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Linux unter dem Affenbrotbaum

FREIHEITEN
19.12.2009

Unter der Regierung von Lula da Silva ist in Brasilien ein weit verzweigtes Netz von offenen Kultureinrichtungen entstanden, die auch dem Gedanken der Freien Software und der Creative Commons verpflichtet sind. Mit dem Segen der Regierung kämpfen Aktivisten gegen Copyright-Exzesse sowohl in den Medien als auch auf dem Agrarmarkt. Teil 5 und Ende der futurezone.ORF.at-Serie "Digitale Freiheitskämpfer".

Meistens sitzen sie zunächst unter dem Affenbrotbaum und reden, erzählt Tatiana Wells. Der aus Afrika importierte Baum bildet in vielen Dörfern im nordwestlichen Brasilien den Mittelpunkt des Gemeindelebens. Wells gehört zu einer Gruppe von Aktivistinnen, die im Auftrag der brasilianischen Regierung ins Landesinnere reisen, Linux auf Servern installieren und Workshops abhalten. Ungefähr 80 Prozent der "Kunden" sind Schulen, der Rest gemeinnützige Organisationen, Kooperativen, Kulturorganisationen.

In den Schulen haben sie es meist mit Lehrerinnen über 45 Jahren zu tun, die der neuen Technik häufig mit einem gewissen Grad an Angst begegnen. "Wir beginnen damit, die Angst vor der Technik abzubauen. Zuerst reden wir, manchmal einen Tag, zwei Tage, dann zeigen wir ihnen die Hardware, wir zerlegen Computer und bauen sie wieder zusammen. Das entmystifiziert die Technik", berichtet Wells. Sie und ihre Kollegen sind im Landesinneren im Nordosten des riesigen Landes unterwegs, in Rio Grande del Norte.

Ein ausgeblutetes Land

Seit 500 Jahren bluten hier "Die Offenen Adern" Lateinamerikas ihre Reichtümer aus, wie es Eduardo Galeano in seinem gleichnamigen Buch beschrieb. Die Schätze der Natur wandern nach Europa, USA und neuerdings immer öfter nach China, wo sie in hochwertige Konsumgüter verwandelt werden. In den Ursprungsregionen kommt wenig an, die Gewinne akkumulieren sich bei einer winzigen Oberschicht, den meist abwesenden Eigentümern riesiger Latifundien.

Die Provinz Rio Grande del Norte ist Zuckerrohrgebiet, endlos erstrecken sich die Felder dort, wo einst fruchtbare und artenreiche Küstenurwälder standen. Als die Portugiesen vor 500 Jahren hier ankamen, waren diese Gebiete so reich, dass die einheimischen Stämme keine Arbeit zu kennen schienen, da die Natur ihre Früchte so üppig produzierte, schwärmte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in seinem Buch "Brasilien, Land der Zukunft". Mit dem glücklichen Leben im Garten Eden war es dann aber schlagartig vorbei, die Portugiesen zwangen die amerikanischen Ureinwohner, für sie zu arbeiten, was diese gar nicht vertrugen.

Urwald und Sozialdemokratie

Die Urwälder an der Küste, die "Matta Atlantica", ein saisonaler Regenwald, ganz anders als der Regenwald des Amazonas, wurde abgeholzt und durch Monokulturen ersetzt. Heute lässt sich die Erde ihre Reichtümer nur noch unter starkem Einsatz von Kunstdünger und industriellen Agrarmethoden entreißen. Die Zuckerrohrernte verlangt den Arbeitskräften so viel ab, dass Erntearbeiter dabei vor Erschöpfung umkommen. Der Lohn reicht trotzdem kaum zum Überleben. Die Kleinbauern, die von Subsistenzwirtschaft leben, eingeklemmt auf den weniger fruchtbaren Landstücken zwischen den großen Plantagen, sind bei Missernten von Hunger bedroht. So wandert seit Jahrzehnten ein stetiger Strom von Menschen aus dem Nordosten nach Süden, in die Großstädte Sao Paulo und Rio De Janeiro, in der Hoffnung auf Arbeit, füllt aber dort zunächst vor allem die Slums auf.

Die Regierung des brasilianischen Präsidenten und einstigen Arbeiterführers Lula da Silva ist innerlich gespalten. Bevor sie 2003 die erste Wahl gewann, hatte sie sich von einem Sammelbecken teilweise radikaler linker Bewegungen in eine sozialdemokratische Partei des "Dritten Weges" frei nach Tony Blair und Gerhard Schröder verwandelt. Das bedeutet, nichts zu tun, was irgendwie radikal aussehen könnte, wie zum Beispiel eine durchgreifende Landreform, denn das würde dem Ansehen des Landes beim internationalen Finanzkapital schaden und könnte Spekulation gegen die Währung auslösen.

Workshops in der Wüste

Lula, wie alle den Präsidenten nennen, befürwortet und unterstützt die Agroindustrie, sie bringt Profite und Devisen. Zugleich möchte die Regierung der Landbevölkerung helfen, den Strom der Flüchtlinge in die ohnehin überfüllten Slums zu stoppen. Daher gibt es Initiativen wie jene des Kommunikationsministeriums, für die Wells und ihre Hackerkollegen unterwegs sind. Manchmal tagelang, in Autobussen, in Landschaften mit einem unerbittlichen Klima, wo es auf der einen Seite unerträglich feuchtheiß ist, während auf der anderen Seite die Klapperschlangen in der Wüste züngeln, erzählt ihr Kollege Ricardo Ruiz. Zweimal wird jeder Ort angefahren, einmal, um den Bedarf zu erfassen, dann um die Geräte zu installieren und die Workshops abzuhalten.

Die besten "Studenten" sollen nach wenigen Tagen in der Lage sein, die Administration zu übernehmen. Das geht nicht immer gut. Das Geld dafür stammt vom Kommunikationsministerium, umgerechnet mehrere Millionen Euro. Durchgeführt wird die Aktion aber von einem großen IT-Unternehmen. Und dem geht es vor allem darum, zahlenmäßig den Plan zu erfüllen, beschwert sich Wells. Eine Nachbetreuung ist nicht vorgesehen, echte Nachhaltigkeit nicht im Programm. Und obwohl Millionen ausgegeben werden, erscheint doch alles wie ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein - angesichts der Größe des Landes und der Vertracktheit der Probleme. Romantisch zwar, aber auch beinahe hoffnungslos.

Taktischer Medieneinsatz

Doch das hat alles eine lange Vorgeschichte. Tatiana Wells studierte in England digitale Mediengestaltung. Dort wurde sie mit dem Konzept der "taktischen Medien" vertraut. Dieses Konzept geht ursprünglich auf eine Konferenz mit dem Namen Next Five Minutes (N5M) zurück, die viermal in Amsterdam abgehalten wurde. Beim ersten Mal, 1993, beschäftigte man sich mit den "Camcorder-Revolutionen" in Osteuropa, dem Beitrag, den unabhängige kleine Medieninitiativen zur Absetzung von Despoten wie Nicolae Ceausescu in Rumänien geleistet hatten.

Später, 1996, 1999 und 2004, beschäftigte man sich vor allem mit dem Potenzial des Internets für politischen Aktivismus. "Wie ist es möglich, einen anderen Mediengebrauch zu initiieren", schrieb Joanne Richardson, eine der Mitorganisatorinnen der N5M-Konferenzen, "wie können wir Solidarität mit jenen ausdrücken, deren Gedanken unterdrückt, deren Sehnsüchte zum Verstummen gebracht wurden? Wie können wir es dabei vermeiden, nicht einfach nur die selbstgerechte Propaganda der Mainstream-Medien durch Anti-Propaganda zu ersetzen?"

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Medien der Globalisierungskritik

Die Tactical-Media-Bewegung hatte in den 90er Jahren einige Erfolge aufzuweisen. Sie unterstützte den Aufstand der Zapatistas in Chiapas, Mexiko, und verhalf den Worten des Subcommandante Marcos zu weltweiter Resonanz. Die Gründung von Indymedia und die erfolgreiche "Battle of Seattle" können indirekt der Tactial-Media-Bewegung zugerechnet werden. Doch diese konnte weder den Kosovo-Krieg noch die Invasion des Iraks beeinflussen.

Die ersten Anzeichen einer gewissen Stagnation des "taktischen" Medienkonzepts am Beginn dieses Jahrtausends konnten Wells nicht daran hindern, diese Idee nach Abschluss ihres Studiums nach Brasilien mitzunehmen und dort Midiatatica zu gründen. Es war 2003 und Lula gerade frisch gewählt. Zur Überraschung aller tauchte bei der Midiatatica-Konferenz in Sao Paulo Gilberto Gil auf, Popstar und neu eingesetzter Kulturminister der neuen Regierung. Nach dieser ersten Fühlungnahme rissen die Kontakte nicht mehr ab.

2005 organisierten Wells und ein Netzwerk an Medienaktivistinnen die Autolabs. Dabei übernahmen sie für Monate einige Telecentros, also Telezentren in den ärmeren Vororten Sao Paulos.

Brasilien ist ein Land von Widersprüchen. Es ist ein reiches Land mit großen, modernen Industrien. Die Hochhäuser auf der Avenida Paulista, der Prunkstraße im Bankenviertel Sao Paulos, brauchen sich vor denen der Fifth Avenue in New York nicht zu verstecken.

Brasilien möchte modern sein, mithalten können. Also richtete schon die Vorgängerregierung unter dem Soziologieprofessor Fernando Henrique Cardoso Hunderte Telezentren ein, damit auch die ärmere Bevölkerung ins Internet kann. Doch in den Telezentren gibt es kaum Schulung, ein wenig Office, Web und E-Mail werden angeboten.

Autolab vs. Telezentrum

Die Autolabs hatten einen ganz anderen Zugang. Mehrere Netzwerke und Initiativen kamen hier zusammen. Metareciclagem ist auf das Recycling von Elektronik- und Computer-Hardware spezialisiert. Estudio Livre konzentriert sich vor allem auf die Produktion und das Livestreaming audiovisueller Medien mit Freier Software. Ebenfalls anwesend waren Radio- und Fernsehpiraten, Graffitikünstler, Hacker und Aktivisten aus vielen Bereichen. Den Kindern und Jugendlichen aus den Slums wurde nicht einfach nur beigebracht, wie man Computer verwendet, sie wurden mit einem ziemlich radikalen Programm zur taktischen Mediennutzung konfrontiert.

Die Formel der Autolabs setzte auf Selbstorganisation, auf Expressivität, auf das Entdecken und Verstärken der eigenen Ausdrucksmittel und auf kollektive Mediennutzung. Die audiovisuelle Medienlandschaft wird in Brasilien vom Konzern Globo TV dominiert wie in sonst kaum einem anderen Land. Die von Globo produzierten Soap Operas, Telenovelas genannt, sind im gesamten portugiesischen und spanischen Sprachraum erfolgreich. Die Bevölkerung stehe unter einer Art Dauernarkose, berichtet David Garcia, N5M-Initiator, von seinem Besuch bei den Autolabs.

Eine Gruppe von Schülerinnen stellte ein "zum Schreien witziges AIDS-Aufklärungsvideo" her, und mittels eines schwachen TV-Piratensenders wurde dieses auf den Großbildschirmen von Video-Hardware-Geschäften "ausgestrahlt". Nach wenigen Minuten wurde zwar die "Normalität" wiederhergestellt, doch diese Episode beleuchtet die einzigartige brasilianische Situation. Was anderswo zu gesetzlichen Sanktionen geführt hätte, erweckte hier den Gefallen der Regierung.

Creative Commons als Brücken der Kultur

Gilberto Gil setzte den Publizisten und Creative-Commons-Fan Claudio Prado als Leiter einer neuen Abteilung für digitale Kommunikation im Kulturministerium ein. Die Aktivisten, die in den Autolabs den Einsatz von Guerrilla-Medieninstrumenten lehrten, wurden zu Abendessen in Prados Wohnung eingeladen. Aus den Gesprächen entstanden Ideen für ein Großprojekt: Pontos de Cultura. Hunderte von unabhängigen kleinen Kulturzentren im ganzen Land sollten zu "Hotspots" der digitalen Kultur im engeren und weiteren Sinn werden.

Pragmatiker vs. Politiker

Sie sollten Internet-Zugang erhalten und eine offene WLAN-Wolke erzeugen, mit Linux-Servern ausgestattet werden, ebenso wie mit Kameras, Mikrofonen und audiovisuellen Bearbeitungstools, alles auf Basis Freier Software, versteht sich. Doch das Projekt stieß von Anfang an auf Probleme. Da ist vor allem einmal die Personalfrage. In der Initiationsphase des Projekts gab es einen harten Kern von rund 80 politisch motivierten Hackern, diese Zahl stieg später auf etwa 300, das aber in einem Land mit 166 Millionen Einwohnern. Und auch wenn der progressive Kulturminister hinter dem Projekt stand: Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, bewilligte Gelder steckten im System fest. Es entwickelten sich Reibereien in der Kerngruppe über die Strategie.

Die Hacker wollten zunächst einige wenige Pontos de Cultura schaffen und diese so weit bringen, dass diese wirklich funktionieren. Dann, meinten sie, könnte das Modell geklont werden. Auf diesem Weg würden auch versierte Mitarbeiter ausgebildet werden, die dann zu neu zu gründenden "Hotspots" gehen könnten. Doch Politiker müssen an Wahlen denken und kurzfristige Erfolge vorweisen können. Claudio Prado bestand darauf, das Projekt gleich im großen Stil auszurollen. Die Differenzen wurden unüberwindlich, und ein Teil der Initiatoren wandte sich von dem Projekt ab.

Copyright und Unfruchtbarkeit

Das führte Wells und ihre Kollegen nach Rio Grande del Norte. Das Projekt des Kommunikationsministeriums erschien zwar inhaltlich weniger ambitioniert zu sein, dafür aber auch neutraler und gab den Aktivistinnen größeren Freiraum. Inzwischen wurden tatsächlich mehrere hundert Pontos de Cultura eingerichtet. Prado legt Wert darauf, zu unterstreichen, dass es ihm besonders wichtig sei, dass das Geld und die Geräte direkt an kulturelle Produzenten gehen, sei es eine Sambagruppe, eine indigene Kulturinstitution oder das Kulturzentrum einer Landarbeitergewerkschaft.

Und Ende 2007 war der Enthusiasmus noch groß, wie sich der Autor bei einem Besuch zum Jahrestreffen der "Pontos" in Belo Horizonte überzeugen konnte. Inzwischen aber trat Gilberto Gil vom Posten des Kulturministers zurück, es hätte seiner Stimme geschadet, lautete die Begründung.

Wie es mit den Hotspots der Kultur weitergehen wird, ist nicht bekannt. Aber auch Wells arbeitet nicht mehr für das Kommunikationsministerium. Freie Software ist ihr zwar immer noch wichtig, und sie reist immer noch mit dem Bus durch den Nordosten, doch inzwischen engagiert sie sich vor allem für Kleinbauern und alternative Nahrungsmittelproduktion.

Der Kampf gegen Copyright verlagerte sich auf die biologische Ebene, es geht nun gegen die Hybridsorten von Mais und anderen Pflanzen, die keine anbaufähigen Samen erzeugen. Stattdessen versuchen die Aktivistinnen, mit den Menschen in den Dörfern den Anbau alter Sorten tragfähig zu machen. Und so trifft man sich einmal mehr unter dem Affenbrotbaum, um über die Zukunft zu reden.

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(Armin Medosch)