© Günter Hack, Eingabefeld von Twitter

Microblogging in der Wissenschaft

WERKZEUGE
19.01.2010

Microblogging-Dienste wie Twitter und identi.ca gelten gemeinhin als Zeitfresser und Heimat des virtuellen Kaffeeküchentratschs. Am Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sieht man das anders. ORF.at sprach mit ITA-Direktor Michael Nentwich darüber, wie Twitter & Co. im Wissenschaftsbetrieb sinnvoll eingesetzt werden können.

Im Rahmen des Projekts "Interactive Science - Interne Wissenschaftskommunikation über digitale Medien" untersuchen Michael Nentwich und seine Kollegen Systeme wie Wikis, Weblogs und Microblogging-Sites. Sie wollen wissen, wie sich diese Software zur besseren Vernetzung von Forschern nutzen lässt.

In ihrer jüngsten Studie klopften Nentwich und seine Kollegen den Microblogging-Dienst Twitter und ähnliche Dienste wie dessen Open-Source-Konkurrenten Status.net auf deren Einsatzmöglichkeiten im Wissenschaftsbetrieb ab. Die Studie wurde Ende Dezember 2009 kostenlos auf der Website des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung veröffentlicht.

Links zur Studie:

Herwig, J., Kittenberger, A., Nentwich, M. und Schmirmund, J., 2009, Microblogging und die Wissenschaft. Das Beispiel Twitter. Steckbrief 4 im Rahmen des Projekts "Interactive Science". ITA-Reports, Nr. a52-4 hrsg. v. Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Wien: ITA

Das Projekt Interaktive Wissenschaftskommunikation wird von der deutschen Volkswagenstiftung gefördert.

ORF.at: Herr Nentwich, wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Twitter wissenschaftlich zu befassen?

Michael Nentwich: Ich habe mich zum Thema Cyberscience, also Wissenschaft und Internet, habilitiert. Das Buch dazu ist 2003 erschienen. Zu diesem Zeitpunkt gab es Twitter und viele andere soziale Netzwerkdienste noch nicht. Jetzt habe ich endlich die Zeit gefunden, mich wieder mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich interessiere mich dafür, was das Web 2.0 mit der Wissenschaft macht.

ORF.at: Welche Unterschiede zwischen dem frühen Web und den Sozialen Netzwerken finden Sie wichtig?

Nentwich: Das Web ist viel interaktiver geworden. Es war schon 2003 absehbar, dass die Funktionen des Lesens und des Schreibens stärker miteinander verknüpft werden würden, beispielsweise in Wikis, die damals ja schon etabliert waren. Jetzt sind die Möglichkeiten zum Mitmachen aber so weit perfektioniert und vereinfacht, dass sie theoretisch jeder nutzen kann. In der Wissenschaft wurde in dieser Zeit das sogenannte Open Peer Review im Netz immer wichtiger, also dass der früher übliche anonyme Doppeltblindprozess der Begutachtung wissenschaftlicher Arbeiten geöffnet wurde. Auch das Bloggen gab es damals bereits, das Microblogging allerdings noch nicht.

ORF.at: Die meisten Leute kennen Twitter als eine Art Kaffeeklatschmaschine. Wie können Wissenschaftler dieses System ernsthaft nutzen?

Nentwich: Auch unter Wissenschaftlern gibt es die traditionelle Art der Twitter-Nutzung, beispielsweise, dass man den Kollegen mitteilt, wo man gerade ist und was man gerade macht. Eine Wissenschaftlerin würde beispielsweise erzählen, dass sie im Zug sitzt und wohin sie fährt. Das mag für Außenstehende trivial wirken, der Community teilt sie aber zusätzlich mit, dass sie unterwegs zu einer bestimmten Konferenz ist. Das kann der Einstieg in eine neue berufliche Nutzung sein. In der Tat gibt es viele Wissenschaftler, die Twitter dazu nutzen, auf Inhalte hinzuweisen, sich abzusprechen, organisatorische Aufgaben zu erledigen. Auch zur Koordination in Arbeitsgruppen, in der Lehre und bei Konferenzen wird es eingesetzt.

Zur Person:

Michael Nentwich ist Direktor des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er ist Wissenschafts- und Technikforscher und arbeitet hauptsächlich über das Thema Wissenschaftskommunikation.

Weitere Autorinnen und Autoren der Studie sind die Medienwissenschaftlerin Jana Herwig (Wien), der Kommunikationswissenschaftler Axel Kittenberger (Wien) und der Soziologe Jan Schmirmund (Gießen).

ORF.at: Worin besteht der Vorteil von Microblogging-Systemen gegenüber anderen Kommunikationswerkzeugen wie Internet Relay Chat, Usenet und Webforen?

Nentwich: Chat ist ein synchrones Medium, das heißt, wer mitmachen will, muss zur gleichen Zeit am Rechner sein wie seine Gesprächspartner. Für mich ist die Eigenschaft von Twitter entscheidend, dass es sowohl synchron wie ein Chat als auch völlig asynchron genutzt werden kann. Man kann etwas eingeben und vom Computer weggehen, unterdessen kann jemand eine Frage stellen und man kann sie beantworten, wenn man wieder da ist. Man kann es aber auch sehr synchron verwenden, zum Beispiel in Zusammenhang mit Konferenzen. Wenn man von einer Konferenz aus twittert, kann man die einzelnen Postings mit einem bestimmten Stichwort, einem Hashtag, versehen und wer sich dafür interessiert, kann die Nachrichten nach diesem Stichwort filtern und schnell einen Überblick bekommen. So kann man einer Konferenz beiwohnen, ohne direkt vor Ort zu sein. Auf einigen Konferenzen gibt es mittlerweile auch Twitterwalls, also Bildschirme, über die sich mittels der Hashtags mitverfolgen lässt, was gerade los ist und was die Anwesenden von den Vorträgen halten. Das ist wie ein ständiges Flüstern. Dieses Konferenzwittern kann man synchron vor Ort nutzen und auch asynchron von außerhalb, wenn man etwa nachsehen will, was auf einer bestimmten Konferenz passiert ist. Das finde ich schon spannend, so einen begleitenden Kanal zu haben, in dem Fragen und Begleitmaterial gesammelt werden.

Die derzeit bekanntesten Microblogging-Dienste sind das US-amerikanische Angebot Twitter, das 2006 gegründet wurde, sowie das in Kanada ansässige Angebot identi.ca, das auf der Open-Source-Software Status.net basiert. Im Gegensatz zu Twitter kann Status.net von interessierten Nutzern auch auf eigenen Servern kostenlos installiert werden.

Eng mit den Microblogging-Diensten verwandt sind die eher bildlastigen Tumblelogs. Beispiele hierfür sind der US-Dienst Tumblr sowie das in Wien ansässige Angebot soup.io.

ORF.at: Da sind wir schon im Bereich des Wissensmanagements.

Nentwich: Eigentlich schon. Eine der wichtigsten Aufgaben des Wissenschaftlers ist die Recherche. Man sammelt Informationen und produziert auf deren Grundlage etwas Neues. Das kann man auf unterschiedliche Weise machen, entweder klassisch über Bibliotheken oder jetzt auch über Datenbanken, und sich so seine Wissensbasis schafft, von der aus man weiterarbeitet. Es gibt aber auch den anderen Weg über Mundpropaganda, Mailinglisten, Gespräche im Bekannten- und Kollegenkreis. Ich denke, dass Twitter hier seine Aufgabe gefunden hat. Man kann ja kontrollieren, wen man einbeziehen will. Wenn man den richtigen Leuten auf Twitter folgt, kann man sehr viel gewinnen, ohne dass man groß recherchieren muss. Es kommen einfach Informationen dazu, ohne dass man sich darum bemüht hat.

ORF.at: Kann Twitter dabei helfen, die Informationsflut in den Griff zu bekommen, oder führt es nur zu mehr Überlastung?

Nentwich: Man könnte natürlich sagen, dass Twitter und andere soziale Software dazu führen, dass man mit Informationen zugeschüttet wird. Andererseits haben sie aber auch eine Filterfunktion. Wenn man den passenden Leuten folgt und das Medium beherrscht und professionell damit umgeht, dann ist es möglich, dass man diese Informationsflut sehr gut in den Griff bekommen kann. Ich bin mir sicher, dass es bereits jetzt viele Leute gibt, die mehr davon profitieren als sie selbst Zeit darin investieren.

ORF.at: Durch die vielen Kanäle wird es aber auch immer schwieriger, die wichtigen Nachrichten der relevanten Personen und Gruppen auszuwerten. Besteht nicht die Gefahr, dass man sich verzettelt?

Nentwich: Sicher. Sie haben das jetzt von der Rezipientenseite her beschrieben. Aber von der Produzentenseite her sieht es ähnlich aus. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass es reicht, die Nachrichten nur über Twitter zu verbreiten. Man muss auch Facebook und Blogs bedienen. Wissenschaftliche Netzwerkplattformen wie Researchgate ResearchGATE und Academia.edu gibt es ja auch noch. Meine Hypothese wäre, dass sich Letztere nur dann durchsetzen werden, wenn sie mehrere Funktionen integrieren, darunter auch Microblogging. Wenn alle Tools voneinander getrennt sind und der User allein dafür verantwortlich ist, alle seine Kanäle zu managen, dann ist das eine sehr zeitaufwendige Aufgabe. Leute, die zu diesen Techniken affin sind, werden das gerne machen, die breite Masse der Wissenschaftler allerdings nicht.

ORF.at: Soziale Netzwerke sind aber auch Moden unterworfen. Wenn ein cooles neues Tool kommt, findet man dort gleich die üblichen Verdächtigen wieder. Das Werkzeug von letzter Saison wird dann vernachlässigt. Wissenschaft braucht aber Verlässlichkeit. Kann Microblogging das überhaupt leisten?

Nentwich: Ich glaube, dass sich das Prinzip Microblogging durchaus halten könnte – in welcher Form, das werden wir noch sehen. Ob das jetzt über Twitter oder die Echtzeitfunktionen von Statusmeldungen bei Facebook oder über etwas anderes läuft, ist zweitrangig. Aber das Prinzip ist vielversprechend. Man hat einen relativ schnellen Zugang zu einem selektierten Netzwerk, das man betreuen kann. Es hat sich auch herausgestellt, dass diese Beschränkung auf 140 Zeichen kein großes Hindernis ist, für die Wissenschaft reicht das, um einen Hinweis zu geben. Das Prinzip wird sich vermutlich halten. In welcher Geschwindigkeit sich das verbreiten wird, ist wieder eine andere Sache. Soziale Software ist kein Randphänomen mehr, aber im Vergleich zur gesamten Gesellschaft hat sie doch noch relativ wenige Nutzer.

ORF.at: In Ihrer Studie schreiben Sie auch, dass Twitter als virtuelle Kaffeeküche dienen kann, also der informellen Kommunikation dient, die auch sehr wichtig sein kann, weil dort manchmal Gespräche aufkommen, die einen auf neue Ideen bringen. Überträgt man das ins Web, verschriftlicht sich diese Kommunikation aber und gewinnt damit an Autorität und Permanenz. Man kann sich fragen, ob das gut ist.

Nentwich: Das ist ein wichtiger Aspekt. Hinzu kommt noch, dass es sehr unterschiedliche Kommunikationskulturen in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen gibt. In manchen Fächern läuft alles sehr offen ab, in anderen gibt es harte Konkurrenz und man geht erst nach draußen, wenn die Publikation schon fertig ist, damit nicht eventuell ein Konkurrent davon profitieren kann. Diese Unterschiede gibt es auch in der informellen Kommunikation. In manchen Fächern ist sie sehr wichtig, in anderen wieder weniger. Ich habe den Eindruck, dass Twitter, zumindest in der aktuellen Form, eher dem mündlichen Gespräch gleichkommt. Das Archiv von Twitter ist ja sehr schwach. Man kann zwar bestimmte Dinge noch nachvollziehen, aber schon nach wenigen Tagen ist es nicht mehr so leicht, einen bestimmten Text wiederzufinden. Man müsste da schon zusätzliche Tools zur Archivierung verwendet haben. Hat man das aber unterlassen, findet man die älteren Tweets nicht mehr im Archiv. In einer gewissen Weise verflüchtigt sich das also, was da passiert. Das kann sich natürlich ändern. Twitter ist ja nicht in der Wissenschaft entstanden, sondern außerhalb. Es könnte sein, dass genau diese Funktion, dass man über einen langen Zeitraum hinweg auf ein bestimmtes Microblogging-Element referenzieren kann, dass es zitierfähig wird, irgendwann in Twitter oder in ein anderes System eingebaut wird. Ein Twitter für die Wissenschaft, sozusagen. Wir sind derzeit in einer Phase, in der sich das erst entwickelt. Das Feld ist noch sehr dynamisch.

ORF.at: Gibt es aus Ihrer Erfahrung heraus wissenschaftliche Disziplinen, deren Mitglieder besonders Twitter-affin sind?

Nentwich: Das kann ich jetzt noch nicht beantworten. Dazu habe ich noch zu wenige Daten. Die Studie wirft ja nur ein Schlaglicht auf das Thema. In der Community derjenigen, die sich auch beruflich mit dem Internet beschäftigen, also in der Regel technikaffine Forscher, zum Beispiel Kommunikationswissenschaftler, ist die Twitter-Nutzung weit verbreitet. Es gibt aber auch viele Nutzer aus Bereichen, an die man nicht sofort denken würde. Es ist sehr schwierig, Daten über die Nutzung von Twitter zu erheben.

ORF.at: Das Web ist auch für die Selbstdarstellung von Wissenschaftlern wichtig. Twitter spielt da keine geringe Rolle, glaube ich.

Nentwich: Wir bezeichnen das als Reputationsmanagement. Das läuft im Internet anders ab als in der traditionellen Wissenschaftswelt. Außerhalb des Internets musste man auf die entsprechenden Konferenzen fahren, man musste sich präsentieren, man musste gut schreiben können und möglichst häufig zitiert werden. In Internet-Zeiten sind neue Möglichkeiten hinzugekommen. Vor zehn Jahren ging es darum, die richtige Linksammlung aufzusetzen oder ein E-Journal zu gründen. Das soziale Web macht natürlich noch mehr Möglichkeiten auf. Das ist aber eine zweischneidige Sache. Es geht sehr schnell, man tendiert auch dazu, schnell rasch zu sein – aber eventuell auch unüberlegt. Das heißt: Die Qualität ist nicht immer perfekt. Man kann auf einen Blog-Eintrag auch schnell negative Kommentare bekommen. Es reichen ja schon ein paar Tippfehler auf Twitter, um schlecht auszusehen und negatives Renommee zu bekommen. Es ist eine schwierige Balance. Man kann sich über Systeme wie Twitter relativ schnell eine gewisses Renommee und Bekanntheit in bestimmten Gemeinschaften verschaffen. Aber dieses Renommee ist auch ständig gefährdet. Man kann schnell wieder herausfallen, wenn man nicht mehr twittert, wenn man sein Blog nicht pflegt. Oder wenn man falsche Sachen schreibt, weil man zu schnell war. Derzeit sind die Online- und Offline-Wissenschaftswelten noch getrennt. Solange das so ist, kann man sich in der Online-Welt und vielleicht beim Publikum und bei Journalisten einen guten Ruf über Microblogging und soziale Software erschreiben. Allerdings wird das in der traditionellen Welt dann kaum eine Rolle spielen. Derzeit gelten dort aber noch die ganz normalen Kriterien: Man muss im richtigen Journal publizieren, man muss zitiert werden. Ob man viel gebloggt hat, ist dort eigentlich irrelevant. Das ist noch im Übergang.

ORF.at: Liegt darin nicht auch eine Gefahr? Das Verführerische am Web ist doch die Möglichkeit, schnelle Rückmeldungen auf seine Aktionen zu erhalten. Da kippt man ja so rein.

Nentwich: Ja. Da kann man sich auch schnell etwas vormachen. Man bekommt schnell gutes Feedback auf einen Text und glaubt, dass er passt. Man bloggt erfolgreich und verwendet immer mehr Zeit darauf und vernachlässigt dann das traditionelle Publizieren. Fürs Bloggen gibt es derzeit noch keine Anerkennung. Das könnte sich aber ändern. Vor ein paar Jahren war es noch verpönt, in einer Online-Wissenschaftszeitschrift zu veröffentlichen. Dann haben sich ein paar Leute vorgewagt, und mittlerweile ist das schon fast gang und gäbe. Das hat aber zehn Jahre gedauert. Es kann sein, dass in ein paar Jahren auch Blogs voll zitierfähig sind und niemand mehr schief schaut, wenn man Blog-Einträge zitiert. Vielleicht werden sich auch die Methoden zur Messung der Relevanz von Blogs durchsetzen, also die Zahl der Links darauf und so weiter, aber davon sind wir im Wissenschaftsbereich noch weit weg.

ORF.at: Sie verwenden ja Twitter und andere Werkzeuge auch selbst. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre wissenschaftliche Arbeit und auf Ihr Denken?

Nentwich: Das ist für mich deshalb schwierig zu beantworten, weil genau das mein eigenes wissenschaftliches Thema ist. Ich bin ja kein Wissenschaftler, der twittert und eigentlich etwas ganz anderes macht, sondern ich forsche eben über Twitter. Das ist eine sonderbare Nahebeziehung. Es ist schon so, dass es eine gewisse Faszination ausübt. Ich habe bemerkt, dass ich etwas zurückbekomme, womit ich nicht gerechnet habe, Informationsbruchstücke, an die ich sonst nie herangekommen wäre. Da fließt etwas zurück. Gleichzeitig bemerke ich, dass ich in manche dieser Dienste viel Zeit investiere, die mir dann woanders wieder abgeht. Ich habe die optimale Balance zwischen Zeitinvestition und Feedback noch nicht gefunden. Das ist wahrscheinlich ein längerer Prozess.

ORF.at: Über Twitter lassen sich bestimmte Vorgänge automatisieren. Es gibt viele Bots auf Twitter, die auf Stichwörter reagieren und Nachrichten sammeln. Sogar Steuerbefehle für Geräte ließen sich über Twitter senden. Haben Sie schon wissenschaftliche Anwendungen dafür gesehen?

Nentwich: In der Arbeit von Individuen wird das weniger eine Rolle spielen. Bei der Verbreitung von Nachrichten schon. Man kann ja RSS-Feeds auch in Twitter einspeisen. Ein Beispiel ist jener Dienst, der neue Arbeitspapiere im sogenannten arXiv der Physikcommunity auf Twitter automatisiert postet. Bei den anderen Funktionen, die wir vorhin besprochen haben, lässt sich wenig automatisieren. Es gibt ja Leute, die Hunderten von Usern folgen. Aber ich glaube nicht, dass das effizient sein kann. Ich glaube, dass die Beschränkung auf das eigene Netzwerk wichtig ist. Und für dieses Netzwerk sucht man sich Menschen, keine Automaten.

ORF.at: Sie haben vorhin angedeutet, dass Wissenschaftler zuweilen etwas lange brauchen, bis sie neue Werkzeugen wie Social Networks verwenden. Warum eigentlich? Das Wissenschaftssystem an sich ist doch schon ein Social Network.

Nentwich: Das ist deshalb so, weil eben das, was bisher existiert, so gut funktioniert. Das System ist da träge, weil es sich auf die alten Netzwerke und Kommunikationsmethoden gut verlassen kann. Das gilt ja auch für ältere Systeme im Netz. E-Mail ist hervorragend etabliert. Da fragen sich natürlich viele, warum sie stattdessen ein Microblogging-System verwenden sollen. Wissenschaftler haben wenig Zeit und sind vorsichtig. Das neue Medium muss also wirklich etwas bringen, was den Nutzern einen substanziellen Mehrwert bringt. Twitter und Soziale Netzwerke werden sich zum Beispiel dort durchsetzen, wo es um Kooperation über größere Distanzen hinweg geht. Man kann damit Teams zusammenhalten, die über die ganze Welt hinweg verteilt sind. Dort wird es den Mehrwert bringen. E-Mail ist immer noch in erster Linie ein Medium für die bilaterale Kommunikation. Groupware hat sich nicht wirklich durchgesetzt.

ORF.at: Ich habe den Eindruck, dass Twitter vor allem in kleinen Gruppen gut funktioniert.

Nentwich: Es kommt drauf an, was man damit erreichen will. Wenn es darum geht, Informationen zu verbreiten und vor allem Informationen zu beziehen, mit denen man nicht gerechnet hat, dann muss das Netzwerk eine gewisse Mindestgröße haben. Ich vermute, dass ein solches Netzwerk fünfzig bis hundert Menschen umfassen muss, damit es etwas bringt, damit man das Gefühl bekommt, dass es sich lohnt, selbst etwas zu investieren. Für informelle Kommunikation wie in der Kaffeeküche ist die Mindestgröße der Gruppe eher umgekehrt relevant. Da ist es eher besser, wenige Leute zu haben, damit das funktioniert. Es ist könnte wahrscheinlich sinnvoll sein, für verschiedene Aufgaben auch verschiedene Accounts zu betreiben.

ORF.at: Auf Ihrem Schreibtisch liegt ein Smartphone. Spielt die mobile Nutzung von Microblogging-Diensten im wissenschaftlichen Bereich eine Rolle?

Nentwich: Ich habe einen Twitter-Client auf meinem Smartphone laufen, dadurch bin ich öfter synchron dabei. Wenn man das nicht hat, dann ist man häufiger asynchron. Die meisten Wissenschaftler sind aber ohnehin sehr häufig online. Entweder arbeiten sie am Schreibtisch oder sie sind auf einer Konferenz, wo es heute auch schon überall WLAN-Zugang gibt. Einen sehr großen Unterschied machen Smartphones in der Nutzergruppe der Wissenschaftler also nicht. Außerhalb des Wissenschaftsbetriebs werden Smartphones aber eine große Rolle spielen.

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(futurezone/Günter Hack)