Ausrichtung auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im kommenden Mai. In inhaltlicher Perspektive dürfte es nicht schwierig werden, sich auch weiterhin öffentlichkeitswirksam in die "Netzpolitik" der Bundestagsparteien einzumischen. Es ist nicht davon auszugehen, dass in der schwarz-gelben Regierung die Debatte um digitale Bürgerrechte prominent auf der Agenda platziert wird, außerdem waren CDU/CSU und FDP bei der wichtigen Abstimmung zum Zugangserschwerungsgesetz gespalten: die Christdemokraten hatten das Gesetz nahezu vollständig unterstützt, die Liberalen stimmten mehrheitlich dagegen.
SPD und Grüne: Netzpolitische Strategie fehlt
Auch die drei übrigen im Parlament vertretenen Parteien haben viele Onliner nicht wirklich überzeugen können – die SPD hat ihren Kredit durch die Zustimmung zum Gesetz im Juni weitgehend verspielt, für die Linkspartei ist Netzpolitik nur ein Randthema und auch die Grünen haben im Jahresverlauf keine eindeutige und überzeugende Position in dieser Frage bezogen.
Dennoch dürften sich in Zukunft vor allem die Grünen und die Piratenpartei einen Streit um die positive "Besetzung" des Themas liefern – hier könnte den Piraten zumindest kurzfristig die programmatische Fokussierung auf digitale Bürgerrechte zugute kommen, denn die Grünen müssen sich wesentlich breiter positionieren, um ihre Bereitschaft zur Mitwirkung in verschiedenen Koalitionskonstellationen zu zeigen – genau deshalb dürfte dieses Thema aber keinen allzu breiten Raum einnehmen.
Themen- vs. Volkspartei
Kurzfristig scheint die Ausweitung des Parteiprogramms für die Piratenpartei daher nicht zwingend geboten – allerdings müssen die Piraten noch stärker als bisher auf die Besonderheit ihres Themenfeldes aufmerksam machen. Die Skizzierung eines "Superministeriums" für die Wissens- und Informationsgesellschaft weist schon in diese Richtung – das Politikfeld bietet zahlreiche Schnittflächen mit Bereichen wie Bildungspolitik (Medienkompetenz), Technologiepolitik (Softwarepatente, IT-Branche) oder auch Sozialpolitik (digitale Spaltung). Mit Blick auf den aktuell zu beobachtenden Verfall des Typs der Volkspartei scheint die schnelle Entwicklung eines breit gefächterten Thementableaus nicht unbedingt ratsam – das deutsche Parteiensystem bietet durchaus Raum für Nischen, vor allem für solche mit Zukunftsperspektiven.
Insgesamt scheinen die Aussichten für die Piratenpartei mit Blick auf das Wahljahr 2010 eher günstig zu sein. Allerdings birgt die rasante Entwicklung auch Gefahren, denn wer sich so schnell in der politischen Landschaft etablieren kann, der möchte sich auch schnell weiter entwickeln. Und sollte in Nordrhein-Westfalen, das im Ergebnisvergleich bei der Bundestagswahl fast schon wie ein kleiner Problemfall wirkt, kein Ergebnis auch nur in der Nähe der 5%-Hürde eingefahren werden, dann besteht die Möglichkeit einer ersten Krise – denkbar sind etwa Abwerbungsversuche anderer Parteien, die engagierten Neu-Politikern Gestaltungsspielräume im parlamentarischen Raum anbieten könnten.
Doch zunächst einmal wird sich die Piratenpartei einer ausgiebigen Analyse der Bundestagswahl widmen, die eigenen Organisationsstrukturen konsolidieren und sich dann auf das nächste Level konzentrieren: den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen, bei dem der zuständige Landesverband massive Unterstützung auch aus anderen Bundesländern erhalten wird. Dabei dürften aus den Online-Aktivitäten der Partei wieder einige neue Impulse den Weg in die Offline-Welt finden und die politische Landschaft in Deutschland weiter verändern.
(Christoph Bieber)