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Wikipedia in der Relevanzkritik

COMMUNITYS
22.12.2009

Die deutschsprachige Ausgabe der Online-Enzyklopädie Wikipedia ist zuletzt wegen Diskussionen über ihre Relevanzkriterien nach Artikellöschungen ins Gerede geraten. Alteingesessene österreichische Wikipedianer sehen die Debatte gelassen und wollen von einer Krise nichts wissen. Verbesserungsbedarf sehen jedoch einige.

"Die Kleingärtner und Gartenzwergzüchter-Blockwarte haben ernsthaft MOGIS aus der Wikipedia gelöscht", erboste sich der deutsche Blogger und IT-Sicherheitsexperte Felix von Leitner (Fefe) Mitte Oktober in seinem Blog über die Löschung des Eintrags über den Verein MissbrauchsOpfer Gegen InternetSperren (MOGIS) aus der deutschsprachigen Ausgabe der Online-Enzyklopädie. Fefe entfachte damit eine breite Debatte über die Relevanzkriterien der Wikipedia, die vor allem in Deutschland herzhaft ausgetragen wurde und auch dazu führte, dass zahlreiche Nutzer ihre Unterstützung des Vereins Wikimedia infrage stellten.

Diskussionen über das Regelwerk der Wikipedia nahmen zuletzt auch hierzulande zu. "Ich weiß aus Gesprächen, dass die Wikipedia für einige zu bürokratisch geworden ist und es Unzufriedenheit gibt", sagte Thomas R. Koll, der jahrelang Administrator bei der deutschsprachigen Wikipedia war und vergangene Woche zu einer Diskussion über die Relevanzkriterien der Online-Enzyklopädie in den Wiener Hackerspace metalab lud.

"Exemplarischer Fall"

Der Fall MOGIS sei exemplarisch für den Umgang der Wikipedia mit Themen, die in den Medien aufkommen: "Viele Wikipedianer sehen es als zweitranging an, solche Themen zu behandeln, weil sie der Ansicht sind, dass dies Aufgabe der Presse sei und die Wikipedia sich auf Wissen konzentrieren sollte, das nicht mehr im Wandel, sondern fixiert ist", so Koll.

"Debatten wird es immer geben"

Viele der alteingesessenen österreichischen Wikipedianer verfolgen solche Debatten - wenn überhaupt - mit Gelassenheit. "Diskussionen über Relevanzkriterien hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben", meint Kurt Kulac, Obmann von Wikimedia Österreich. "Das legt sich schon wieder."

"Nur ein Anhaltspunkt"

Die Relevanzkriterien der Wikipedia umfassen ausgedruckt fast 35 DIN-A-4-Seiten und sollen Autoren dabei helfen, "die Relevanz zu Artikelbeiträgen zu beurteilen", wie es im Begleittext auf der Wikipedia heißt. Die enzyklopädische Relevanz von Begriffen aus der Mathematik wird dabei ebenso erläutert wie die Beurteilung von Personen, Organisationen, Orten, Unternehmen und Vereinen. Letztere sind unter anderem dann relevant, wenn sie eine "überregionale Bedeutung haben" und "eine signifikante Mitgliederzahl aufweisen".

Die Nichterfüllung der Kriterien führt jedoch nicht notwendigerweise zum Ausschluss des Artikels. "Relevanzkriterien sind im Prinzip nur ein Anhaltspunkt", erläutert Wikipedia-Administrator Karl, der seit 2003 im Schnitt acht bis zehn Stunden pro Woche der Online-Enzyklopädie widmet und nicht mit vollem Namen genannt werden will. "Dadurch wird die Debatte über Artikel vereinfacht."

Ärger mit anonymen Löschanträgen

Der langjährige Wikipedia-Administrator ärgert sich jedoch darüber, dass jeder Nutzer - auch anonym - Löschanträge stellen dürfe. "Da entstehen endlose Debatten. Die Anträge binden einen Haufen Energie", so Karl. "Ich würde die Zeit lieber nutzen, um zu arbeiten."

Wird ein Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia zur Löschung vorgeschlagen, können Nutzer sieben Tage lang über die Löschung diskutieren, bis ein gewählter Administrator eine Entscheidung fällt. "Bei schwierigen Themen wird etwas ausführlicher begründet", so Kulac. Nutzer, die mit der Entscheidung nicht einverstanden sind, haben die Möglichkeit, eine Löschprüfung zu beantragen, die dann von einem anderen Administrator durchgeführt wird.

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Heftige Diskussionen

Wie sehr die Emotionen bei solchen Löschanträgen hochgehen, zeigt sich derzeit bei einem am Samstag zur Löschung vorgeschlagenen, kurz zuvor angelegten Artikel über den kürzlich verstorbenen Gründer der österreichischen Piratenpartei, Florian Hufsky.

"Eine Relevanz ist nicht dargestellt. Hat eine Partei gegründet, die an keinen Wahlen teilnahm, ansonsten ist da nichts", begründete ein anonymer Nutzer, von dem nur die IP-Adresse aufscheint, seinen Löschantrag. Seither wird der Löschantrag nicht nur im Wikipedia-Forum heftig diskutiert. "Ich kann heute die deutsche Wikipedia nicht mehr sehen, weil sie wieder einmal alle negativen Erwartungen erfüllt", schrieb ein Nutzer. Der Löschantrag schlug auch auf der Microblogging-Plattform Twitter Wellen, wo es etwa hieß: "Erst wenn der letzte Artikel aus Wikipedia gelöscht wurde, werdet ihr feststellen, dass ihr Relevanz nicht messen könnt."

"Qualität wird verbessert"

Löschanträge würden in vielen Fällen auch dazu führen, dass die Qualität der Artikel verbessert werde, sagt der langjährige Wikipedia-Administrator Karl: "Im Endeffekt gewinnen die Artikel durch diese Diskussionen, weil die Relevanzen besser dargestellt werden."

"Man könnte das auch als Qualitätssicherung verstehen. Das ist aber eigentlich ein Missbrauch des Löschantrags", meint Philip Kopetzky, der seit 2005 bei der Wikipedia mitarbeitet.

Rauer Tonfall in Diskussionen

Der in den Diskussionen häufig angeschlagene raue Tonfall trägt auch dazu bei, dass potenzielle Autoren von einer Mitarbeit bei der Online-Enzyklopädie absehen. "Das Problem ist, dass etliche Neulinge abgeschreckt werden, weil das Klima aggressiv ist", meint Kopetzky.

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Wachstum verlangsamt

Das Wachstum der Wikipedia hatte sich zuletzt verlangsamt. Forscher des Palo Alto Research Center (PARC) hatten in einer viel zitierten Untersuchung herausgefunden, dass Änderungen und Einträge von Gelegenheitsautoren weit öfter gestrichen würden als solche von regelmäßigen Autoren. Das Forscherteam leitete daraus ab, dass es in der Wikipedia-Community wachsenden Widerstand gegen neue Inhalte gebe und es für neue Autoren zunehmend schwieriger werde, Inhalte in der Online-Enzyklopädie zu publizieren.

Rückgang bei Gelegenheitsautoren

Auch für die deutschsprachige Wikipedia weisen einschlägige Statistiken eine Abnahme bei den Gelegenheitsautoren aus. "Der Kernbereich verdichtet sich", meint Wikimedia-Österreich-Obmann Kulac. "Die Gruppe jener, die seit eh und jeh dabei sind, leistet viel und erfüllt nach wie vor ihr Pensum."

Einige Wikipedia-Administratoren sehen in der Relevanzdiskussion aber auch ein indirektes Kompliment für die Online-Enzyklopädie. Für einen Neueinsteiger sei es heute wesentlich schwieriger, Themen zu finden, die relevant seien und noch nicht vorkämen, hieß es bei der Diskussion im metalab: "Das ist ein Zeichen daür, dass die Wikipedia in puncto Allgemeinwissen beinahe vollständig ist."

"Mangel an Arbeitern"

Es fehle nicht an Vielfalt und neuen Autoren, sondern an Menschen, die bereit seien, die Drecksarbeit zu machen, meinte hingegen Kurt Jansson, Wikipedia-Autor und langjähriger Pressesprecher von Wikimedia Deutschland, vor kurzem in einem Debattenbeitrag im "Spiegel" (Online-Ausgabe): "Es herrscht ein Mangel an Arbeitern, an Redakteuren. Wikipedia wird überflutet von Änderungen. (...) Oft sind es Verbesserungen, Korrekturen, Ergänzungen. Nicht selten jedoch ist es auch schnöde Werbung, Manipulation, üble Nachrede oder ganz schlicht: Unsinn."

Die Arbeit verschiebe sich vom Neuanlegen zum Warten und zum Aufrechterhalten der Qualität, meint Wikimedia-Österreich-Obmann Kulac. "Allein die Einwohnerzahlen österreichischer Gemeinden aktuell zu halten ist ein Haufen Arbeit", sagt Wikipedia-Administrator Karl. Bei Bergen sei es einfacher: "Die bleiben immer gleich hoch."

"Regeln im Fluss halten"

"Die Regeln sollten im Fluss gehalten und nicht als starre Dogmen verwendet werden", meint Regiomontanus, der seit 2005 an der deutschsprachigen Wikipedia mitarbeitet und Administrator ist. Auch er hat die Beobachtung gemacht, dass die Wikipedia von Teilen der Netzcommunity "als ein starrer Klotz gesehen wird, der sich ein bisschen abschottet". Er hofft, "dass die Wikipedia auch bei der Verwendung von Quellen innovativ bleibt".

Online-Medien werden etwa in der deutschsprachigen Wikipedia in Bezug auf ihre Tauglichkeit als Quelle sehr kritisch behandelt. Im Vergleich dazu stehen Printpublikationen selten in der Diskussion. "Grundsätzlich ist es so, dass Blogs und Foren von jeglicher Art von Quellenzitierung ausgeschlossen sind", meint Kulac. Die Verwendung der Quelle sei aber eine Ermessensfrage: "Wenn die Qualität begründbar ist, ist das auch bei Online-Medien kein Thema."

"Nicht von heute auf morgen"

Von neuen Autoren wünscht sich der Wikimedia-Österreich-Obmann mehr Verständnis für die jahrelang gewachsenen Strukturen. Neueinsteigern empfiehlt er, sich "ein bisschen einzulesen, anstatt wie die Axt im Wald da reinzugehen". Verbesserungen müssten auf sensible Art vorgeschlagen werden: "Das kann man nicht von heute auf morgen ändern."

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(futurezone/Patrick Dax)