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Plädoyer für den globalen Chill-out

WEIHNACHTEN 2009
26.12.2009

Die Welt hat ein Jahrzehnt brutaler Expansion der digitalen Finanzmärkte hinter sich. In einer schnellen Folge von Booms, Krisen und Kriegen verzehrten tayloristische und neokybernetische Wirtschaftsideologien Menschen und Material. Zeit, endlich cool zu werden, meint Armin Medosch.

Wenn wir sagen, dass wir "keine Zeit" haben, dann ist damit noch keine objektive Erklärung gegeben, sondern eher eine Art subjektiver Zustandsbericht. So haben Forscher zum Beispiel festgestellt, dass Jugendliche die Tendenz haben, bei der Internet-Nutzung die Zeit zu vergessen, um nach mehreren Stunden ununterbrochenen Surf-Chat-Twitterns plötzlich festzustellen, dass Augen und Rücken schmerzen und aus dem Tag der Abend wurde und aus diesem die Nacht.

Erwachsenen könnte so etwas natürlich niemals passieren. Oder? Medienforscher sagen auch, unsere Gesellschaft habe nur noch ein Kurzzeitgedächtnis, und daran seien die Medien schuld. Der Homo zappiens könne sich kaum an das erinneren, wovon er gerade weggezappt hat.

Weihnachtsserie '09: "Keine Zeit"

Futurezone.ORF.at hat die Schriftsteller Peter Glaser, Marcus Hammerschmitt und Armin Medosch gebeten, je eine Geschichte für die Weihnachtsfeiertage 2009 zu verfassen. Das Motto lautete: "Keine Zeit". Das Redaktionsteam der Futurezone wünscht allen Leserinnen und Lesern ein frohes Weihnachtsfest.

Leben im Weltsystem

Gerade um diesen Verkürzungen zu entgehen, sei hier eine alternative Perspektive vorgestellt. Die Anhänger der Weltsystemtheorie denken in längeren Zeit-Räumen, in Epochen und politisch-historischen Kontinentalverschiebungen. Im Folgenden werden einige Aspekte dieser Theorie und der Zusammenhang zwischen Zeit und der Entwicklung der neuen Medien vorgestellt.

Die Weltsystemtheorie betrachtet es als müßig, Geschichte auf die Grenzen eines Landes zu beschränken. Im Weltsystem bildet die gerade führende Weltmacht das Zentrum, und dessen Wirtschaftssystem gibt den Takt an. Dessen Funktionsweise - die höchstentwickelten Industrien der Weltmacht - wird von allen kopiert und breitet sich so vom Zentrum zur Peripherie hin aus. Wenn man vom Beginn der Globalisierung im Jahr 1492 an die Fortschritte in Transport und Kommunikation untersucht, zeigt sich, dass seither so etwas wie ein Prozess der Raumzeitschrumpfung stattgefunden hat. Die erhöhte Schnelligkeit der Informationsübertragung erlaubte die Ausweitung der Kontrollmöglichkeit auf immer größere Räume. Dem sei hinzugefügt, dass der Seeverkehr und der Ausbau des Postwesens immer schon in Zusammenhang mit dem Handel und dem Bankenwesen standen.

Im Informationszeitalter

Der Aufbau von Telegrafennetzen brachte die entscheidende Beschleunigung. Seit in den 1860er und 1870er Jahren immer mehr transatlantische Telegrafenleitungen ihren regelmäßigen Dienst aufnahmen, langen Nachrichten in Echtzeit - mehr oder weniger - an den Börsenplätzen ein und ermöglichen es, globale Wirtschaftsbeziehungen zu steuern. Sieht man von technischen Details ab und konzentriert sich auf das Prinzip, dann begann das Informationszeitalter schon ungefähr zur Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Gegen Ende des Jahrhunderts ereignete sich erneut ein Schrittwechsel durch das Zusammenkommen mehrerer Erfindungen und deren zunehmende Verbreitung in den Industrieländern. Es begann die Elektrifizierung, das Telefon und die Schreibmaschine setzten sich durch, die drahtlose Telegrafie ab Mitte der 1890er Jahre gab der Globalisierung noch einmal einen kräftigen Schub. Die neuen Transport- und Kommunikationsmittel erlaubten die Skalierbarkeit von Organisationsgrößen, die Konzerne und die Verwaltungsapparate heutigen Stils entstanden.

Was dem einen seine Belle Epoque, ist dem anderen das Zeitalter des Imperialismus: Das britische Empire befand sich auf seinem Höhepunkt - und auch schon knapp vor seinem Ende. Doch das merkte man noch nicht, denn die Londoner Börse war der Finanzplatz Nummer eins, der Ort, an dem die imperialen Abenteuer finanziert und gute Gewinne gemacht wurden.

Weltmacht vor der Ablösung

Wie neuere Versionen der Weltsystemtheorie argumentieren, so z. B. Giovanni Arrighi und Beverly Silver, ist die Dominanz der Finanzmärkte im System immer ein Zeichen dafür, dass eine Weltmacht vor der Ablösung steht - die "Dämmerung" eines Weltreichs hat dann eingesetzt. Während London die Weltmeere regierte und sich dabei finanziell verausgabte, preschten die US-amerikanische und die deutsche Industrie nach vorne, indem sie Wissenschaft und Konzernmacht miteinander verbanden.

Das American System of Manufacture erhielt 1908 einen neuen Namen, als Henry Ford die erste Fließbandproduktionsstätte für Automobile anschaltete. Der Fordismus und damit die "Taktzeit" war geboren, von Amerika erfunden, von Deutschland und Japan perfektioniert und von einem Briten, Charlie Chaplin, in "Modern Times" so wunderbar karikiert. Die Fließbandproduktion wäre nicht möglich gewesen ohne das "wissenschaftliche Management" und die "Zeit- und Bewegungsstudien" von F. W. Taylor. Durch systematische Studien einzelner Arbeitsvorgänge, wobei die Fabrikarbeiter vom Taylorismus als eine Art Mischung aus Roboter und Schimpanse angesehen wurden, versuchte man, jeden Vorgang in einzelne Abschnitte zu zerlegen und dafür die optimale, aus Sicht des Managements also kürzeste Arbeitszeit zu erzielen.

Schneller und effizienter hüpfen

Die Massenproduktion eröffnete in den USA die "Roaring Twenties", der Jazz eroberte die Ballsäle, und die Beschleunigung fand im Lindy Hop ihren adäquaten kulturellen Ausdruck. Dieser sehr schnelle, von Sprüngen und akrobatischen Einlagen gekennzeichnete Tanzstil dominierte in den frühen 1930er Jahren die Harlemer Tanzsäle. Es ist verlockend, sich einen Zusammenhang zwischen den populären Musikstilen einer Ära und der "globalen Taktzeit" vorzustellen, also dem Tempo, das der führende Wirtschaftssektor der Weltmacht erzeugt. Ist man in den 1920ern in Manhattan schneller gehüpft als anderswo? Ist Rock 'n' Roll ohne Detroit-Massenproduktion vorstellbar?

Der Börsencrash von 1929 und die folgende große Depression setzten dem freien Markt und der Börsenspekulation vorerst ein Ende, begleitet von Faschismus und Krieg. Der lange Übergang von der britischen zur US-Hegemonie war mit dem Kriegsende besiegelt. Schon 1944 hatten die Finanzminister der späteren Siegermächte im Ort Bretton Woods die Grundzüge des Wirtschaftssystems der Nachkriegszeit festgelegt, mit dem Dollar als Leitwährung in einem System international fester Wechselkurse. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten führten die Börsen ein eher beschauliches Dasein.

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Krieg und Kybernetiker

Während des Krieges hatten amerikanische Mathematiker, inspiriert von den Methoden Taylors, mit akribischen Aufzeichnungen und statistischen Methoden die Effizienz von Flugabwehrgeschoßen und Fernbombardements gemessen. Diese "Wissenschaft des Todes", genannt Operations Research, lieferte die Grundlage für die Kybernetik, benannt nach Norbert Wieners Standardwerk "Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine" (1948). Der Mensch wurde als Bestandteil eines automatisierten Systems gesehen, dessen Funktionieren auf informationeller Rückkopplung beruhte.

Sehr schnell verbreitete sich die Vision einer kybernetischen Gesellschaft unter Technokraten in Ost und West, wo Produktion und Konsum komplett planbar sein würden, beruhend auf einem Anstieg der Taktzeiten in einem immer dichter geschnürten kybernetischen Befehls- und Kontrollsystem. Wiener bereute es wohl und ließ schon 1950 sein nächstes, allgemeinverständliches Buch folgen (auf Deutsch 1952 als "Mensch und Menschmaschine - Kybernetik und Gesellschaft" erschienen), in dem er vor den Konsequenzen einer Robotersklavengesellschaft warnte.

Militär und Künstliche Intelligenz

Das kam im Amerika der McCarthy-Ära nicht gut an, und die Kybernetik wurde schnell von der Künstlichen Intelligenz als neuer Leitwissenschaft, mit großer Unterstützung des Pentagon, verdrängt. Im neuen Szenario der nuklearen Bedrohung durch Bomberstaffeln und Interkontinentalraketen war der Mensch erstens zu langsam und zweitens eine potenzielle Fehlerquelle. Die USA schickten sich an, das Projekt SAGE zu realisieren, was für Semi-Automatic Ground Environment steht, ein System von Radarstationen, Bunkern und einer zentralen Leitstelle mit dem größten und schwersten jemals gebauten Computer. SAGE gab der noch jungen Computertechnologie und Informatik enormen Auftrieb und war das erste Echtzeitsystem, das Aufklärungs- mit Reaktionsfähigkeit verband.

Als im Oktober 1957 der kleine, kugelförmige Satellit "Sputnik" ein Kurzwellensignal aus der Erdumlaufbahn zu beamen begann, löste das in den USA einen gewaltigen Schock aus und führte zu einer Erneuerung der militärischen Forschungsanstrengungen. 1958 wurde die Advanced Research Projects Agency (ARPA) durch Präsident Dwight D. Eisenhower gegründet. Im Jahr 1962 wurde J. C. R. Licklider Leiter des kurz zuvor gegründeten Information Processing Techniques Office der ARPA und setzte sich stark für die damals neuen Timesharing-Systeme ein, also Computer, deren Ressourcen von mehreren Nutzern gleichzeitig verwendet werden konnten.

Dumme Terminals, schlaue Zentrale

Zahlreiche "dumme" Terminals waren mit Großechnern verbunden, deren Prozessorzeit sich diese "teilten". Licklider initiierte jene Strukturen und Programme, die auf lange Sicht zur Entstehung des Internets führen sollten. Eine gute Geschichte des Timesharing findet sich in "Tools for Thought" von Howard Rheingold. Die immer noch beste Online-Geschichte des frühen Internets und kollaborativer Systeme ist das Netizens Netbook von Michael und Ronda Hauben.

Schon 1964 sah der kanadische Literaturprofessor Marshall McLuhan die Welt durch den Einfluss elektronischer Kommunikationsmedien zum globalen Dorf schrumpfen. Wenige Jahre später verliehen Aufnahmen der Erde von der "Apollo"-Mission diesem Bild greifbare Wirklichkeit. Da war dieser kleine, größtenteils blaue Ball, umzogen von weißen Wolkenschlieren, durchsetzt von einigen braunen und grünen Flecken, den man, aus dieser Perspektive, bequem in die Hand nehmen zu können schien.

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Globale Machtfantasien und Telekommunikation

Globale Machtfantasien und Telekommunikation hatten in einem Bild zueinandergefunden. Im unwegsamen Terrain des vietnamesischen Dschungels jedoch geriet die amerikanische Hightech-Kriegsmaschine trotz Lufthoheit und Agent Orange in einen Sumpf, aus dem es keinen ehrenhaften Ausweg gab. Selbst der mit Hilfe von MIT-Experten und modernsten Hightech-Waffen geführte Geheimkrieg über Laos gegen die vietnamesischen Nachschubwege hatte keinen Erfolg. (Google-Abfragen zu diesem Thema führen übrigens auf dem schnellsten Weg zu den übelsten Verschwörungstheorien; deshalb hier kein Link, sondern der Verweis auf "Imaginary Futures" von Richard Barbrook, Kapitel "The American Invasion of Vietnam", Seiten 228-252).

Als gegen Ende der 1960er Jahre die Massenproduktion ihre Systemgrenzen erreichte, geriet der Dollar als Leitwährung unter Druck. Am Londoner Finanzplatz entstand in den späten 60er Jahren ein Markt für "Eurodollars". In mehreren Schritten wurden zwischen 1971 und 1973 die Eckpfeiler des Bretton-Woods-Systems, die festen Währungskurse und die Dollar-Gold-Konvertibilität abgeschafft. Ein neuer Aufschwung der Finanzwirtschaft setzte ein.

Auftritt der Zeitmaschine

Ebenfalls 1971 produzierte das damals außer bei Brancheninsidern völlig unbekannte Unternehmen Intel den ersten Mikroprozessor, den programmierbaren Mikrocomputer auf einem Chip. Es dauerte noch einige Jahre, bis diverse Freaks in Garagen an der US-Westküste auf dieser Basis die ersten Personal Computer bauten und daraus eine neue Industrie entstehen konnte. Seither beherbergen immer mehr Menschen eine solche Zeitmaschine in ihren eigenen vier Wänden.

Der Ausbau der Telekommunikation und der Einsatz von Computern in der Verwaltung ermöglichten es Unternehmen, die Produktion zunehmend in sogenannte Billiglohnländer zu verlegen. Es entwickelte sich eine neue internationale Arbeitsteilung, wobei der "Kopf" meist im Westen verblieb, während die Fließbandarbeit in den Ländern der Peripherie erfolgte.

Aufschwung der Finanzmärkte

Parallel dazu wurden die Finanzplätze ausgebaut und dereguliert. Der angeschlagene Riese USA erholte sich ab 1986 wieder und wurde auf der Basis der Informationstechnologien und der Dominanz des Börsenplatzes New York, in enger Kooperation mit dem noch stärker liberalisierten Finanzplatz London, erneut zur unangefochtenen Führungsmacht. Als der Fall der Berliner Mauer dem sichtbaren Ausdruck verlieh, sprachen manche gar vom Ende der Geschichte. Der Anflug der ferngesteuerten Raketen auf Bagdad, gefilmt aus der Perspektive des Sprengkopfes, im ersten Golfkrieg wurde zum Symbol dieser "neuen Weltordnung".

Auf der kulturellen Ebene drückte sich der neue Zeitgeist in House und Techno aus. Der Geist von Kraftwerk, vermischt mit Motown-Soul aus Detroit, wurde dank japanischer Billigelektronik zum Sound einer neuen Generation, die paradoxerweise in der Maschinenmusik einen Ausdruck persönlicher Freiheit sah. Das Produktionssystem hatte sich gewandelt, es beruhte nicht mehr auf der direkten Überwachung der Arbeitnehmer, denen jeder Handgriff vorgeschrieben wurde, sondern auf deren freiwilliger Teilnahme an einer um sich greifenden Konsumkultur. Weil sich das System im Zentrum konsolidierte, konnte as an den Rändern die Atome freier tanzen lassen.

Die "Masters of the Universe"

Der unaufhaltsame Aufstieg der Finanzmärkte konzentrierte immer mehr Macht in den Händen der wenigen. Schon 1973 hatten Fischer Black und Myron Samuel Scholes die Black-Scholes-Formel gefunden, ein Modell zur Bewertung von Finanzoptionen. Black war ein Schüler Marvin Minskys, eines der "Väter" der neuen Künstliche-Intelligenz-Forschung, die auf der Annahme beruhte, dass zahlreiche relativ simple, selbstständige "Agenten" zusammen komplexe Systeme ergeben und zu kognitiven Leistungen fähig sein können.

Bemerkenswerterweise tendieren im Black-Scholes-Modell die Handelsintervalle gegen null, das heißt: Der Zeitabstand zwischen Kauf und Verkauf wird immer geringer. Die Innovationskraft der Börsen auf der Basis digitaler Technologien und schneller Netze gab diesen den entscheidenden Vorsprung. An den führenden Finanzplätzen, den Global Citys - New York, London, Tokio -, entstand eine finanzielle Dienstleistungsindustrie, die sich als die "Masters of the Universe" dünkte.

Die unsichtbare Hand der Software-Agenten

Der digitale Finanzkapitalismus entwickelte eine neue wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Leittheorie, die noch in gewisser Verwandtschaft zu frühen Modellen der kybernetischen Gesellschaft stand, aber auf Umwegen und Seitenpfaden viele neue Einflüsse aufgenommen hatte, etwa aus Chaostheorie und theoretischer Physik, der Systemtheorie und der Komplexitätsforschung.

Am Santa-Fe-Institut forschten Artificial-Life-Experten am neuen Paradigma der intelligenten Software-Agenten. Zu einem ihrer wichtigsten Geldgeber zählte die internationale Großbank Citicorp. In den Simulationen der AL-Forscher wurden mehr oder weniger explizit Analogien zur Situation eines "freien Marktes" eingebaut. Die Märkte wurden als sozialdarwinistische Lebenswelten konzipiert, in denen sich durch die unabhängigen Handlungen von vielen Software-Agenten wie von unsichtbarer Hand geleitet ein Gleichgewicht einstellen sollte. Und das lässt sich ganz wunderbar leicht mit den Ansätzen der neoklassischen Wirtschaftstheorie verbinden.

Fun auf dem Infohighway

Eine Finanzkrise 1987 tat dem Optimismus keinen Abbruch, und eine Wirtschaftskrise in den USA Anfang der 1990er Jahre wurde vom System als kurzfristige Delle wahrgenommen. Nach der Wahl Bill Clintons 1992 wurde dessen Vizepräsident, der später gegen Bush so glücklose Al Gore, zum Propagandisten des Information Superhighway. Das Internet wurde privatisiert und allgemein zugänglich, und diese Erfolgsgeschichte führte zu einem Feelgood-Faktor in Teilen des anglo-amerikanisch geführten Systems.

Das beschleunigte Wirtschaftswachstum in den USA und Großbritannien in den 1990er Jahren führte dazu, dass deren Modell, das den Finanzsektor bevorzugte und - im Fall der USA - eng an die New Economy und die Informationstechnologien gekoppelt war, als dem kontinentaleuropäischen System überlegen betrachtet wurde. Hatten kontinentaleuropäische Staaten trotz Strukturwandels und Sozialabbaus noch viele Aspekte eines Sozialstaats bewahrt, so begann man spätestens gegen Ende der 1990er Jahre, auf das anglo-amerikanische Modell umzusteigen.

Pensionen verbrennen

Das führte dazu, dass an den Börsen nicht nur reiche Individuen, sondern auch Pensionskassen, Immobilienfonds, Gewerkschaften und immer mehr kleine Privatanleger ihr Geld einsetzten. Unter dem Gesetz der neuen Ökonomie gab es nur eine Richtung für die Börsenkurse von Hightech-Unternehmen: nach oben. Die Wirtschaft, hieß es, war gewichtslos geworden, die immaterielle Information besiegte alles. Der Schweizer Uhrenhersteller Swatch verkündete im Herbst 1998 die Ankunft der Swatch Internet Time, einer globalisierten Zeit für alle. Die Leute, die im Web surften, auf Mailinglisten oder in Webforen diskutierten, lebten schneller als andere, hieß es, und waren global vernetzt.

Der Takt hatte sich noch einmal beschleunigt, doch er bezog sich nicht mehr auf das Arbeitstempo an den Produktionsstraßen, sondern auf die Mega- und Gigahertz der CPU-Taktgeschwindigkeiten. In den 1990er Jahren setzten die Großanleger auf den Finanzmärkten, insbesondere die Hedgefonds, vermehrt auf die Dienste von "Quants" - Mathematik- und Physikgenies, die nach Modellen aus Chaostheorie, Komplexitätsforschung und Artifical Life immer bessere Software entwickelten, die von den eigentlichen Börsenbrokern schon gar nicht mehr verstanden wurde.

Risiko ausgeschlossen

Dazu kam, dass die Geschwindigkeit der Nachrichtenübertragung selbst immer mehr zum Thema wurde. Die Hedgefonds begannen, die Zeitunterschiede zwischen Börsen auszunutzen, indem sie enorme Mengen an Geld in immer kürzeren Zeitabständen hin und her bewegten. Was dabei nicht beachtet wurde, waren realweltliche Vorgänge, Risiken, wie sie aus der menschlichen Natur oder auch politischen und anderen Vorgängen erwachsen konnten.

Als nach dem Platzen einer lokalen Immobilienblase in Bangkok 1997 viele Anleger ihr Kapital urplötzlich aus den asiatischen "Tigerstaaten" abzogen, glitt die Region in eine ernsthafte Finanzkrise ab. Via Russland und Brasilien traf diese auch noch andere Schwellenländer. Das hätte den ironischerweise so benannten Long Term Capital Management Hedge Fund (LTCM) beinahe in den Abgrund gerissen. LTCM hatte Risiken in Ostasien gegen Russland "gehedgt", weil ja an sich zwischen diesen Regionen kein enger wirtschaftlicher Bezug besteht. Wer hätte annehmen können, dass nervöse Investoren plötzlich aus allen Schwellenländern gleichzeitig ihr Geld abziehen. Der damalige Vorsitzende der US-Reservebank, Alan Greenspan, orchestrierte die Rettung von LTCM und schuf damit einen Präzedenzfall. Seither wussten die großen Banken, dass im Ernstfall der Staat eingreifen würde, weil sie einfach zu groß geworden waren, um pleitegehen zu dürfen

Immobilien statt Cyberspace

Als die New-Economy-Blase 2000 bis 2002 zersplitterte, fand kein Umdenken statt. Die Spekulation erholte sich schnell wieder, und diesmal beruhte sie auf der Wiederversicherung gebündelter Immobilienhypotheken. Die Verkabelung der Welt mit Glasfasern während der Zeit der New Economy hatte die Infrastruktur bereitgestellt. Neue Formeln neuer "Quants" wie die Gauß'sche Copula-Funktion von David X. Li erlaubten es, Modelle für äußerst komplexe Risiken zu bilden. Die Handelsintervalle verkürzten sich noch einmal von Millisekunden auf Mikrosekunden. Inzwischen trachten Investmentbanken danach, ihre eigenen Server physisch möglichst nahe an den elektronischen Börsen zu platzieren, um nur ja keine Mikrosekunden an Latenzzeit zu verlieren.

Dann kam die große Finanzkrise von 2007/2008, doch bisher ist von einem echten Umdenken - trotz einiger Vorschläge wie Transaktionssteuern und Sondersteuern auf Boni - noch nichts zu bemerken. Die Spekulation auf den Finanzmärkten ist, auch wenn sie sich von der produzierenden Wirtschaft in gewissem Sinn abgekoppelt hat, nicht ohne Auswirkung auf die reale Wirtschaft und das reale Leben. Indem die Finanzindustrie zur führenden Industrie geworden ist, lässt sie alle anderen Bereiche nach ihrer Pfeife tanzen. Das äußert sich in einem enormen Druck auf die Wirtschaft, mehr Profit in kürzerer Zeit zu erzielen. Das bedeutet für die Unternehmen, die Kosten noch weiter zu senken, noch flexibler in der Produktion, effizienter im Marketing, noch mehr "Just in time" zu werden. Für die Arbeitnehmer bedeutet das eine zunehmende Prekarisierung ihrer Lebensumstände.

Das Spiel mit der Arbeit

Diese Flexibilisierung ist eine direkte Auswirkung des Funktionsmodus des digitalen Finanzkapitalismus, der nicht mehr darauf angewiesen ist, die Arbeiter in der Fabrik zusammenzudrängen, sondern in dem die ganze Welt Fabrik und Casino zugleich ist. Und das trifft nicht nur auf die Arbeitsumstände, sondern auch auf den Lebensstil zu. In den neuen flexiblen Dienstverhältnissen ist die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aufgehoben worden.

Es ist oft unklar, ob wir nun "arbeiten" oder "nur so" im Netz sind, wenn wir Soziale Netzwerke oder andere Web-2.0-Plattformen benutzen. Aber auch mit dieser "affektiven Arbeit" in den Sozialen Netzwerken tragen wir unweigerlich zur Produktion von Mehrwert bei. Im ubiquitären Web hat sich die "Produktionszeit" in die Nischen unseres Privat- und Alltagslebens eingenistet. "Unsere" Zeit gehört uns also nicht wirklich. Das neue System ist so konfiguriert, dass, wenn wir kommunizieren, es den Mehrwert produziert. Der chaosphysikalische Tanz der Atome und Individuen folgt nun weniger dem Viervierteltakt des Detroit-Techno als den komplexen, sich ständig ändernden Rhythmen des aus Jungle und Drum 'n' Bass entstandenen Breakcore.

Keine Zeit

Giovanni Arrighi und Beverly Silver rätseln in ihrem Buch "Chaos and Governance in the World System" (University of Minnesota Press, 1999) am Ende, ob die USA nun von einem Netzwerk asiatischer Staaten oder einer multipolaren Welt von Großregionen abgelöst werden. Zu einer so schwierigen Frage einen sinnvollen Beitrag zu leisten fühlt sich der Autor nicht berufen.

Doch die These, dass die Übermacht des Finanzsystems immer ein Zeichen dafür ist, dass eine Weltmacht vor der Ablösung steht, klingt plausibel. Und daher auch, dass wir gerade eine solche Phase durchlebt haben und weiter durchleben, in der in Mikrosekundenabständen getätigte Transaktionen auf digitalen Derivatemärkten das Schicksal von Menschen und Nationen beeinflussen können. Es ist daher wohl auch nicht falsch anzunehmen, dass, wenn wir "keine Zeit" haben, der eigentliche Grund dafür das Zeitregime ist, das der Finanzkapitalismus der Welt auferlegt. Wie können wir dem etwas entgegensetzen, die Verfügung über unsere Zeit zurückgewinnen? Mangels wirklich guter Ideen wäre zumindest eine Verlangsamung, ein globaler Chill-out, kein schlechter erster Schritt.

(Armin Medosch)