© Fotolia/Markus Langer, Sandra Brunsch (Montage), Schere schneidet Internet-Kabel durch

Richtervorbehalt bei Netzsperren aufgeweicht

TELEKOMPAKET
05.11.2009

Die Unterhändler von EU-Parlament und -Ministerrat haben sich über die letzte strittige Formulierung im Telekompaket geeinigt. Dabei ging es darum, ob Internet-Sperren bei Urheberrechtsverletzungen nur auf richterlichen Beschluss verhängt werden dürfen. Obwohl das Parlament zweimal mit großer Mehrheit für den Richtervorbehalt gestimmt hatte, wurde dieser nun im Kompromiss stark aufgeweicht.

Am Mittwochabend ging der Streit über das Telekompaket einmal mehr in seine entscheidenden Runde. Wie schon so oft in diesem Jahr drehte sich alles um den mittlerweile berühmten Zusatz 138, der den Richtervorbehalt bei Internet-Sperren wegen Urheberrechtsverletzungen betrifft.

Auch am Mittwoch hieß das Match ab 20.00 Uhr wieder: Ministerrat versus Parlament. Um 0.45 Uhr erreichten beide Seiten einen Kompromiss, auch die EU-Kommission stimmte zu. Der Beschluss fiel am Ende einstimmig.

Die neuesten Kompromisse von Berichterstatterin Catherine Trautmann (SPE), die redigierte Version des Parlaments und die Reaktion des Ministerrats unterschieden sich dabei wenig, die Unterschiede lagen in den Details.

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Der Kompromiss über Zusatz 138 im Wortlaut. Quelle: Pressestelle des EU-Parlaments.

Streit über Formulierungen

Die Liberale Fraktion im EU-Parlament, die bisher in dieser Frage durchaus gespalten war, stellte sich am Mittwoch dezidiert auf die Seite der Gegner von Internet-Sperren.

Dort stehen nicht nur die Grünen und die Linke, sondern auch Konservative und Sozialdemokraten aus Ländern, die nicht bekannt für große, private Medienimperien sind.

Es ging darum, den umstrittenen Artikel so zu formulieren, dass beide Seiten behaupten können, sie hätten ihre Position durchgesetzt. Die Kunst dabei ist es, das neue "Wording" so hinzudrehen, dass es die eigene Position möglichst genau widerspiegelt, aber der eigentlich unterlegenen Seite eine Option zur Ausrede und vor allem Zeit offenlässt.

Aufgeweichter Richtervorbehalt

Der Richtervorbehalt ist im Kompromiss festgeschrieben, aber etwas anders formuliert und damit stark aufgeweicht. Die Rede ist nun von einem "fairen und unabhängigen Verfahren", das vor einer Netzsperrung eingesetzt werden soll. Die britische Politologin Monica Horten, die das Telekompaket seit seiner Entstehung kritisch begleitet, sieht darin nur einen schwachen Schutz der Nutzer verwirklicht.

Es sei fraglich und müsse "von jemandem mit prall gefüllten Taschen" vor Gericht ausgefochten werden, ob diese Formulierung überhaupt bedeute, dass es einen Richtervorbehalt gegen Netzsperren gibt. Horten kritisiert weiters scharf, dass das Telekompaket die Netzneutralität nicht festschreibe, die Nutzer auf EU-Ebene also nicht vor einseitigen Sperrmaßnahmen seitens der Provider beziehungsweise entsprechenden Kooperationen zwischen Medienindustrie und Providern gegen Filesharer geschützt seien.

Viel Lärm um nichts?

Der Wiener Rundfunkrechtsexperte Hans Peter Lehofer schreibt in seinem Weblog, dass die EU-Unterhändler eine ohnehin schon rechtlich wirkungslose Bestimmung gegen eine ebenso gehaltlose Formulierung ersetzt hätten, denn beide wären nicht über bereits geltendes Gemeinschaftsrecht hinausgegangen. Lehofer: "Eine neue Internet-Freiheit ist die neue Bestimmung jedenfalls nicht, aber eine solche "neue Freiheit" hätte auch Amendment 138 nicht gebracht, und sie war auch im Telekom-Paket dem Grundsatz nach nicht angelegt."

Piratenpartei zufrieden

Christian Engström, der für die Piratenpartei im EU-Parlament sitzt und in Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen auch in der Verhandlungsgruppe vertreten war, sieht die Lage etwas positiver. In seinem Weblog schreibt er: "Es ist nicht alles, was wir in der besten aller Welten hätten erreichen können, und es ist auch nicht das Ende des Kampfs für ein freies und offenes Internet. Aber es ist ein viel größerer Schritt in die richtige Richtung, als ich mir erhofft hatte." Die Internet-Gemeinde, so Engström, habe erst damit begonnen, ihre Muskeln zu zeigen.

Immerhin ist im Kompromiss auch verankert, dass Einschränkungen des Internet-Zugangs nur dann eingeführt werden dürfen, wenn diese "angemessen und im Rahmen der demokratischen Gesellschaft notwendig" seien. Auch die Unschuldsvermutung und das Recht auf Privatsphäre sind darin festgeschrieben. Allerdings steht in dem Dokument auch, dass "in dringenden Fällen" auch Schnellverfahren eingesetzt werden können, solange diese mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar seien.

Reding feiert Telekompaket

EU-Medienkommissarin Viviane Reding, die ebenfalls an den Verhandlungen teilgenommen hatte, freute sich in einer Mitteilung vom Donnerstag darüber, dass das Großprojekt Telekompaket nun in trockenen Tüchern ist.

Reding sieht die Grundrechte der Internet-Nutzer in der Europäischen Union durch den Kompromiss gestärkt. "Die neue Bestimmung für Freiheit im Internet wird von neuen Maßnahmen begleitet sein, die den neutralen Charakter des Internets in Europa stärken", schreibt Reding, die auch der neuen Kommission von Kommissionspräsident Jose Manuel Durao Barroso angehören wird.

Anders als Monica Horten sieht Viviane Reding die Netzneutralität in der EU durch die Bestimmungen im Telekompaket ausreichend geschützt: "Die neuen Bestimmungen sorgen dafür, dass die EU-Kommission Europas erste Verteidigungslinie sein wird, wenn es um die Netzneutralität geht."

Reaktionen aus der Politik

In einer Mitteilung vom Donnerstag kritisierte Martin Ehrenhauser - für die Liste Martin im EU-Parlament - dass die Formulierungen im Kompromiss zu großen Interpretationsspielraum ließen. Ehrenhauser sieht den Kompromiss ähnlich wie Engström: "Der permanente Druck der Zivilgesellschaft war erfolgreich und hat die Internet-Generation vor dem Schlimmsten bewahrt." Das Internet-Sperrkonzept "Three Strikes Out" bezeichnet Ehrenhauser als "inakzeptabel". Weiterhin kritisierte er, dass die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hätten. Eine Live-Übertragung ins Internet "sollte eigentlich selbstverständlich sein", so der Abgeordnete.

Auch die Grüne EU-Abgeordnete Eva Lichtenberger zeigt sich erleichtert: "Das EP hat durch seine geschlossene Position gegen Internetsperren ohne richterlichen Beschluss einen ersten Erfolg im Sinne der Bürgerrechte gelandet. Die Machtprobe zwischen Parlament und Rat ist damit zugunsten des Parlamentes ausgegangen." Lichtenberger begrüßt das geschlossene Auftreten des neuen Parlaments gegenüber dem Rat: "Das neue Parlament schafft in seiner neuen Zusammensetzung gleich klare Fronten gegenüber dem Rat und engagiert sich für die Rechte der europäischen BürgerInnen. Das ist ein gutes Zeichen für die nächsten Jahre."

Für die ÖVP begrüßte EU-Parlamentarier Paul Rübig den Kompromiss: "Der neue europäische Rechtsrahmen für die Telekommunikation ist in trockenen Tüchern. Im bis zum Ende der Verhandlungen offenen Kernpunkt der persönlichen Freiheit und der Unverletzlichkeit der Privatsphäre haben wir uns durchsetzen können. Jede Einschränkung des Internet-Zugangs muss vorab auf dem Rechtsweg überprüft werden können. Diese zentrale Forderung des Parlaments nach einer Vorabentscheidung mittels eines fairen und unparteiischen Verfahrens wurde garantiert und verankert." Für Rübig ist das "Urheberrecht ein hohes Gut. Das Grundrecht auf Informationsfreiheit aber genauso". Rübig erwartet, dass der neue Rechtsrahmen Ende des Jahres in Kraft treten wird.

Auch Hannes Swoboda (SPÖ) sieht die Position des Parlaments im Kompromiss gut vertreten: "Wir haben uns erfolgreich gegen Eingriffe von Regierungen oder Privaten in die Benützung und den Zugang zum Internet ohne rechtliches Verfahren gewehrt und uns für die Wahrung der Informationsrechte unserer Bürgerinnen und Bürger eingesetzt." Swoboda sagte, dies sei auch auf die "klare und eindeutige Position" der sozialdemokratischen Berichterstatterin Catherine Trautmann zurückzuführen.

Die Konsequenzen

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der britische Wirtschaftsminister Peter Mandelson können ihre nationale Netzsperrenpolitik vorerst einmal durchziehen. Allerdings müssen Richter an der Anordnung der Netzsperren beteiligt sein. Sarkozys Pläne, Urheberrechtsverletzer allein durch Anordnungen der dafür geschaffenen Netzsperrenagentur HADOPI vom Internet trennen zu lassen, war ohnehin vom französischen Verfassungsgericht gekippt worden.

Die Probleme liegen bei der französischen Methode allerdings weniger beim Richtervorbehalt, vielmehr im vorgesehenen Schnellverfahren und bei der Beweiserhebung, die durch Beauftragte der Medienindustrie stattfindet.

Gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dürfen Franzosen und Briten dabei nicht verstoßen. Sollte das der Fall sein, muss darüber ein nationales Höchstgericht in London oder Paris entscheiden - in ein paar Jahren, wenn die Herren Sarkozy und Mandelson wahrscheinlich anderweitig beschäftigt sind.

Im restlichen Europa bleibt es bei den bestehenden Regeln, die einen Richtervorbehalt vorsehen; so lange, bis es das nächste internationale Abkommen anders vorsieht.

Briten folgen Frankreich

Mandelson hatte vor wenigen Tagen angekündigt, der französischen Regierung zu folgen und "Three Strikes Out"-Regeln gegen Filesharer zum Schutz der britischen Medienindustrie einsetzen zu wollen.

Die Positionen

Seitdem das Parlament im Sommer den von Trautmann ausgehandelten Kompromiss in einer dramatisch verlaufenen Sitzung mit überwältigender Mehrheit verworfen hatte, herrschte Eiszeit zwischen Rat und Parlament.

Es ging dabei um den Richtervorbehalt. Der Rat wollte eine Art Standgerichtsverfahren ohne Richter gegen Tauschbörsenbenutzer, ad hoc auf Zuruf der Medienindustrie. Das Parlament bestand hingegen auf einem ordentlichen Gerichtsverfahren.

Die Vorgeschichte

Die Berichterstatter Trautmann und Malcolm Harbour hatten mit dem Ministerrat einen Kompromiss vereinbart, der dem Parlament überhaupt nicht passte und in der Folge abgeschmettert wurde.

Im Ministerrat war daraufhin von einem "gefährlichen Präjudiz" die Rede, was übersetzt bedeutet: Auf einen Kuhhandel müsse man sich auch verlassen können.

Sodann übte sich der Rat in Verhinderung und Blockade, wohl wissend, dass man vorerst am längeren Hebel saß. Das unter dem Begriff "Telekompaket" subsumierte Großvorhaben zur Modernisierung der europäischen IT-Landschaft enthält von der "digitalen Dividende" bis zur Schaffung einer europäischen Regulationsbehörde (BEREC) eine ganze Serie von Reformen. Beispielsweise sollen nationale Regulationsbehörden künftig allzu dominante Telekoms "funktional trennen" dürfen - durch zwangsweise Ausgliederung der Netzinfrastruktur. Außerdem müssen Provider künftig über Verluste persönlicher Daten informieren.

Der Weg durch die Institutionen

Das EU-Parlament wird auf seiner Sitzung von 23. bis 26. November in dritter Lesung über den Kompromiss abstimmen. Es kann die Rahmenrichtlinie inklusive Kompromiss nur vollständig annehmen oder ablehnen. Auch der Ministerrat muss dem Kompromiss noch zustimmen. Falls eine der beiden Institutionen ihre Zustimmung verweigert, ist der Vermittlungsprozess gescheitert, und die EU-Kommission muss einen neuen Gesetzesvorschlag vorlegen. Dass das Telekompaket jetzt noch scheitert, ist aber sehr unwahrscheinlich.

EU-Medienkommissarin Viviane Reding erwartet, dass die neuen Bestimmungen des Telekompakets Anfang 2010 in Kraft treten werden. Die EU-Mitgliedsstaaten haben dann 18 Monate Zeit, diese in nationales Recht umzusetzen.