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Open Source gegen die Macht von "Babylon"

FREIHEITEN
12.12.2009

In Jamaika verknüpft der Künstler und Aktivist Mervin Jarman Konzepte aus dem Bereich der freien Software mit den Traditionen der afrikanischstämmigen Bevölkerung. In seinem zur Medienzentrale umgebauten Container finden Menschen Anschluss ans Internet und erproben neue Möglichkeiten, das Leben in ihrer Gemeinde zu verbessern. Teil vier der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Freiheitskämpfer".

Danksagung:

Dieser Artikel wurde nur durch die Unterstützung der australischen Künstlerin und Forscherin Francesca da Rimini möglich, die Mervin Jarman mehrfach interviewt und dem Autor ihre Forschungsmaterialien zur Verfügung gestellt hat.

Palmers Cross ist ein verwunschener Ort, heißt es. Die Kleinstadt liegt an der Südküste Jamaikas, ungefähr in der Mitte. Ihre Geschichte ist gezeichnet vom brutalen Kolonialismus der Zuckerplantagen. Über Jahrhunderte wurden Westafrikaner als Sklaven in die Karibik verfrachtet und mussten dort unter unmenschlichen Bedingungen für ihre englischen Kolonialherren schuften. Elementare Schulbildung wie Lesen und Schreiben wurde den Entrechteten bewusst vorenthalten, da sie dadurch ja auf das System gefährdende Ideen hätten kommen können. Diese Geschichte hinterließ Spuren, die bis heute nachwirken.

1962 kam die Unabhängigkeit, aber schon in den 70er Jahren brach eine Welle politischer Gewalt aus. Der sozialdemokratische Premier Michael Manley wurde von seinem konservativen Gegner mit allen Mitteln bekämpft. Gedungene Banden warben in den Ghettos mit Waffengewalt für Wählerstimmen. Der Notstand wurde ausgerufen, die Polizei erhielt Sondervollmachten und ging ihrerseits brutal gegen die Gewaltgangs vor. In den 80er Jahren wurde die Insel zum Transitknoten für kolumbianisches Kokain. Bewaffnete Banden kämpften nun um das Monopol für den Drogenhandel in ihrem Revier. Eine "Gun-Culture" entstand, die Schusswaffe wurde zum männlichen Statussymbol. Die meisten Straftaten werden von jungen Männern zwischen dem 13. und dem 30. Lebensjahr begangen.

Bildung ist Frauensache

In Jamaika ist es Sitte, dass die Frauen bei der Bildung bevorzugt werden, sofern sich eine Familie Bildung überhaupt leisten kann. Denn die Frauen führen den Haushalt, sie müssen wirtschaften können. Die Männer werden früh auf die Straße geschickt, schon als Teenager wird von ihnen erwartet, dass sie zum Familieneinkommen beitragen.

Da es kaum reguläre Jobs gibt, treiben sie in den "informellen" Sektor ab, wie es der jamaikanische Sozialwissenschaftler Barry Chevannes in seinem Buch "Learning to Be a Man. Culture, Socialization, and Gender Identity in Five Caribbean Communities" beschreibt.

Der Container

Die Lage in Palmers Cross ist heute nicht mehr ganz so hoffnungslos wie noch vor wenigen Jahren. Die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität sind immer noch hoch, die Polizeigewalt willkürlich. Doch auf einem Stück Grasland steht ein kanarigelb angestrichener Container, in dessen Längsseite drei große Fensteröffnungen hineingefräst wurden. Innen befinden sich ca. 15 Computer, ein wahres Sammelsurium neuerer und älterer Geräte, hauptsächlich PCs, auf denen Linux läuft, aber auch einige Macs und einige PCs mit Windows.

Hier können Menschen aus der lokalen Community für einen sehr geringen Preis oder auch gratis, wenn sie einkommenslos sind, Computerkurse besuchen, Grafikdesign, Desktop-Publishing, Audio- und Videoschnitt lernen oder einfach das Internet benutzen. Obwohl der Container mit - für die hiesigen Verhältnisse - wertvollem Hightech-Equipment vollgestopft ist, wurde noch nie eingebrochen, nichts gestohlen. Mervin Jarman, der Initiator des Projekts, hat "die Burschen von der Straßenecke" geholt, sie haben den Boden gelegt, die Wände isoliert, die Fenster in die Seitenwände geschnitten.

Kontakt mit den Gangs

Jarman unternahm auch den cleveren Schachzug, Mitglieder rivalisierender Gangs für die Bewachung des Containers zu gewinnen. So kamen sie miteinander ins Gespräch, fanden heraus, dass sie mehr gemeinsam als gegeneinander haben. Die Gewalt, zumindest in der unmittelbaren Nachbarschaft des Containers, nahm ab. Die Community hat einen Mittelpunkt gefunden, etwas, das ihnen gemeinsam gehört, auf das sie stolz sein können.

Jamaika pflegt eine Kultur der Kreativität, vor allem im musikalischen Bereich. "Eine kompensatorische Verfeinerung der musikalischen Künste, verursacht durch den gewaltsamen Ausschluss von Bildung", nennt es der britische Cultural-Studies-Autor Paul Gilroy, Verfasser des Buchs "There Ain't No Black in the Union Jack". Schon in der Jazz-Ära nahmen jamaikanische Musiker eine wichtige Rolle in den großen Swing-Bands ein. In den 50er Jahren begannen sie, den Rhythm 'n' Blues aus den USA zu importieren, und machten daraus etwas Eigenständiges, den Ska. Gleichzeitig erfanden die Jamaikaner das mobile Soundsystem, es folgten die Musikstile Rocksteady, Reggae, Dub, Raggamuffin, Dancehall - musikalisch ist das kleine Jamaika eine Weltmacht.

Digitale Tools für Kreativität

Wenn es nach Jarman geht, soll es das auch bald in digitaler Kreativität sein. "Repatriating Technology" nennt er sein Containerprojekt, also "die Technologie nach Hause bringen". Dabei geht es eigentlich um so viel mehr als Technologie. Eines der größten Probleme ist das fehlende Selbstwertgefühl. Die Technologie soll daher vor allem den ersten Anstoß geben, dass den Leuten "der Knopf aufgeht", dass sie erkennen, dass in ihnen ungeahnte Fähigkeiten stecken. Schon am Tag der Containereröffnung im Jahr 2003 wurde im Scheinwerferlicht eines Trucks ein Musikvideo gedreht, geschnitten und auf den lokalen Server gestellt.

Doch bei den Anwohnern liegt die Hemmschwelle vor der Teilnahme hoch. Viele glauben, Computer und das Internet seien vor allem für reiche Weiße. Am Anfang seien die Leute aus der Nachbarschaft zunächst außen vor dem Container gestanden, hätten sich nicht hineingetraut, erzählt Jarman. Daher die großen Fenster und die bunte Farbe, um Offenheit zu signalisieren. Denn so manche, die zunächst schüchtern durch das Fenster lugten und vielleicht zaghaft eine Maus anfassten, saßen schon bald selbst hinter dem Computer, lernten HTML und Shockwave, Audio- und Videstreams zu kodieren oder sich in digitalen Storytelling-Workshops auszudrücken. Die Technologie wirkt vor allem wie ein Katalysator, ein "magisches" Instrument, mit dessen Hilfe verschüttete Begabungen und Ambitionen freigelegt werden.

Feedback durch Migration

Dass das alles überhaupt gelingen konnte, lag daran, dass Mervin Jarman in Palmers Cross "street cred" besitzt, also Glaubwürdigkeit auf der Straße. Denn er ist dort aufgewachsen und zählte früher selbst zu den "bad boys" an der Straßenecke. Dann ging er nach London und schaffte es, sich IT-Fähigkeiten anzueignen. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Unternehmer mit dem Internetprovider "I and I Net" kam er zur Nord-Londoner Bildungseinrichtung ARTEC. Einer seiner Studiokollegen dort war Richard Pierre-Davis, Londoner mit Wurzeln in Trinidad-Tobago, beider gemeinsamer Lehrer der Medienkünstler Graham Harwood.

Gemeinsam mit ihm und dessen Frau Matsuko Yokokoji bildeten sie den Kern der Mediengruppe Mongrel - siehe Folge drei dieser Serie. Als Jarman im damals noch jungen Web surfte, wurde ihm bald eine große Fehlstelle bewusst. Er fand dort kaum etwas aus seinem eigenen kulturellen Kontext, kaum etwas, das seine kulturelle Identität widerspiegelte. Das frühe Web war eindeutig "weiß" konnotiert. Also baute er eine Website, die dem Einwanderungsschalter in London-Heathrow nachgebildet war, und thematisierte damit die doppelte Hürde, die immer restriktivere Einwanderungspolitik der EU-Mitgliedsstaaten, und die "digitale Kluft" zwischen Nord und Süd im Web.

Erinnerungen an Afrika

In den späten 90er Jahren wurde Mongrel zur international gefeierten Medienkunstgruppe. Jarman und Davis bildeten einen Ableger, MongrelStreet, und konzentrierten sich vor allem auf Workshops mit Jugendlichen in "Inner Cities". In dieser Zeit entstand auch die Idee für das Containerprojekt. Die Begegnung mit digitalen Technologien hatte Jarmans Leben zum Positiven verändert. Der immer leise und sanft - mit jamaikanischem Akzent - sprechende Jarman hatte sich eine neue Identität zugelegt: selbstbewusst statt macho, höflich, ja geradezu extrem liebenswürdig, klar und direkt, wenn es sein muss. Das Projekt "Repatriating Technology" nahm seinen Anfang.

"Repatriation" bedeutete früher in Jamaika die Sehnsucht nach der Rückkehr nach Afrika. Inzwischen ist damit vor allem eine spirituelle Rückkehr gemeint, entsprechend den Lehren des Rastafarianismus. "Ich glaube, ich war von Geburt an ein Rasta", erzählt Jarman. Rastafarianismus ist eine synkretistische Religion, die in den 1930er Jahren entstand, deren Wurzeln aber viel tiefer liegen. Die nach Jamaika verschleppten Westafrikaner mussten nicht nur in den Zuckerfeldern schuften, es wurde auch von ihnen erwartet, dass sie für ihren eigenen Unterhalt sorgten.

Souveräne Orte

Deshalb war es möglich, dass viele eigene kleine Felder oder große Gärten bewirtschafteten. So konnten sich Elemente der afrikanischen Subsistenzwirtschaft halten, des Anbaus und der Ernährungsweisen, der Gebräuche und Riten. Dazu kamen noch die "Maroons", entlaufene oder befreite Afrikaner, die im kargen Hinterland eine unabhängige Existenz führten. Legendär ist "Nanny", die Führerin einer Maroon-Guerillatruppe, die sieben Jahre der britischen Armee Widerstand leistete und Expeditionskorps von bis zu 10.000 Mann Niederlage um Niederlage zufügte. Auch heute noch gibt es einige Maroon-Dörfer, die formal souverän sind, also nicht der nationalstaatlichen Hoheitlichkeit Jamaikas unterstehen, weil sie von den Briten nie dauerhaft unterworfen wurden.

Tief eingeschrieben in die Maroon- und Rasta-Kulturen ist eine auf dem afrikanischen Urkommunismus beruhende Ethik des selbstlosen Gebens und Nehmens. Selbst in den schwierigsten Zeiten während Jarmans Jugend in Palmers Cross war daher nicht alles nur Düsterkeit. "Meine Mutter hat immer allen Essen gekocht", erzählt Jarman, "Wenn wir etwas hatten, selbst wenn es nicht viel war, haben wir es mit anderen geteilt, und die anderen mit uns. Man hat einander auch ausgeholfen, wenn jemand krank war oder bei der Betreuung der Alten." So spielt auch das Essen beim Containerprojekt eine große Rolle, bei jedem Workshop wird gekocht, vegetarisch, aber auch gegrillter Fisch und Jerk Chicken.

Internationale Zusammenarbeit

Wer sich noch nicht traut, an die Computer zu gehen, soll zumindest für alle kochen. Mit dieser Einstellung ist die Container-Community sozusagen prädisponiert für die Verwendung von Open-Source-Software, ohne dass es irgendwie dogmagtisch oder ideologisch aufgefasst werden würde. Man nimmt, was man bekommen und brauchen kann. Der erste Server und die IT-Infrastruktur des Containers wurden vom englischen Hacker Paul Mobbs aufgebaut. Die Computer wurden von James Wallbank und dessen in Sheffield angesiedeltem Community-Recycling-Projekt gespendet. Die kanadische Medienkünstlerin Camille Turner und die Journalistin und Sozialaktivistin Sonia Mills verbringen so viel Zeit wie nur möglich mit dem Containerprojekt.

Das Projekt hätte sich nicht in der Form entwickeln können ohne die aktive Hilfe vieler alter Bekannter Jarmans aus der internationalen Medienkunstszene, die neue Geräte bringen, neue Software installieren, Workshops organisieren. Die Idee der digitalen Allmende trifft in Palmers Cross auf den Community-Geist des Rastafarianismus. Inzwischen ist der Container so weit etabliert, dass an neue Projekte gedacht werden konnte. Das neue Konzept nennt sich iStreet und besteht aus einer fahrbaren Mülltonne mit eingebautem Laptop, WLAN, Soundsystem. Das ist sozusagen der mobile Minicontainer, mit dem Community-Aktivisten zu Straßenecken aufbrechen, um neue Bad Boys und Girls zur Entdeckung ihrer Kreativität anzustiften.

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(Armin Medosch)