Peru: Ein Laptop für jedes Schulkind
Seit 2007 stattet Peru im Rahmen der Bildungsinitiative "One Laptop per Child" (OLPC) alle öffentlichen Grundschulen mit dem Bildungsrechner XO aus. Tanja Kohn, Lektorin an der Universität Innsbruck, ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit im Abstand von einem Jahr zweimal nach Peru gereist. Im Interview mit ORF.at spricht sie darüber, wie der Computereinsatz den Schulalltag verändert hat.
Das Bildungsministerium in Peru hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2011 alle Schüler öffentlicher Grundschulen mit dem XO auszustatten. Der unter der Ägide des US-Informatikprofessors Nicholas Negroponte entwickelte Bildungsrechner wurde unter dem Schlagwort "100-Dollar-Laptop" bekannt, wenngleich es Negropontes OLPC-Initiative nicht gelungen ist, dieses Preisziel zu erreichen. Einige Länder haben das Angebot der Initiative dennoch angenommen. Ein Blick auf die Landkarte der OLPC-Initiative zeigt, dass derzeit neben Peru nur Uruguay die Lerncomputer in landesweiten Bildungsprojekten einsetzt.
Im Rahmen ihrer Dissertation über die OLPC-Initiative in Peru hat sich Kohn das Pilotprojekt in dem 500-Einwohner-Ort Arahuay sowie in drei weiteren Schulen in der Region Ancash näher angesehen. Um eine vergleichende Studie erstellen zu können, war sie 2008 und 2009 jeweils für sechs Wochen vor Ort.
Fehlender Internet-Anschluss
Die Interviews mit den Beteiligten zeigten, dass die Schüler sehr positiv auf die neuen Lerngeräte reagierten und weniger oft der Schule fernbleiben. Das Lehrpersonal sieht das Projekt wiederum sehr gemischt: Während sich unerfahrene Lehrer nach einem Jahr mit dem Laptop begeistert zeigen, hat sich die ursprüngliche Euphorie beim fachkundigen Personal eher gelegt. Sie würden sich etwa einen Internet-Anschluss wünschen, für den zumeist jedoch kein Geld zur Verfügung steht.
Die Finanzierung ist einer der heikelsten Aspekte des Projekts. Bisher wurden vom peruanischen Staat 252.000 Stück des XO angekauft. Dabei übernahm die Regierung aber nur die Kosten für die Hardware. Die Schulen, die dazu verpflichtet sind, am Projekt teilzunehmen, sollen hingegen alle weiteren Kosten übernehmen, etwa jene für die Lehrerweiterbildung und eben den Internet-Zugang an den Schulen, sofern dieser gewünscht ist.
Auch in Österreich kommt der XO zum Einsatz. In Rahmen eines Projekts wird seit Mitte November 2008 in einer Grazer Volksschulklasse mit dem Bildungsrechner unterrichtet. ORF.at hat die Klasse besucht und an einer Unterrichtsstunde teilgenommen.
ORF.at: Welche Ziele verfolgt die peruanische Regierung mit der OLPC-Initiative?
Tanja Kohn: Allgemein geht es darum, Lesen und Schreiben sowie die vier Grundrechnungsarten zu lernen. Konkrete Ziele für den Umgang mit den Notebooks gibt es auf zwei Ebenen: zum einen den Umgang mit den neuen Medien lernen, zum anderen die Fähigkeiten der Kinder aus ländlichen Schulen ausbauen und denen der Kinder aus urbanen Schulen angleichen.
Lehrer sollen mit dem Projekt ihre pädagogischen Fähigkeiten erweitern und damit die Qualität der Lehre auf ein höheres Niveau bringen. Schließlich soll vor allem auch die Analphabetenrate gesenkt werden.
Im Fokus der Regierung lagen zu Beginn die Schulen in ländlichen Gebieten. Im Moment sehen die Auswahlkriterien so aus: Die Schule muss sich im ländlichen Raum befinden und über Elektrizität verfügen, so dass die Schüler die Geräte dort aufladen und zu Hause nutzen können, wo es nicht immer Strom gibt. Zudem müssen es Schulen mit Mehrstufenklassen sein, das heißt Schulklassen, in denen der Lehrer zwei oder mehr Jahrgänge zugleich unterrichtet. Zu Beginn wurde insbesondere der dritte Punkt sehr streng gehandhabt, jetzt ist er nicht mehr so relevant. Nach und nach sollen alle öffentlichen Grundschulen versorgt werden, auch jene in urbanen Gebieten.
ORF.at: Konnten Sie in Erfahrung bringen, wie viel die Laptops die peruanische Regierung kosten?
Kohn: Angeblich sollen sie 180 Dollar pro Gerät bezahlt haben. Wie viel sie genau bezahlt haben, wollten sie mir nicht sagen.
Tanja Kohn ist Lektorin am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Innsbruck. Für die komparative Fallstudie, die sie im Rahmen ihrer Dissertation zum OLPC-Projekt in Peru macht, begleitete sie 2008 und 2009 vier Schulklassen für mehrere Wochen.
ORF.at: Wie sieht die organisatorische Umsetzung des Projekts aus? Wie kommen die Schüler zu ihren Laptops?
Kohn: Das Bildungsministerium selektiert derzeit Schulen in Peru. Die Vision ist, bis Ende der Regierungsperiode 2011 Laptops für alle Schüler aller öffentlichen Grundschulen zu haben. Derzeit sind nur ausgewählte Schulen in allen 26 Regionen versorgt. Laut Ministerium wurden bis dato 252.000 Stück eingekauft.
Nach dem Kauf werden die Rechner im Bildungsministerium einer Qualitätsprüfung unterzogen und konfiguriert, also aktuelle Programmversionen hinaufgespielt und Spracheinstellungen vorgenommen. Zum Schluss werden sie registriert und bekommen einen Code. Danach werden sie an die Bildungsabteilungen der Regionen und von dort weiter an die Kommunalverwaltungen versandt, die sie an die Schulen verteilen.
Die Schulen werden offiziell einmal jährlich evaluiert und begleitet. Das erledigt der IT-Spezialist, von dem es in jeder Kommunalverwaltung einen gibt und der unter anderem für die Betreuung des OLPC-Projekts zuständig ist. Diese Person verfügt über eine technische Ausbildung und kann nach einer Einschulung auch kleinere Reparaturen vornehmen.
Lehrerhandbuch des peruanischen Bildungsministeriums (PDF):
In Peru wirkt das Projekt im Gegensatz zu Nepal etwas unstrukturiert. Es gibt sehr viel Bürokratie, und deshalb sind viele nur mit dem halben Herzen dabei. In Nepal hingegen wird OLPC von einer Hilfsorganisation umgesetzt, die ausschließlich für das Projekt zuständig ist. Das soll sehr gut ablaufen.
Auch die für das Projekt ausgewählten Lehrer werden ausgebildet. Jeder von ihnen bekommt einen Laptop, und idealerweise gibt es davor eine fünftägige Einschulung, einen technischen und pädagogischen Leitfaden für den Einsatz. Vorgesehen ist auch, dass die Lehrer einmal jährlich eine Fortbildung bekommen, die vom IT-Spezialisten durchgeführt wird.
ORF.at: Der empirische Teil Ihrer Arbeit ist eine komparative Fallstudie, das bedeutet, die Beobachtungen und Aufzeichnungen vom ersten Peru-Besuch werden mit jenen vom zweiten Aufenthalt verglichen. Welche Veränderungen sind Ihnen aufgefallen?
Kohn: Mir ist aufgefallen, dass viele Schulen versucht haben, die Infrastruktur zu verbessern, etwa hinsichtlich der Versorgung mit Elektrizität. Bei meinem ersten Besuch 2008 kam es häufig zu kleinen Stromschlägen, die man beim Berühren der PCs bekam. Jetzt sind die Leitungen viel besser geerdet, diesmal passierte mir das nicht mehr.
Natürlich hat sich auch der Umgang mit den Geräten verbessert. Während es 2008 noch 20 Minuten dauerte, bis alle Kinder den Laptop gestartet hatten, war das heuer nur noch eine Frage von wenigen Minuten.
Stark bei meinem Befragungen aufgefallen ist mir auch, dass Lehrer, die zu Beginn sehr motiviert waren, nach einem Jahr weniger enthusiastisch waren. Während die anderen Lehrer, die sich zu Beginn nicht so gut auskannten und eher skeptisch waren, heuer viel begeisterter waren.
ORF.at: Wie erklären Sie sich das?
Kohn: Ich glaube, das ist ein normales Phänomen: Jene, die den Umgang mit dem PC erst neu lernen mussten, sehen nun die Vorteile. Lehrer, denen der Umgang mit PCs bereits vertraut war, bedauerten zum Beispiel, dass es kein Internet gibt und dass sie nicht mit anderen Schulen kommunizieren können. Sie hätten etwa auch gerne Blogs mit den Kindern gemacht, um sich nach außen hin zu präsentieren. Wenn der Laptop nur ein weiteres elektronisches Buch ist, hat er ihrer Ansicht nach keinen Mehrwert. Die Regierung sagt darauf, dass die Vernetzung via Internet kein primäres Ziel ist und die Finanzierung in der Hand der Kommunalverwaltung liegt.
ORF.at: Wie haben die Kinder auf die neuen Lerncomputer reagiert?
Kohn: Die Absenzquote der Kinder hat sich verringert. Sie freuen sich über die Arbeit mit dem Laptop und bleiben deshalb dem Unterricht seltener fern. Mit den Laptops können sie Musik machen, zudem verfügen sie auch über Kameras, so dass sie sich gegenseitig filmen können. Das haben sie zu Hause einfach nicht. Verglichen mit den Klassen ohne Laptops ist auch auffällig, dass sich die Kinder sehr häufig untereinander helfen und sehr lösungsfreudig sind.
Zu Beginn war angedacht, dass die Kinder die Geräte auch mit nach Hause nehmen. Die Laptops verfügen über Akkus mit 1,5 Stunden Laufzeit. Eigentlich tragen die Kinder beziehungsweise ihre Eltern auch die Verantwortung für die Geräte. Jedoch haben sich Eltern gehäuft darüber beschwert, dass die Kinder zu viel damit spielen und nicht mehr so viel im Haushalt mitarbeiten würden. Einige Schulen beschlossen daraufhin, die Geräte nicht mehr außer Haus zu geben. Bei anderen Schulen gab es wiederum das Problem, dass sie ausgeraubt wurden und deshalb gar nicht wollten, dass die Geräte in der Schule gelagert werden. Einige haben das Problem so gelöst, dass sie einfach mehr Sicherheitsmaßnahmen getroffen haben wie etwa bessere Zäune rund um das Schulgebäude.
ORF.at: Wie sieht der Unterricht mit den Laptops aus? Wie setzen die Lehrer den Computer ein?
Kohn: Klassisch wird der Laptop im Kommunikationsunterricht - vergleichbar mit unserem Deutschunterricht - eingesetzt. Die Kinder bekommen etwa die Aufgabe, hinauszugehen und Fotos zu machen. Diese sollen sie dann abspeichern und dazu Texte produzieren. In fortgeschrittenen Klassen sollen die Schüler etwa zu Hause filmen und eine schriftliche Nacherzählung zu den Aufnahmen machen. Verwendet wird der Laptop auch im Mathematikunterricht als Taschenrechner, wobei generell darauf geachtet wird, dass die Kinder Aufgaben auch ohne Laptop lösen und nicht schummeln. Durchschnittlich ist es etwa eine Unterrichtsstunde pro Tag, die die Kinder mit dem Laptop verbringen.
Auffällig war, dass die Kinder sehr viel allein erkunden und sehr oft auch schon mehr wissen als die Lehrer. Generell waren die Kinder aber oft sehr langsam in der Ausführung. Mir wurde gesagt, dass das sehr viel mit der schlechten Ernährung und der damit einhergehenden schlechten Konzentrationsfähigkeit zu tun hat.
ORF.at: Was sind die häufigsten Probleme der Projektklassen, wo gibt es Ihrer Meinungen nach noch Verbesserungsbedarf?
Kohn: Ein großes Problem ist die Beschaffung von Ersatzteilen. Gibt es einen Schaden, der nicht vom lokalen IT-Verantwortlichen behoben werden kann, muss das Gerät in die Zentrale nach Lima gesandt werden. Der Laptop fällt dann für bis zu drei Monate aus.
Die Kinder haben den sorgsamen Umgang mit den Geräten erst lernen müssen. Zu Beginn haben sie etwa oft Buchstaben aus der Tastatur herausgenommen, was dann zu einer Fehlfunktion der Taste führte und lokal nicht repariert werden konnte. Der Lerneffekt war wie mit der Hand auf der heißen Herdplatte, so etwas kommt jetzt nicht mehr vor.
In den regionalen Gebieten Perus ist es oft sehr staubig. Sobald die Kinderhände etwas schmutzig sind, funktioniert das Touchpad nicht mehr fehlerfrei. Das ist ein sehr häufiges Problem und führt bei den Kindern zu Frust, vor allem wenn sie mit Malprogrammen wie dem installierten Pink arbeiten müssen. Natürlich werden sie dazu aufgefordert, sich immer die Hände zu waschen. Wenn sie draußen arbeiten, hilft das aber auch nicht.
Die Beschwerden der Eltern über die Spiele, die auf dem Laptop installiert sind, könnten mit mehr Aufklärungsarbeit gelöst werden. Die Eltern sehen in den Spielen kein Ziel. Hier müsste mehr darüber informiert werden, dass Spiele wie Memory und Puzzles auch einen pädagogischen Wert haben. Mir ist schon auch aufgefallen, dass in Schulen mit Internet die Kinder auf sehr viele Spieleplattformen gehen.
Beschwerden gab es auch seitens der regionalen Verwaltungen gegenüber der nationalen Regierung. Sie verlangen eine finanzielle Unterstützung bei den Kosten für die Lehrerausbildung, die Fahrten des IT-Experten oder die Einrichtung eines Internet-Zugangs an den Schulen. Die Lehrer lösen das Online-Problem großteils so, dass sie selbst Programme aus dem Internet besorgen und dann in der Schule auf die Rechner der Kinder überspielen.
In Peru wird im Allgemeinen sehr wenig Geld in die Bildung investiert, es sind gerade einmal 2,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Deshalb kämpfen die regionalen Verwaltungen mit den Kosten. Die Regierung ist der Meinung, dass sie diese Kosten dennoch selbst übernehmen müssen.
ORF.at: Welche Software ist auf den Lerncomputern installiert? Ist sie für den Unterricht geeignet?
Kohn: Nach zwei Jahren lassen sich Defizite bei der Software erkennen. Es werden viel mehr Programme benötigt. Es gibt zum Beispiel kein Programm in Quechua, der Sprache der peruanischen Indigenen, dafür gibt es viele Programme in Englisch oder auch in Deutsch, womit sie nichts anfangen können. Die installierte Offline-Version von Wikipedia enthält ebenso keine Informationen zu den Inkas oder Quechua.
Es fehlt auch an altersgemäßen Programmen für die Erst- und Zweitklassler und einer Abstimmung der Schulbücher mit den Laptops, was etwa beim OLPC-Projekt in Nepal sehr gut umgesetzt wurde. In Peru fehlt den Regierungen der Weitblick, weil etwa Angestellte der regionalen Behörden oft nur ein Jahr tätig sind und sich Neulinge wieder mit dem Thema neu auseinandersetzen müssen. Mit mehr Evaluierungen ließe sich hier einiges verbessern, vor allem wenn diese auch veröffentlicht würden. Meines Erachtens wurde noch nicht erkannt, wie wichtig Evaluierungen sind.
Kritisiert wurde von Lehrern zum Teil auch die Wartung. Das System ist so konfiguriert, dass am 31. Dezember zu Mitternacht die Registrierung abläuft. Danach müssen die Geräte vom regionalen IT-Experten mit einem neuen Code reaktiviert werden. Im Zuge dieser Arbeit werden auch mittels USB-Stick, der zuvor von der Regierung an die Regionen versandt wurde, die Software-Updates eingespielt. Bei der Version für 2008 waren etwa 39 Programme drauf, das Update für 2009 beinhaltet bereits 49 Programme. Zum Teil ist aber ein Update gar nicht gewünscht, weil damit alle lokal gespeicherten Daten verloren gehen.
ORF.at: Wie sieht der Blick in die Zukunft aus? Hat das Projekt Bestand?
Kohn: Die peruanische Regierung plant bereits ein neues Programm. Mit "WeDo" soll das Lego-Toolkit Mindstorms zum Basteln von Robotern zum Einsatz kommen und auf das OLPC-Projekt aufbauen. Ich finde das sehr positiv, weil ich die Befürchtung habe, dass nach Ende der Legislaturperiode dieser Regierung auch das OLPC-Projekt endet. Wenn es mehr Projekte gibt, dann ist die Fortführung eher gesichert.
ORF.at: Wie ist nach diesen Erfahrungen Ihre persönliche Meinung zu diesem Projekt?
Kohn: Ich finde das Projekt sehr interessant. Es wäre sehr gut, wenn das Projekt etwas strukturierter und damit auch effizienter umgesetzt werden würde - wie etwa bei der NGO in Nepal. Im Allgemeinen sollte man aber solchen Projekten gegenüber nicht von vornherein negativ eingestellt sein. Es kommen oft die Argumente, dass das Geld in "wichtigere" Lebensbereiche wie etwa Ernährung gesteckt werden sollte. In Peru gibt es auch für Ernährungs- und Hygieneprogramme Budget.
Der Bildungssektor mit seinen Programmen ist durchaus auch wichtig für die Entwicklung eines Landes - zumindest langfristig gesehen. Mit dem OLPC-Projekt kommen nicht nur die Schüler an Informationen, an die sie sonst nie herankommen würden, sondern auch ihre Eltern und Geschwister sowie natürlich auch die Lehrer. Kinder sind von Natur aus neugierig, so dass sie den Laptop XO und seine Lernressourcen autonom und unabhängig von ihren Lehrern erkunden, und das, wenn möglich, auch außerhalb der Schule.
(futurezone/Claudia Glechner)