© Reuters (Montage), Britische Polizisten vor Überwachungsmonitoren

"Indect": Werkzeuge für den Präventivstaat

KONTROLLE
16.11.2009

Im EU-Überwachungsprojekt "Indect" stehen auch die beteiligten Wissenschaftler selbst unter Beobachtung. Mit einem Trick haben es britische Polizei und Inlandsgeheimdienst MI5 geschafft, dass jedes im Projekt erstellte Papier über ihre Schreibtische läuft. Die Falldefinitionen der Polizei führen dazu, dass das System beinahe jede Bewegung im öffentlichen Raum als verdächtig einstuft.

"Gefährliche und untypische Ereignisse sollen automatisch erkannt werden. Das dabei beobachtete Verhalten muss nicht notwendigerweise illegal sein, um als relevant eingestuft zu werden", heißt es im "Bericht über die Sammlung und Analyse der Benutzeranforderungen". Verfasst wurde er von Wissenschaftern dreier polnischer Universitäten, wobei der polnischen Polizei und jener aus dem United Kingdom Schlüsselrollen zukommen.

"Während zum Beispiel das Herumlungern in Parks tagsüber normal" sei und eine solche Verhaltensweise nicht als auffällig registriert werde, könne dasselbe Verhalten des Nachts auf einem Parkplatz in einem Autodiebstahl resultieren - deshalb werde es auch "proaktiv erfasst", schreiben die Autoren des Berichts, der dem umstrittenen "Indect"-Projekt der EU zugrunde liegt.

"Anforderungen der Benutzer"

Mit "Herumlungern" ("Loitering") ist ein längerer Aufenthalt einer Person an einem öffentlichen Ort ohne erkennbares Ziel definiert bzw. die periodische Rückkehr der Person an einen bestimmten Punkt.

Die "Benutzer" wiederum, deren "Anforderungen" im Bericht formuliert werden, sind Polizisten. Nach Angaben der Autoren, die den Technischen Universitäten von Gdansk, Poznan und dem tschechischen Kosice angehören, wurden mehrere hundert polnische Polizisten befragt, welches "atypische Verhalten" denn nun automatischen Alarm auslösen sollte.

Da die bisher praktizierte Videoüberwachung immer ineffektiver wird - zu wenige Polizisten müssen zu viele Kameras im Auge behalten -, zielt das "Indect"-Projekt darauf ab, das Erkennen von möglichen "Gefahrensituationen" zu automatisieren. Angesichts der Vielzahl der simultan zu überwachenden Monitore sind speziell die britischen Polizeibeamten überfordert, weil es dort besonders viele Kameras gibt.

"Abweichendes Verhalten"

Als größte Schwierigkeit erweist sich dabei die Definition eines "Ereignisfalls". Wird sie zu weit gefasst, wird zu oft Fehlalarm geschlagen. Andererseits muss das "Intelligente Informationssystem zur Observation, Suche und Erkennung für die Bürger im urbanen Bereich", wie "Indect" ausformuliert heißt, eine so niedrige Schwelle aufweisen, dass es auf mögliche Straftaten hinweist, noch bevor diese passieren.

"Indect" ist dezidiert darauf ausgelegt, dass eingegriffen werden kann, bevor oder während die Straftat stattfindet. Daher müssen ganz alltägliche Handlungen als suspekt eingestuft werden - immer dann, wenn sie auf möglicherweise "abweichendes Verhalten" in der Folge schließen lassen.

Österreicher bei "Indect"

Neben der Fachhochschschule Technikum Wien ist auch die burgenländische X-Art ProDivision im "Indect"-Konsortium vertreten. Die Burgenländer bringen aus dem Broadcasting-Bereich jahrelange Erfahrung bei der digitalen Archivierung, Indizierung und automatischen Inhaltsanalyse von Videodateien ein. Christian Kollmitzer, der für das "Indect"-Projekt verantwortliche FH-Professor, nannte die damit verbundene Möglichkeit zur Grundlagenforschung als Hauptgrund für die Teilnahme.

"Highlighting"

So gaben drei Viertel der im Rahmen des Berichts befragten polnischen Polizisten an, dass "herumlungern" und "sich umsehen" Hinweise auf eine bevorstehende Straftat seien. Auch ein längerer Aufenthalt in Türbereichen und vor (oder in) einem geparkten Auto soll zur Folge haben, dass auf die betreffende Person automatisch gezoomt und Alarm geschlagen wird.

Der Bericht nennt das "Highlighting". Die Szene wird dann in höchstmöglicher Auflösung erfasst und dem an der Videowall diensthabenden Beamten zur Bewertung in Wiederholung vorgespielt. Sodann wird sie archiviert. Interessanterweise beschreiben die polnischen Polizisten hier ziemlich exakt das Verhalten eines verdeckt ermittelnden Beamten, der einen bestimmten Bereich des öffentlichen Raums - etwa eine U-Bahn-Station - zu überwachen hat.

Flashmobs, Hooligans

Aber auch Phänomene wie "Flashmobs" und spontane Demonstrationen werden thematisiert. So identifizierten zwei Drittel der befragten Polizisten es als Alarmzeichen, wenn sich Menschen aus allen Richtungen an einen bestimmten Punkt bewegen oder auch umgekehrt. Ebenso viele finden es verdächtig, wenn jemand eine Dose in Händen hält, zumal es sich ja um einen Sprayer handeln könne.

Oder um einen Fußballfan. Als einer der Gründe für die Schaffung des "Indect"-Projekts müssen nämlich wieder einmal die Hooligans herhalten, da die Fußball-Europameisterschaft 2012 in Polen (und der Ukraine) stattfinden wird. Das ist einer der Anlässe für den Start dieses Projekts, und Hinweise auf Hooligans oder Stadien finden sich in den meisten veröffentlichten Dokumenten.

Vorgaben aus GB und Polen

Die (bis jetzt) geheimen Fallvorgaben kommen von der polnischen und der nordirischen Polizei. Diese sind zwar formal nicht Mitglieder des überwiegend akademischen Forscherkonsortiums, sondern nur für die "Anforderungen" zuständig.

Dafür, dass sämtliche "Deliverables", also alle von den Beteiligten erarbeiteten Dokumente, vor der Präsentation in der Gruppe über den Schreibtisch eines Polizisten aus dem United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland gehen, sorgt ein abgefeimter Besetzungstrick, der mit entsprechender Rhetorik einhergeht.

Britische Polizei als Datenschützer

Als oberster Link auf der Frontpage des "Indect"-Projekts ist der Punkt "Ethical Issues" aufgeführt. Das "Ethics Board" kontrolliere strikt, ob etwa der Datenschutz bei jedem einzelnen Projektteil gewährleistet sei.

Da fügt es sich recht passend, dass den Vorsitz im "Ethics Board" Assistant Chief Constable Drew Harris vom Police Service Northern Ireland führt. Seine Assistentin Zulema Rosborough, Detective Chief Inspector ebendort, scheint in dem mit 29. Oktober datierten Bericht als Kontrollinstanz auf.

Parallelen im ETSI

Vom britischen MI5/NTAC angefangen über den deutschen Bundesverfassungssschutz bis zur niederländischen PIDS (Platform Interceptie, Decryptie en Signaalanalyse) geben einander dort Angehörige von Polizeispezialeinheiten und Geheimdienstmitarbeiter, die teils offen, teils unter Tarnidentitäten von Verkehrs- und Wirtschaftsministerien auftreten, aus 17 Staaten die Türschnalle in die Hand. Das Technische Komitee "Lawful Interception" (LI) koordiniert die Standardisierung der Überwachung.

Übersetzt heißt das: Die unbestritten überwachungswütigste Polizeibehörde in der EU - jene des United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland - wacht über die Einhaltung des Datenschutzes und hat in dieser Funktion automatisch Zugriff auf jedes neu von den Wissenschaftern erstellte Dokument.

Eine derartige Schlüsselposition nehmen Polizeibeamte aus Großbritannien auch anderswo in Überwachungsangelegenheiten ein. Den Sekretär der Überwachungsarbeitsgruppe 3GPP SA-LI stellt das britische Innenministerium. Überall, wo es um Überwachung geht, ist auch der britische Inlandsmilitärgeheimdienst mit von der Partie, dem MI5 obliegt über die Abteilung NTAC (National Technical Assistance Centre) nämlich die technische Durchführung der Maßnahmen.

Immenser Speicherbedarf

Vonseiten der britischen Polizei, die zweifellos über die umfassendsten Erfahrungen mit Videoaufzeichnungen verfügt, sind in den Bericht der polnischen Akademiker ebenfalls Zahlen eingeflossen. Diese machen verständlich, warum man gerade in Großbritannien auf eine Automatisierung drängt. So rechnet man in Großbritannien mit 500 GB Speicherbedarf bei mittlerer Qualität - pro Monat und pro Kamera. Mit einer besseren Rate von 15 Frames pro Sekunde aufgenommene Videos machen das Terabyte in 23,6 Tagen voll.

Ein Verbund aus 20 Überwachungskameras produziert so mindestens zehn Terabyte Daten pro Monat, die allerdings auch indiziert, mit digitalen Wasserzeichen sowie Metadaten versehen werden müssen. "Indect" braucht nicht nur jede Menge Speicherplatz, sondern auch gewaltige Rechenkapazitäten, zumal die Daten auch noch mit anderen Datensätzen abgeglichen werden.

Mehr über das wahre Ausmaß des "Indect"-Projekts lesen Sie im nächsten Teil der Serie.

(futurezone/Erich Moechel)