"Frei" wie in gratis: Medien zum Selbermachen
Mit klugen Projekten machen Richard Wright, Graham Harwood und Matsuko Yokokoji Druck auf die Medienszene. Sie nutzen freie Software und billige Elektronik dazu, Menschen neue Perspektiven auf die Weltinformationsgesellschaft zu eröffnen. Teil drei der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Freiheitskämpfer".
Er sei "gerade gut genug, um Supermarktregale einzuschlichten", hatten die Lehrer zu ihm in der Schule gesagt, erzählt Graham Harwood. Als Kind einer englisch-irischen Arbeiterfamilie in der südlichen Hälfte Londons aufgewachsen, lernte er das klassenbasierte englische Bildungssystem von seiner problematischen Seite her kennen. Beinahe hätten sie ihn von der Schule geschmissen, wodurch er wohl unweigerlich in der Jugendkriminalität gelandet wäre.
Ein Zeichenlehrer engagierte sich für den Schüler mit "Lernproblemen", wie man heute sagen würde, und besorgte ihm einen Platz an einer Kunstschule. Die ersten Jahre der Margaret-Thatcher-Regierung lebte er in besetzten Wohnungen, zeichnete Comics, beteiligte sich an Underground-Publikationen und organisierte das inzwischen legendäre Festival des Plagiarismus Ende der 1980er Jahre mit. Damals begeisterte er sich für den kreativen Missbrauch von Kopiergeräten. Dann erhielt er wider alle Erwartungen einen Studienplatz an einem der ersten universitären Lehrgänge für Kunst und Programmierung in Großbritannien, geleitet von Dr. Mike King am London Guildhall College.
Harter Einstieg in die Grafikprogrammierung
Der Legastheniker Harwood lernte innerhalb von drei Monaten, Grafiken von Grund auf zu programmieren, ohne Verwendung kommerzieller Malsoftware. "Das war damals eine andere Definition von Open-Source-Software", erzählt Harwood, "für die meisten Sachen, die ich tun wollte, gab es nämlich gar keine fertige Software. Man ging also in die Bibliothek, holte sich das entsprechende Buch und fand den passenden Algorithmus." Harwood blieb am Guildhall College und begann dort zu unterrichten. Dort lernte er auch seine spätere Frau, die Japanerin Matsuko Yokokoji, kennen, sowie den Kollegen Richard Wright, in Medienkunstkreisen auch bekannt als "Dr. Future".
Anfang der 90er wandte sich Harwood der Programmierung von CD-ROMs zu. Mit der künstlerischen Arbeit "Rehearsal of Memory" wurde er schlagartig international bekannt. Gleichzeitig arbeitete er bei ARTEC, einer Institution im Nordlondoner Stadtteil Islington, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Langzeitarbeitslosen IT-Fähigkeiten zu vermitteln. Dort lernte Graham Harwood zwei Schüler kennen, die später seine Mitstreiter werden sollten: Mervin Jarman, jamaikanischer Herkunft, und Richard Pierre-Davis, Londoner mit Familienbackground in Trinidad-Tobago. Gemeinsam gründeten sie die Gruppe Mongrel Media. Schon der Name war Programm, denn Mongrel heißt auf Deutsch "Bastard" oder "Mischling" und wurde in der Vergangenheit als rassistisches Schimpfwort verwendet.
Die multinationale Mongrel-Gruppe, die damals eher auftrat wie eine Hip-Hop-Gang als eine Gruppe von Medienkünstlern, drehte den Spieß einfach um. Mit einer Serie aufmüpfiger Projekte unter dem Titel "National Heritage" (nationales Kulturerbe) nahmen sie die steife britische Kunstszene und den falschen Liberalismus der oberen Mittelschicht aufs Korn. Sie entwickelten eine Fake-Suchmaschine namens "Natural Selection", programmierten einen Photoshop-Filter mit der Bezeichnung "Natural Heritage Gold" und ein Computerspiel namens "Blacklash". Dabei ging es immer wieder darum, Erwartungen zu unterlaufen und Stereotypen und Vorurteile geschickt umzukehren.
Software prägt die Gesellschaft
Die Kulturtechnik dazu heißt "detournement" (franz. umlenken), und diese hatten sie sich von den Situationisten abgeschaut, einer Gruppe überwiegend französischer Künstler und Revolutionäre, die den Mai '68 mit angestiftet hatten. In England wurde Situationismus aber vor allem über die Ebenen Punk und Do-it-yourself-Kultur verstanden. In dieser Zeit verwendeten Mongrel Media bereits den Begriff soziale Software - allerdings in einer ganz anderen Bedeutung als der heute gebräuchlichen. Ihnen ging es darum, zu zeigen, dass Software nicht einfach nur ein neutrales Werkzeug ist, sondern in Code gegossene soziale Vorurteile und Anschauungen enthält oder diese generiert.
Mongrel Media "vergaßen nie, wo sie hergekommen waren", wie es auch in mancher Legende über Stars im Musikgeschäft so schön heißt, und eines ihrer wichtigsten Ziele war es, mit benachteiligten Jugendlichen aus den Einöden der endlosen Council-House-Siedlungen (Gemeindebauten) in London, Liverpool und Manchester zu arbeiten. Zu diesem Zweck programmierten sie die Software Linker, die es ermöglichte, ohne Vorkenntnisse coole audiovisuelle Projekte anzugehen. Linker war sehr erfolgreich und wurde bei zahlreichen Workshops eingesetzt, doch das Programm basierte auf einem Programm des Grafiksoftware-Herstellers Macromedia, und als die Firma den Code änderte, funktionierte Linker plötzlich nicht mehr.
Umstieg auf freie Software
Das überzeugte Harwood endgültig, auf Freie, Libre und Open Source Software (FLOSS) umzusatteln. Er hatte sich lange dagegen gewehrt, denn "für mich war FLOSS nicht wirklich frei, es war schwierig zu installieren und kompliziert, es warf für die Leute, mit denen wir arbeiteten, praktisch unüberwindliche Hürden auf", erklärt Harwood seine Bedenken. Trotzdem stürzte sich Harwood in die Welt der freien Software und begann, sich mit Linux-Server-Technik auseinanderzusetzen. Dabei half ihm ein zweijähriges Stipendium der Organisation De Waag in Amsterdam. Harwood, seine Frau Matsuko Yokokoji, deren Sohn Lani und ihr irischer Terrier zogen gemeinsam nach Amsterdam und ließen sich dort, standesgemäß, sozusagen, nicht im schicken Zentrum, sondern in der Betonwüste und Migrantenviertel De Bijlmer (Bijlmermeer) nieder.
Aus zweijähriger Entwicklungszeit entstand das Serverprojekt Nine9, das ungefähr das konnte, was Linker auch schon beherrscht hatte, nur eben auf einem Server im Netz und zu 100 Prozent auf FLOSS basierend. Zugleich aber flog Mongrel Media auseinander. Nine9 war vor allem für die Fortsetzung der Workshop-Praxis gedacht. Doch Mervin Jarman ging nach Jamaika, um dort das Container-Projekt aufzubauen (mehr dazu in der nächsten Folge), und Richard Pierre-Davis war so enttäuscht von der Kunstszene, dass er eine Prüfung als Busfahrer in London ablegte. Harwood kehrte deprimiert mit seiner Familie nach England zurück. "Ich dachte, was kann ich machen, das mich nicht dazu zwingt, mich zwei Jahre im Programmiererkammerl einzusperren? Welche Dinge gibt es, die man einfach so verwenden kann? Welche 'Medien' existieren, werden aber nicht als solche erkannt?"
Ein Schuppen in Southend-on-Sea
Die Antwort dazu fand Harwood im Mediashed (dt. etwa Medienschuppen oder -halle) in Southend-on-Sea. Dabei handelt es sich um einen Badeort und Ausflugsziel östlich von London an der Nordseeküste. Die Arbeiterklasse aus den Docklands in East London hatte nach Errichtung einer Eisenbahnverbindung schon im 19. Jahrhundert dort frische Luft, Zuckerwatte, Bier und Musik genießen können, wovon heute noch der längste Pier Englands zeugt. Noch in den 60er und 70er Jahren lieferten sich dort Mods, Teddy Boys und Punks legendäre Schlachten. Heute ist Southend ein Schatten seiner Selbst.
An der Seepromenade gibt es nur noch Spielhallen und dubiose Striplokale, anstatt Spaß für die ganze Familie. In einem Gewerbegebiet mieteten Harwood und Co. eine kleine Halle, tatsächlich nicht mehr als eine Art Schuppen. Der Ort dient als Treffpunkt und Veranstaltungsort für eine sehr heterogene Besatzung: von einer blinden Losverkäuferin und Dichterin über einen Eisenbahnschaffner mit Videokunstambitionen, dem Betreiber einer selbst gebauten Wetterstation sowie einem Dub-Step-DJ und Radiopiraten bis hin zur Southend Linux User Group versammeln sich all jene, die irgendwie im Bereich freie Medien und freie Software arbeiten wollen.
Freie Kunst mit billiger Hardware
Bei dem Projekt Mediashed geht es weniger um Technologie als vielmehr darum, den Menschen zu helfen, ihr Selbstwertgefühl zu entwickeln. Harwood kann sich hier die Erfahrungen seiner Jugend zunutze machen. Das Problem, das viele Menschen haben, die arbeitslos sind oder dauerhaft in prekären Verhältnissen leben, ist, dass sie sich selbst nichts mehr zutrauen. Die Gesellschaft vermittelt ihnen auf allen Ebenen, dass sie wertlos sind. Bei den Projekten im Mediashed geht es darum, diese Tendenz umzudrehen. Grundsätzlich betragen bei allen Mediashed-Projekten die Hardware-Kosten nur ein paar Pfund.
Die Ästhetik ist eher an Streetculture als an den glänzenden Oberflächen von Medienmuseen angelehnt. Nicht nur die Software ist frei und Open Source, Mediashed bemüht sich auch um die Wiederbelebung der Idee der Public Domain in allen Bereichen: Es geht darum, Leute zusammenzubringen, die ihr Wissen miteinander teilen und sich gegenseitig helfen. Ein weiteres Prinzip ist, dass so weit wie möglich Recycling-Materialien verwendet werden. Vor allem aber geht es darum, Projekte zu verwirklichen, die den Menschen zeigen, dass sie auch mit dem wenigen, das sie haben, etwas anfangen können.
Belauschte Videokameras
Eines der ersten Mediashed-Projekte war der Videosniffer, mit dem man Funksignale von Videoüberwachungskameras einfangen kann. Bewaffnet mit Plakaten, auf denen "Hab Nix" und "Kauf Nix" geschrieben stand, postierten sich die Medienaktivisten vor Kameras von Banken und Luxusgeschäften, um aus den abgefangenen Signalen ein provokantes Video zu basteln. AWSoM - die Ambient Weather Sound Machine, ist ein Projekt der Mediashed-Mitarbeiter Stuart Bowditch und Damien Robinson, die damit Live-Wetterdaten in Musik umwandeln.
"Skintstream" ("skint", zu Deutsch "pleite") nannte sich eine Serie von Live-Audio-Videostreams mit dem Ziel, Orte miteinander zu verbinden, die durch kulturelle, geografische und finanzielle Hürden voneinander getrennt sind. Einer der Livestreams verband eine Township in Johannesburg mit dem Container in Jamaika. Anstatt, was die Norm ist, auf der Nord-Süd-Achse, zwischen Reich und Arm, zu kommunizieren, werden die ärmsten Orte miteinander verbunden, ein Vorgang, der, so Harwood, eine unglaubliche Begeisterung und Kreativität bei den Beteiligten auslöste.
Internationale Anerkennung
Die Arbeit im Mediashed gab Harwood, Yokokoji und Wright wieder Auftrieb, so dass sie auch wieder Medienkunstprojekte zu produzieren begannen. In letzter Zeit gewannen sie mehrere Preise für ihr Projekt "Tantalum Memorial", das an die Menschen erinnert, die in den "Coltan-Kriegen" im Kongo starben.
Aus dem Roherz Coltan wird Tantal gewonnen, ein Metall, das für die Herstellung miniaturisierter elektronischer Bausteine wichtig ist und das in Folge des Booms der Mobiltelefonie eine enorme Nachfragesteigerung erlebte. Wilde Abbautätigkeit, Finanzierung von Brügerkriegsarmeen und unmenschliche und umweltschädigende Arbeitsmethoden waren die Folge des Booms.
Jetzt geht es dem Trio darum, den Mediashed in einen Selbstläufer zu verwandeln, so dass das Projekt auch ohne persönlichen Dauereinsatz läuft und sich weiterentwickelt und vielleicht sogar Vorbild für andere Projekte an Orten wird, die ebenso wie Southend von einer strukturellen Dauerkrise betroffen sind.
(Armin Medosch)