Uni brennt: Zu viele digitale Lagerfeuer
Der deutsche Politologe Christoph Bieber hat für futurezone.ORF.at analysiert, inwieweit sich die Internet-Kommunikationskultur der Studentenproteste in Deutschland und Österreich unterscheidet. Als gemeinsame Probleme in beiden Ländern ortet er die Zersplitterung der Kommunikation in zu viele Online-Kanäle sowie fehlende Schnittstellen zur "analogen" Politik.
Der deutschlandweite Bildungsstreik am Dienstag wirkt als Verstärker der Hochschulproteste in Deutschland, die bisher nur eine sehr verstreute Weiterführung der österreichischen Uniblockaden darstellen. Bei einem Blick auf die beiden Bewegungen fällt auf, dass es in Deutschland eines traditionell organisierten Protesttages bedarf, um die Streikwelle ins Blickfeld einer größeren Öffentlichkeit zu rücken.
Während sich in Österreich die verschiedenen Plattformen des Web 2.0 mit Beginn der Proteste als wichtiger Kommunikationsraum etabliert hatten und entscheidend auf deren Ausweitung und Verstetigung hinwirkten, spielt das "Social Web" in Deutschland (noch) keine allzu große Rolle.
Misstrauen gegenüber Twitter
Zwar formiert sich an den meisten Proteststandorten schnell die inzwischen typische Online-Infrastruktur mit Homepage und Livestream, doch gerade bei den in Österreich sehr populären Netzwerkdiensten Facebook und Twitter ist es unter der .de-Domain eher ruhig. Zwar gibt es an vielen Orten Twitter-Accounts (z. B. @streikhd, @marburgstreikt), @mainzbrennt, @bildung_muc), doch bleibt die Zahl der Follower überraschend gering. Und erst seit Anfang dieser Woche gibt es eine umfassende Liste, die eine stattliche Zahl von Twitter-Accounts zum Thema zusammenfasst - als "Öffentlichkeitsgenerator" wirkt das Web 2.0 in Deutschland bisher jedenfalls nicht. Wie schon im letzten Bundestagswahlkampf kursiert auch jetzt die Frage, ob Twitter nicht ein vollkommen überschätztes Format sei - meist entzündet an einem diffusen Misstrauen, was man in 140 Zeichen denn Sinnvolles kommunizieren könne.
Thomas Pfeiffer, der für die Münchner Beratungsfirma Webevangelisten die deutschsprachige Twitter-Nutzung verfolgt, ist sich noch unschlüssig über die Verbreitung unter Studierenden: "Von den 185.000 im Oktober aktiv Twitternden haben gut 4.000 das Wort 'Student' in ihrer Online-Biografie." Auf eine Gesamtzahl der Campus-Twitterati lässt sich davon nicht schließen, Pfeiffer erhofft sich neue Erkenntnisse aus der gerade laufenden Twitter-Umfrage.
Plattform strukturiert Protest
Die Funktionalität von Twitter für die Protestierenden liegt jedoch auf der Hand - der Service eignet sich als billiges und schnelles Werkzeug zur Kommunikation mit den Medien, und es kann bei korrekter Nutzung von Hashtags wie #unibrennt, #unsereuni und #bildungsstreik die Materialvielfalt auf den unterschiedlichen Plattformen wieder integrieren. Mindestens. Denn die strukturelle Offenheit von Twitter hat immer wieder zu spektakulären Neuerungen geführt, die unmittelbar aus besonderen Nutzungssituationen entstanden sind. Ein europaweiter Hochschulstreik könnte sehr wohl ein geeigneter Kontext für neue Impulse im 140-Zeichen-Format sein.
Anderswo im Netz regt sich auch etwas mehr: Im unter deutschen Studierenden bevorzugten Online-Netzwerk StudiVZ dient das Edelprofil "Bildungsstreik" als Knotenpunkt und vernetzt die Protestierenden an den verschiedenen Hochschulstandorten. Für lokale Protestaktionen gibt es ebenfalls Gruppen, die zum Austausch aktueller Informationen und zur Begleitkommunikation genutzt werden, dadurch zersplittert allerdings die Protestkommunikation in viele kleine Gemeinschaften. Bei der Gestaltung der Gruppenseiten fällt schnell die limitierte Funktionalität des StudiVZ-Netzwerks auf - das rasche Wachstum der Gruppen und die antiquiert wirkende Oberfläche machen ein komfortables "Management" der Protestkommunikation fast unmöglich.
Zu viele Kanäle
Zusätzlich zu den lokalen Netzwerkgruppen unterhalten die Gruppen an den meisten Unistandorten aber auch "klassische" Websites, häufig mit einem eingebundenen Weblog als Kernbestandteil. Dadurch fransen die selbstgestalteten Protestöffentlichkeiten noch weiter aus - nicht nur, dass die Verlinkung in den "eingemauerten Garten" von studiVZ nicht gut funktioniert und eine Verzahnung der Inhalte erschwert wird, die Bespielung mehrerer voneinander getrennter Informationsseiten erfordert auch mehr Zeit und Personal.
Die Facebook-Nutzung scheint in Deutschland dagegen schwächer ausgeprägt zu sein - obwohl die Plattform bessere Werkzeuge für die Kampagnenbegleitung bereithält, finden sich hier weitaus weniger protestbezogene Inhalte. Das "Teilen" von Meldungen, Informationen und Dateien funktioniert durch die Vielzahl der Schnittstellen sehr gut, wie insbesondere die Facebook-Präsenz zur Wiener Audimax-Besetzung zeigt. Interessant dürfte die Plattform auch deshalb sein, weil sich gerade dort eine Vielzahl von Lehrenden einzurichten scheint.
Problem Selbstorganisation
Die breite Streuung der Informationen über die verschiedenen Kernangebote des Web 2.0 spiegelt auch die Entwicklungen des "politischen" Internets der letzten beiden Jahre wider: Dem Übervorbild der Obama-Kampagne um das Weiße Haus eiferten inzwischen auch in Europa genügend politische Akteure nach, so dass es nur logisch ist, dass sich mit den Studierenden eine sehr netzaffine Gruppe dieser Mittel bedient. Während dabei in der Politik häufig das mangelnde Verständnis für eine neue Medienumgebung kontraproduktiv gewirkt hat, so machen sich nun eher Defizite bei Organisation und Ressourcen bemerkbar. Hinzu kommt das Problem der fehlenden Kontinuität - anders als bei Online-Wahlkämpfen werden im besetzten Hörsaal keine Etats vergeben und feste Teams gebildet, sondern Protestpersonal und -infrastruktur finden sich "on the fly".
Und doch liegt gerade hier die tatsächliche Innovation der "neuen" digitalen Studierendenproteste im Schatten des Web 2.0: die spontane Entstehung und vor allem die Verstetigung der Proteste ist ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit des "Organisierens ohne Organisationen", die der New Yorker Medienforscher Clay Shirky in seinem lesenswerten Buch "Here Comes Everyone" beschrieben hat - in Österreich perfekt symbolisiert durch die faktische Ausklammerung der ÖH als "offizielle" Studierendenvertretung.
Zur Person:
Christoph Bieber ist Politikwissenschaftler an der Universität Gießen. Er setzte sich in zahlreichen Publikationen mit politischen Prozessen im Netz auseinander und führt auch ein Weblog zu diesem Thema.
Schnittstellen zur analogen Politik
Die mediale Vernetzung tritt an die Stelle fester Strukturen und Hierarchien - doch ob sich die Proteste an den Hochschulen dadurch besser und vor allem erfolgreicher realisieren lassen, muss sich in den nächsten Wochen und Monaten erst noch zeigen. Mit dem Jahreswechsel und dem darauf folgenden Semesterende nahen naturgemäß schwere Zeiten für die bildungswilligen Blockierer.
Hinzu kommt, dass die Schnittstellen zur noch immer weitgehend analog funktionierenden Politik schwach ausgeprägt sind. Für Deutschland wäre in nächster Zeit immerhin eine Online-Petition beim Bundestag denkbar, um nach dem Muster der #zensursula-Kampagne gegen das Zugangserschwerungsgesetz das politische System auf dem offiziellen Verfahrensweg zu erreichen. Eine Veränderung der Hochschulpolitik ist dadurch aber längst nicht sichergestellt - und auch dafür ist die Debatte über die "digitalen Bürgerrechte" ein Beispiel.
(Christoph Bieber)