© AP/Winfried Rothermel, Deutscher Gerichtssaal

Karlsruhe debattiert Vorratsdatenspeicherung

KONTROLLE
15.12.2009

In der öffentlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht haben sich Befürworter und Gegner der Totalprotokollierung von Telekomverbindungsdaten zu Strafverfolgungszwecken einen Showdown geliefert. Die bisher größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland führte dazu, dass sich das Höchstgericht grundsätzlich mit der Vereinbarkeit anlassloser Speichermaßnahmen mit dem Grundgesetz befassen wird.

Am Dienstag hat vor dem ersten Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe die mündliche Verhandlung in Sachen Vorratsdatenspeicherung (Data-Retention) stattgefunden. Die Verhandlung wurde gegen 18.45 Uhr geschlossen.

Am 31. Dezember 2007 hatte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat), ein Bündnis verschiedener Bürgerrechtsgruppen, eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht. Dieser Beschwerde schlossen sich 34.939 Bürger an - so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Beschwerdeführer sehen sich durch die Vorratsdatenspeicherung in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingeschränkt. Sie sehen die verdachtsunabhängige Speicherung aller Internet- und Telefonieverbindungsdaten zu Zwecken der Verbrechensbekämpfung als unverhältnismäßig an.

Staat vs. Bürger

Außer dem AK Vorrat hatten 2008 auch Bundestagsabgeordnete der Grünen sowie eine Gruppe von FDP-Politikern um den Rechtsexperten Burkhard Hirsch, darunter auch die heutige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Scharrenberger und der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, eine Verfassungsbeschwerde eingebracht.

Unter den zahlreichen Beschwerdeführern befinden sich auch Angehörige von Berufsgruppen, die besonders häufig mit sensiblen Informationen umgehen müssen wie Journalisten, Rechtsanwälte und Steuerberater. Diese fühlen sich durch die Vorratsdatenspeicherung in ihrer Berufsfreiheit verletzt, da diese die Vertraulichkeit ihrer Kontakte beeinträchtige. Eine weitere Beschwerde stammt von der Betreiberin eines Internet-Anonymisierungsdienstes. Da die deutsche Umsetzung der Data-Retention-Richtlinie den Betrieb kommerzieller Anonymisierungsdienste untersage, komme das einem Berufsverbot gleich.

Im Vorfeld der Verhandlung hatten sich unter anderen die deutschen Innenminister Joachim Hermann (CSU, Bayern) und Uwe Schünemann (CDU, Niedersachsen) sowie der Präsident des Berliner Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, für die Beibehaltung der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Man brauche die Daten, um Angehörige krimineller Netzwerke zu identifizieren und Strukturen dieser Netzwerke aufzuhellen, sagte Ziercke am Montag der Nachrichtenagentur Associated Press. Bei der Anhörung vor Gericht sagte Ziercke, es dürfe keine verfolgungsfreien Räume geben, die Behörden bräuchten die Daten aus der Vorratsspeicherung, um gegen Botnetze, Kinderpornografie und Wirtschaftskriminalität vorgehen zu können.

Der Prozess

Das Bundesverfassungsgericht will grundsätzlich über die Speicherpflicht von Telefon- und Internet-Verbindungsdaten entscheiden. Das kündigte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier zum Auftakt der Anhörung an. "Es wird das verfassungsrechtliche Grundsatzproblem zu beleuchten sein, ob eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung über einen Zeitraum von sechs Monaten, wie sie das Gemeinschaftsrecht zwingend vorgibt, überhaupt mit dem Telekommunikationsgeheimnis vereinbar sein kann", sagte Papier.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird voraussichtlich im Frühjahr 2010 veröffentlicht werden. Laut Einschätzung des Salzburger Richters und Internet-Rechtsexperten Franz Schmidbauer gegenüber ORF.at wird das deutsche Verfahren nur indirekt Auswirkungen auf die Umsetzung der Richtlinie in Österreich haben: "Eine direkte rechtliche Auswirkung gibt es gar nicht. Ich denke aber, dass die Meinung des BGH in unserem österreichischen Gesetzwerdungsprozess doch eine gewisse Auswirkung haben wird."

Das rumänische Verfassungsgericht verwarf in einem Urteil vom 8. Oktober 2009 die dortige Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung als verfassungswidrig.

Plädoyers der Beschwerdeführer

Der Berliner Rechtsanwalt Meinrad Starostik, der die über 34.000 Beschwerdeführer des AK Vorrat vertritt, wies in seinem Plädoyer darauf hin, dass Freiheit und unbeobachtetes Leben Grundlage der Demokratie seien. Mit der Vorratsdatenspeicherung könne der Staat die Bürger quasi allwissend überwachen.

Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch bezeichnete die im Gesetz vorgesehenen Datenschutzmaßnahmen als unzureichend. Die Befürworter des Gesetzes wollten jeden elektronischen Atemzug der Bürger speichern. Das sei ein eklatanter Bruch mit dem früher gültigen Prinzip der Datensparsamkeit. Die Grundrechte würden bereits durch die pauschale Speicherung der Daten verletzt, nicht erst durch deren Abruf. Eine anlasslose Datenspeicherung durch den Staat sei nicht akzeptabel. Hirsch warnte vor einem Dammbruch und verwies auf die Speicherung von Flugpassagierdaten und Mautdaten und deren Nutzung durch die Strafverfolger.

Für die Beschwerdeführer der Grünen warnte der Bundestagsabgeordnete Volker Beck davor, das durch das Volkszählungsurteil erreichte hohe Datenschutzniveau in Deutschland zu gefährden. Er plädierte dafür, nicht nur die Zugriffsrechte der Behörden abzuschaffen, sondern die Vorratsdatenspeicherung selbst.

Uneins waren die Vertreter der Beschwerdeführer, ob Karlsruhe wegen der europäischen Implikationen den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorlegen müsste. Während Starostik und der Grünen-Bevollmächtigte Jens-Peter Schneider für eine Richtervorlage plädierten - was eine Premiere wäre -, sah Hirsch das Gericht zur eigenen Entscheidung befugt. Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist auch die EU-Grundrechtecharta Teil des Unionsrechts geworden - und der EuGH kann in diesen Fragen angerufen werden.

Stellungnahmen der Sachverständigen

CCC-Mitglied Constanze Kurz zeigte dem Gericht die technischen Möglichkeiten auf, die den Behörden mit der Vorratsdatenspeicherung zufielen. Auf Grundlage der Daten sei eine präzise Erstellung von Bewegungsprofilen möglich. Kurz verwies auch auf den technischen Fortschritt, beispielsweise auf immer feinkörnigere Erfassung von Standorten über Pico- und Nanozellen im Mobilfunk der nächsten Generation und den Einbau von Notrufboxen in Autos.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar sagte, es bestehe Anlass zur Sorge, da die Behörden immer mehr und immer aussagekräftigere Daten fordern würden. Die Grundrechtseingriffe würden daher zunehmen, die Menschen würden sich in ihrem Verhalten dem Überwachungsdruck anpassen. Schaar sagte, dass alle typischen Straftaten grundsätzlich ohne die Vorratsdatenspeicherung aufgeklärt werden könnten. Auch vor Inkrafttreten des Gesetzes zum Jänner 2008 sei die Polizei erfolgreich gegen Internet-Kriminalität vorgegangen. Die Aufklärungsquote bei diesen Straftaten habe 2007 immerhin bei 82,9 Prozent gelegen.

Auch der Hightech-Verband BITKOM und der Internet-Wirtschaftsverband eco äußerten sich am Nachmittag in ihren Stellungnahmen kritisch gegenüber der Vorratsdatenspeicherung. Die Behörden würden immer umfangreichere Anfragen stellen, nach dem Motto: "Geben Sie uns mal alles, was Sie zu dem Thema haben", so ein Sprecher von eco.

Position der Bundesregierung

Für das Bundesministerium der Justiz sprach in Staatssekretärin Birgit Grundmann. Die Entscheidung des Höchstgerichts werde auch zahlreiche offene Fragen im Umgang mit anderen Sicherheitsgesetzen beantworten, beispielsweise hinsichtlich der Speicherung und Weitergabe von Fluggastdaten. Grundmann vertritt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die selbst zu den Beschwerdeführern der FDP-Gruppe zählt.

Der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers, der Bevollmächtigte der Bundesregierung, verteidigte die Vorratsdatenspeicherung, sie sei notwendig, auch gegen Straftaten vorgehen zu können, die auf elektronischem Weg begangen wurden. Außerdem würden die Kommunikationsinhalte selbst nicht erfasst. Möllers lehnte eine Vorlage des Gesetzes beim EuGH ab, wie sie von den Beschwerdeführern gefordert worden war.

Umsetzung der EU-Richtlinie

Zur Vorgeschichte: Die deutsche Bundestag hatte 9. November 2007 das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung verabschiedet, mit dem die Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung in deutsches Recht überführt wurde. Das Gesetz trat zum 1. Jänner 2008 in Kraft. Es verpflichtet Telekom-Anbieter und Internet-Provider dazu, die Verkehrsdaten aller Telekommunikationsvorgänge für sechs Monate zu speichern und für den Abruf durch Strafverfolger bereitzuhalten.

Die Beschwerdeführer des AK Vorrat, welche die Data-Retention als unverhältnismäßig betrachten und ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt sehen, haben mit ihrer Beschwerde vom 31. Dezember 2007 auch einen Antrag eingebracht, die Vorratsdatenspeicherung wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit durch eine einstweilige Verfügung sofort aussetzen zu lassen. Damit hatten sie nur teilweise Erfolg. Am 11. März 2008 schränkten die Verfassungsrichter den behördlichen Zugriff auf die Vorratsdaten ein, sie dürfen seither nur noch auf richterlichen Beschluss zur Bekämpfung schwerer Straftaten verwendet werden. Am 28. Oktober 2008 erneuerte und der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts diese Entscheidung.

Auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist bereits eine Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung gelaufen. Der EuGH hat am 10. Februar 2009 in einem Urteil zu dieser Klage der Republik Irland zwar festgestellt, dass die Data-Retention-Richtlinie zwar formal korrekt zustande gekommen sei, dabei aber ausdrücklich vermerkt, dass die Richtlinie dabei nicht inhaltlich auf ihre Grundrechtskonformität hin überprüft wurde.

Umfangreicher Datenvorrat

Die Umsetzung der Data-Retention-Richtlinie bringt für die deutschen Provider umfangreiche Speicherpflichten mit sich. In der Mobilkommunikation (Sprache und SMS) werden auch die Standortdaten gespeichert, ebenso die eindeutige Seriennummer (IMEI) der Handys und das Aktivierungsdatum von Prepaid-Karten. Verwendet der User einen IP-Telefoniedienst, so werden die IP-Adressen von Anrufer und Angerufenem gespeichert.

Baut ein Nutzer eine Verbindung zum Internet auf, werden auch hier die Daten mitgespeichert, allerdings gehören die IP-Adresse und die Adressen der aufgerufenen Hosts im Netz nicht zu den Vorratsdaten. Geloggt wird dann aber wieder der E-Mail-Verkehr, und zwar die IP-Adresse des Absenders, die Mail-Adressen von Absender und Empfängern, die IP-Adresse des Mailservers des Absenders, bei empfangenen Mails der Zeitpunkt. Auch beim Abruf von E-Mail-Postfächern werden IP-Adresse und Benutzername gespeichert. Die Inhalte der Mails werden ebenso wenig erfasst wie die Inhalte der Telefonate.

Österreich: Begutachtung bis Mitte Jänner

Auch die österreichische Regierung hat nach langem Zögern am 20. November offiziell den Entwurf für die hiesige Umsetzung der Data-Retention-Richtlinie vorgestellt. Die EU-Kommission hatte 2008 gegen Österreich bereits routinemäßig ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Infrastrukturministerin Doris Bures beauftragte das Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte (BIM) Anfang 2009 damit, einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten. Der Entwurf sieht unter anderem die minimale Speicherfrist von sechs Monaten vor. Die Fahnder sollen nur bei schweren Straftaten und Terrorismus und nur mit richterlichem Beschluss auf die Vorratsdaten zugreifen dürfen - bei Gefahr im Verzug allerdings auch ohne richterliche Genehmigung. Die Fahnder dürfen gemäß Sicherheitspolizeigesetz (SPG) ohnehin bei Gefahr im Verzug ohne richterliche Kontrolle auf Verbindungs- und IP-Daten der Provider zugreifen. Diese durften allerdings laut Gesetz bisher nur so lange gespeichert werden, wie das zur Rechnungslegung nötig war.

Die Begutachtungsfrist läuft, laut Auskunft des Infrastrukturministeriums gegenüber ORF.at, noch bis 15. Jänner 2010; im Februar soll das Gesetz dann im Ministerrat behandelt werden. Innenministerin Maria Fekter (ÖVP) hat bereits vor der offiziellen Präsentation des BIM-Entwurfs Änderungswünsche angemeldet. Das Innenministerium hätte gerne, dass die Sicherheitsbehörden auch ohne richterlichen Beschluss die Vorratsdaten zu präventiven Zwecken nutzen dürfen. Konkrete Änderungswünsche des Innenministeriums sind aber noch nicht an die Öffentlichkeit gekommen. Das ebenfalls beteiligte Justizministerium muss noch festlegen, ab welchem Strafmaß auf die Vorratsdaten zugegriffen werden darf.

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Kritik von FPÖ und Grünen

Da die Artikel 98 und 99 im Gesetzesvorschlag, die den Zugriff auf Handystandortdaten und Verkehrsdaten regeln, nur mit Verfassungsmehrheit im Nationalrat verabschiedet werden können, muss die Regierung zur Umsetzung der EU-Vorgaben auch die Opposition mit an Bord holen. Diese hat im Rahmen des Streits über den Spitzel-Untersuchungsausschuss allerdings vereinbart, bis Ende März den Regierungsparteien keine Verfassungsmehrheit mehr zu geben. Bisher hat diese Vereinbarung zwischen BZÖ, FPÖ und den Grünen gehalten.

Die Grünen haben sich stets gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Harald Stefan, Verfassungssprecher der FPÖ, hat die Data-Retention am Dienstag als "schweren Eingriff in das österreichische Rechtssystem durch die EU" bezeichnet und sich zuletzt in einer Aussendung vom Dienstag gemeinsam mit dem FPÖ-Nationalratsabgeordneten Werner Herbert der Kritik des Datenschutzrats vom Montag angeschlossen.

Hohe Kosten für Überwachung

In Deutschland hat der Internet-Branchenverband eco im März 2008 die Kosten für die technische Umsetzung der Data-Retention auf 300 Millionen Euro beziffert, laut Aussage der Sachverständigen auf der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht fällt pro Halbjahr eine Datenmenge im zweistelligen Terabyte-Bereich an. In Österreich hat das Justizministerium im September 2008 seine Investitionskostenverordnung veröffentlicht, in der den heimischen Telekombetreibern insgesamt 17 Millionen Euro für die Installation technischer Einrichtungen für Überwachungsmaßnahmen in Aussicht gestellt wurden. Darin waren allerdings die Kosten für die Vorratsdatenspeicherung nicht enthalten.

Laut einer 2008 präsentierten Studie des Instituts für Verteilte- und Multimedia-Systeme der Universität Wien wird ein Internet-Provider mit rund 500.000 Kunden für die technische Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung allein im ersten Jahr eine Million Euro investieren müssen. Für den Betrieb würden demnach eine halbe Million Euro im Jahr fällig.

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(futurezone/AP/dpa/AFP)