40 Jahre Unix: "Wichtiger als die Mondlandung"
Das Betriebssystem Unix ist heuer 40 Jahre alt geworden - im Zeitgefühl der IT-Branche eine Ewigkeit. Veraltet sei das Konzept trotzdem nicht, meint der renommierte Unix-Kenner Peter H. Salus im Gespräch mit ORF.at. Bei der Verbreitung des Systems spielte auch eine Forschungseinrichtung in Österreich eine Rolle. Denn dort wurde 1975 das erste Unix Kontinentaleuropas installiert.
Unix und das Internet seien für ihn "wichtiger als die Mondlandung", sagte Salus am Freitag anlässlich des Symposions "40 Jahre Unix" in Wien. Der Experte, der mehrere Bücher über die Geschichte des Systems verfasste, war auf Einladung der Wirtschaftskammer-Fachgruppe UBIT nach Wien gekommen. Unix ist in vielerlei Hinsicht für die Entwicklung der Informatik zentral. So ist die wichtige Programmiersprache C im Zusammenhang mit dem System entwickelt worden. Auch viele wichtige Tools und Dienste für das Internet sind Teil und Produkt der wilden Evolution von Unix, beispielsweise das E-Mail-System Sendmail oder später auch die ersten Systeme des WWW, die zuerst auf dem unixoiden OS NeXTSTEP liefen.
Unix wurde 1969 von den Programmierern Ken Thompson und Dennis Ritchie an den Bell Telephone Laboratories (BTL) in Murray Hill im US-Bundesstaat New Jersey erfunden. Thompson arbeitete damals am Multi-User-Betriebssystem Multics. Nachdem BTL die Arbeit an Multics aus Kostengründen einstellen ließ, nutzte Thompson die vorhandenen Ressourcen dazu, innerhalb eines Monats die Grundkomponenten von Unix zu erstellen: Betriebssystem, Shell (vulgo: "Kommandozeile"), Editor und Assembler.
Multitasking mit zwei Usern
Der Name Unix ist, wie Salus in seinem Buch "A Quarter Century of Unix" schreibt, eine scherzhafte Reaktion auf das gescheiterte Multics-Projekt. Multics war nämlich die Abkürzung für Multiplexed Information and Computing Service, und da auf Thompsons neuem System zu Beginn nur maximal zwei User gleichzeitig arbeiten konnten, nannte man es Uniplexed Information and Computing Service. Unics wurde sehr schnell zu Unix verkürzt.
Der Rest ist Geschichte - eine komplizierte und gewundene Geschichte, in der sich fast alle Triumphe und Probleme der IT-Branche der letzten 40 Jahre widerspiegeln, vor allem der Streit darüber, ob ein System lieber offen oder proprietär sein sollte. Zu den Paradoxien der Unix-Geschichte gehört es, dass der momentan wohl bekannteste Abkömmling des Systems, nämlich Linux, sich gar nicht "Unix" nennen darf, da ihm die Zertifizierung durch den Markeninhaber Open Group fehlt.
Unix konnte sich am Anfang auch nur deshalb so schnell wachsen und sich verbreiten, weil AT&T, der damalige Eigentümer von BLT, wegen eines Gerichtsurteils dazu gezwungen war, seine geschäftlichen Aktivitäten auf den Telekombereich zu konzentrieren, und das Betriebssystem daher günstig an Universitäten abgeben musste. Die Entwicklungen an den Universitäten wiederum flossen direkt in das Projekt zurück.
Peter H. Salus ist promovierter Linguist. Neben seiner akademischen Arbeit fungierte er unter anderem als Direktor der USENIX Association, der Sun User Group und als Vizevorsitzender der Free Software Foundation (FSF). Von 1987 bis 1996 leitete Salus die Fachzeitschrift "Computing Systems" (MIT Press und USENIX Association).
Salus ist Verfasser mehrerer Fachbücher zur Computergeschichte, unter anderem "A Quarter Century of Unix" und "Casting the Net". Sein Werk "The Daemon, The GNU and the Penguin" ist sowohl als Buch erhältlich als auch kostenlos auf der Website Groklaw zugänglich. Der in Wien geborene Salus lebt in Toronto, Kanada.
ORF.at: Google hat kürzlich sein neues Betriebssystem Chrome OS vorgestellt. Obwohl Chrome OS ein Produkt des Jahres 2009 ist, basiert es doch auf dem Linux-Kernel und ist damit ein enger Verwandter von Unix.
Peter H. Salus: Chrome OS steht zu Unix in einem engen Verwandtschaftsverhältnis. Es ist eine Cousine von Unix, sozusagen.
ORF.at: Was ist so attraktiv an Unix, dass es auch nach 40 Jahren noch als Grundlage für neue Betriebssysteme dienen kann?
Salus: Zunächst ist es ziemlich einfach aufgebaut. Zweitens kann man in Unix mit allen Dateien auf ähnliche Art und Weise umgehen. Drittens kann man die ablaufenden Prozesse einfach miteinander kombinieren. Außerdem kann es portiert werden, womit es auf vielen verschiedenen Rechnerarchitekturen verfügbar ist. Vor Unix waren alle Betriebssysteme nur für einen bestimmten Typ von Maschine geschrieben worden. Die Idee, dass ein System auf verschiedenen Computern laufen sollte, war damals neu.
ORF.at: Diese Konzepte wirken auch im heutigen Web weiter. Mit Unix kam die Idee der Pipes auf, mit denen Textdaten einfach zur Bearbeitung von einem Programm zum anderen weitergeleitet werden konnten. Heute haben Dienste wie Twitter und Facebook Programmierschnittstellen (APIs), die ähnlich funktionieren.
Salus: Das stimmt. In Unix ist es einfach, Daten zur Bearbeitung zwischen spezialisierten Programmen weiterzuleiten. Auch in den heutigen Cloud-Computing-Konzepten ist das wichtig. Die Daten müssen dazu gar nicht auf dem lokalen Computer liegen.
ORF.at: Obwohl Unix wesentlich älter ist als DOS und Windows, kennen die meisten Leute vor allem Microsoft-Betriebssysteme. Worin besteht für Sie der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Welten?
Salus: Ich glaube, den meisten Leuten ist es schlicht egal, mit welchem System sie arbeiten. Die meisten Leute verstehen ja auch nicht, wie ihre Autos funktionieren oder wie elektrischer Strom erzeugt wird. Für sie ist es wichtig, dass das Gerät funktioniert, wenn sie es einschalten. Wie auch immer: Mir gefällt es nicht, wie Microsoft arbeitet. Ihre Software ist zu umfangreich, und ich finde, dass sie sie nicht gut genug prüfen. Sie machen Dinge unter der Oberfläche komplizierter, als sie eigentlich sein müssten. Ich glaube - und das ist ein Thema von beinahe religiösen Dimensionen - dass sie Leuten einen Einblick ermöglichen sollten, wie das System unter der Oberfläche funktioniert. Unix, Linux und Minix haben interessierten Anwendern immer erlaubt, unter die Motorhaube zu schauen. Microsoft schweißt sozusagen die Motorhaube zu und erlaubt niemandem, nachzuvollziehen, was da eigentlich passiert. Vor etwa zehn Jahren war ich einmal zu Gast auf dem Microsoft-Campus in Redmond. Man hat mir erlaubt, Einsicht in Quellcode zu nehmen - nachdem ich eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnet hatte. Ich konnte daher keine Details darüber veröffentlichen, schrieb damals aber, dass der Code aussah, als ob ihn ein kleines Kind mit Schere und Kleber zusammengebastelt hätte: übersät mit Fingerabdrücken, die eine oder andere Zeile leicht schief. Für mich war der Anblick eine ästhetische Katastrophe. Mr. Gates hat mir dann gesagt, dass ich den Microsoft-Campus nicht mehr betreten dürfe. Das ist für mich nicht schlimm. Das eigentliche Problem bestand darin, dass sie Hunderte ausgezeichneter Programmierer beschäftigten, die in kleinen Teams zusammenarbeiteten, wobei die Kooperation zwischen den Teams aber schlecht war. Jeder hat etwas produziert, und das wurde dann zusammengebaut. Das ist, als ob hundert Schneider an einem Anzug arbeiten und das Ganze dann am Ende zusammengenäht wird. Manchmal passt es dann nicht ganz. Das Ergebnis ist dann unansehnlich. Etwas, das eher ungeschickt vor sich hinläuft.
ORF.at: Am Ende verwenden aber doch mehr Leute Windows als ein Unix oder ein Unix-Derivat. Inwieweit ist die Offenheit des Systems auch eine Gefahr, speziell für den kommerziellen Erfolg?
Salus: Na ja, die Beobachtung trifft aber nur auf die westlichen Industriestaaten zu. Dort hat Microsoft einen überwältigenden Marktanteil. Ich war aber letzten Monat in Brasilien und kann sagen, dass es in Lateinamerika ganz anders aussieht, auch in Australien und weiten Teilen Asiens. Dort läuft auch auf vielen Desktopmaschinen ein freies Betriebssystem, und Microsoft ist oft in der Minderheit. Für mich sieht es so aus, als ob die meisten Anwender neuerer Microsoft-Betriebssysteme wie Vista und Windows 7 diese nur deshalb verwenden, weil sie vorher Windows XP und dessen Vorläufer benutzt hatten. Sie zahlen dafür das, was ich als Microsoft-Steuer bezeichne, wenn sie einen neuen Rechner kaufen, weil das neue System meistens größer ist und mehr Rechenleistung benötigt als das alte. Wenn eine neue Version einer Linux-Distribution herauskommt, dann kostet das Update nichts. Firmen wie Red Hat und Novells SuSE verdienen Geld mit den Dienstleistungen rund um die Software.
ORF.at: Welche Systeme nutzen Sie selbst eigentlich?
Salus: Ich selbst verwende Computer hauptsächlich als Schreibwerkzeuge, um meine Bücher und Artikel zu verfassen - und für E-Mails. Ich habe zwei Maschinen, mit denen ich hauptsächlich arbeite. Eine läuft unter Fedora und die andere läuft unter OS X Leopard. Ich habe auch ein kleines Notebook, auf dem Minix läuft, weil mir Andrew Tanenbaum (der Schöpfer des Unix-Derivats Minix, Anm.) eine CD-ROM mit der neuesten Version geschickt hat und ich es ausprobieren wollte.
ORF.at: Wenn wir von Unix und Microsoft reden, dann sprechen wir auch über verschiedene Ansätze im Aufbau von Rechnersystemen. Unix wurde zu einer Zeit erfunden, als die meisten Computer noch Großrechner waren, die über dumme Terminals bedient wurden. Bei Gates gibt es dieses Moment der Dezentralisierung: ein eigener Computer auf jedem Schreibtisch.
Salus: Sie dürfen nicht vergessen, dass zwischen den beiden Ansätzen ein gutes Jahrzehnt liegt. 1969, als Dennis Ritchie und Ken Thompson Unix geschrieben haben, gab es noch keine kleinen Computer. Die PDP-11 brachte rund 700 Kilo auf die Waage und war gute zwei Meter hoch. Damals war an Personal Computing im heutigen Sinn noch gar nicht zu denken. Lassen Sie mich eine kleine Anekdote erzählen: 1876 sagte Alexander Graham Bell, der kurz zuvor sein Telefon erfunden hatte, dass niemand so ein Telefon zu Hause wollen würde, weil es die Leute dauernd stören könnte. 1977 sagte Ken Olsen, der damalige Chef der Digital Equipment Corporation (DEC), dass niemand gerne einen Computer zu Hause haben würde. 1988 sagte Bill Gates, dass das Internet für seine Firma nicht von Interesse sei. Das waren Meinungen von drei äußerst intelligenten Männern. Sie hatten aber keine Ahnung, welche Anwendungen die Menschen für die Geräte finden würden, die sie geschaffen haben. Wegen Gates' anfangs negativer Einstellung zum Internet war Microsoft gezwungen, in dieser Hinsicht sehr viel zu überarbeiten und nachzuholen. Die Entwickler von Unix und seinen Abkömmlingen Minix und Linux haben immer versucht, die Systeme an die verfügbare Hardware anzupassen. Daher ging die Entwicklung sehr schnell vonstatten. Es ging ihnen nie darum, einfach nur Code hinzuzufügen. Es ging ihnen um das Integrieren.
ORF.at: Die alte Metapher mit dem dummen Terminal, das an der leistungsfähigen Zentrale hängt, bekam aber durch Google und Cloud Computing wieder Auftrieb – speziell, wenn man sich Chrome OS ansieht.
Salus: Stimmt. Geräte wie das BlackBerry und diese Netbooks, die es mittlerweile schon für 150 Euro gibt, bieten für viele Leute schon genug. Auch wenn man auf dem Flughafen sitzt und sich beim Warten einen Film übers Netz streamen lässt, dann braucht man kein leistungsfähigeres Gerät. Wenn man mehr will, dann nimmt man eben eine schnellere Maschine. Aber ich glaube, dass das Konzept von Google stimmt. Ich kenne viele Leute, die noch bis vor kurzem im "Unix Room" in New Jersey arbeiteten und jetzt bei Google sind. Rob Pike kommt aus den Bell Labs, genauso wie Dave Presotto und Howard Trickey etc. Ich könnte fortfahren. Zahlreiche ihrer Konzepte stammen aus einem Projekt, das eigentlich nicht erfolgreich war.
ORF.at: Plan 9?
Salus: ... Plan 9 und später Inferno, ja. Dave war der Manager von Plan 9. Tom Dove stammt auch aus diesem Projekt. Aber der ist mittlerweile bei Pixar und sammelt Oscars. Diese Gruppe junger Männer hat mit Computern wundervolle Dinge gemacht.
ORF.at: Gegenüber diesen Konzepten des verteilten Rechnens sind aber viele Nutzer skeptisch. Als wir über Chrome OS berichteten, schrieben viele unserer User im Forum, dass sie ihre Daten niemals Google anvertrauen würden.
Salus: Sicher hat jeder von uns Daten auf seinen Maschinen, die wir nicht woanders speichern möchten. Die Anbieter von Cloud Computing sagen, dass alle Daten bei ihnen sicher seien. Dennoch gibt es Dinge, die ich ihnen nicht anvertrauen würde. Ich persönlich lege großen Wert auf Datenschutz und Sicherheit.
ORF.at: Sie schreiben in Ihrem Buch "A Quarter Century of Unix", dass Österreich das erste Land in Kontinentaleuropa war, in dem Unix zum Laufen gebracht wurde, und zwar von Jim Curry, der Version 5 im Jänner 1975 auf einer PDP-11/45 im International Institute for Applied Systems and Analysis (IIASA) in Laxenburg installierte. Nun ist die Ausgabe des Buchs, die mir vorliegt, 1995 erschienen. Stimmt diese Information noch?
Salus: Ja, so viel ich weiß, stimmt das. Niemand hat bisher dagegen Einspruch erhoben. Aber aufgepasst: Es ist die erste Installation in Kontinentaleuropa. In Großbritannien gab es schon vorher eine Unix-Installation. Aber auf dem Kontinent war die Installation in Laxenburg allen meinen Informationen nach die erste.
ORF.at: Nicht schlecht!
Salus: So ist es. Bemerkenswert ist es auch deshalb, weil damals Computernetzwerke noch kaum verbreitet waren. Man musste alles mit der Post durch die Gegend schicken. Die Verbreitung von Unix ging für damalige Verhältnisse trotzdem schnell vor sich.
(futurezone/Günter Hack)