"Die moderne Gesellschaft läuft über Software"
Mit "The Language of New Media" hat Lev Manovich ein Standardwerk über die visuelle Kultur der Gegenwart geschrieben. Im Interview mit ORF.at erzählt der Medientheoretiker, welche Rolle Mustererkennung, russische Avantgardefilme und Software in unserem Alltag spielen.
ORF.at: Als Professor für Visual Arts am Institut for Informations- und Kommunikationsforschung Calit2 in San Diego verfügen Sie über das größte Display der Welt mit zehn Meter Breite und einer Auflösung von 286 Megapixel. Wozu braucht ein Medientheoretiker eine solche Auflösung?
Manovich: In seiner aktuellen Form hat das Display eine Auflösung von 35.000 mal 8.000 Pixel - das hat mein Leben verändert. Naturwissenschaftler aus den Bereichen Astronomie und Neurowissenschaften haben schon immer unglaublich hohe Auflösungen verwendet. Auch Militärplaner haben nicht ohne Grund jahrhundertelang auf Riesenlandkarten Militärmodelle verschoben. Bei diesen Größen kann man den Gesamtzusammenhang sehen und gleichzeitig jedes Detail darstellen. Das geht nicht auf Laptop- oder Handydisplays.
Der in den USA lebende Medientheoretiker, Künstler und Programmierer Lev Manovich war vergangene Woche bei der vom Wiener Filmmuseum und dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Uni Wien veranstalteten Konferenz "Method left home" im Rahmen des Projekts "Digital Formalism - The Vienna Vertov Collection" zu Gast. Dort sprach Manovich über Visualisierungsmethoden für die Film- und Medienwissenschaft.
ORF.at: Wofür verwenden Sie das Display genau?
Manovich: Meine erste Idee war: Wie wäre es, wenn wir jedes Bild, das zwischen 1500 und 1600 in Italien gemalt wurde, entlang der x-Achse darstellen und auf der y-Achse einen beliebigen Parameter abfragen? So können wir deutlich sehen, wie aus dem Renaissance-Stil Barock geworden ist. Ich möchte "kultuelle Artefakte" genauso wie Google Earth ansehen können, so dass man hinein- und hinauszoomen kann und auch visualisieren kann, wie sich Farbe oder Bildkomposition verändert. Wir verwenden das für Kinofilme, Cartoons oder auch User-generierte Fotoinhalte. Unser größtes Projekt sind derzeit 50.000 Manga-Comics mit insgesamt 1,2 Millionen Seiten.
ORF.at: Welche Antworten kann man aus solchen Datenmengen gewinnen?
Manovich: Es geht nicht darum, existierende Fragen zu stellen und zu beantworten - das wäre banal. Wir wollen lernen, neue Fragen über Kultur, Medien und Gesellschaft zu stellen. Ein Beispiel: Einer der wichtigsten Faktoren in kulturellen Artfakten ist Rhythmus - etwa in elektronischer Musik oder in der Architektur. Auch die Wiederholungen von Ornamenten in der Architektur sind nicht anderes als pulsierende Signale. Niemand hat je Rhythmus in der Filmgeschichte analysiert, weil es dazu keine Mechanismen gab. Filmkritiker hatten kein Instrument, um Rhythmus zu visualisieren. Computertechnologie nimmt diese Muster aus unserem Gehirn und macht sie "extern" messbar.
ORF.at: Welche Aussagen lassen sich zum Rhythmus gewinnen?
Manovich: Wir benutzen eine Datenbank, in der Filmhistoriker für über 1.100 Filme von 1900 bis 2008 jeden Schnitt markiert hatten. Damit konnten wir die durchschnittliche Einstellung jedes Films berechnen und sofort sehen, welche Filme durchschnittlich schnell geschnitten sind - und wo die "Aussetzer" sind. Die Russen neigen auf beiden Seiten zu Extremen. Der "schnellste" Film kam von Dsiga Wertow, die "langsamsten" Filme machte Andrej Tarkowski in den 60er und 70er Jahren. Aber man kann auch feststellen, dass gewisse Avantgardefilme in ihrer visuellen Sprache völlig Mainstream sind. 1920 hatten etwa Sergej Eisenstein und andere sehr schnelle Schnittfolgen. Sobald sich dann Stalins Aufmerksamkeit der Kultur zuwandte, wurde der russische Film plötzlich viel langsamer. Erst während der Perestrojka, Mitte der 80er Jahre, wurden Filme wieder schneller. Die Kurve, die wir darstellen können, spiegelt die politische Geschichte Russlands und anderer Länder wider.
ORF.at: Sie forschen auch in Kooperation mit dem Wiener Filmmuseum an den Filmen des russischen Avangarde-Filmemachers Dsiga Wertow.
Manovich: Es ist hilfreich, die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zu sehen, um herauszufinden, was heute anders ist. Die aktuelle Informationsevolution ist für mich der nächste wichtige Paradigmenwechsel nach der Moderne - und Wertow war der große Informationsdesigner der Moderne. Im Rahmen des "Digital Formalism"-Projekts habe ich versucht, Wege zu finden, um Schnitt, Erzählweise und andere Muster in Wertows Filmen zu visualisieren.
ORF.at: Sie verwenden dieses Prinzip der Mustererkennung auch als Künstler für Ihr Projekt "SoftCinema".
Manovich: Ich hatte ein wenig Geld vom Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe und einen Programmierer für genau einen Monat. Wir fragten uns: Was ist das elementare Basisprinzip von Kino? Eine Folge von Szenen, die irgendetwas miteinander gemeinsam haben. Also entwickelten wir eine "Search-Engine", die Ähnlichkeiten in Filmsequenzen erkennen kann. Ich nahm 300 Videoclips, die ich rund um die Welt aufgenommen habe, beschriftete sie und ließ sie von Computern analysieren: Farbe, Helligkeit, Farbschattierungen. Daraus erstellt eine Software eine unbegrenzte Anzahl neuer Filmnarrationen, indem sie diese Parameter "matcht", so dass wir die Resultate nicht mehr voraussagen konnten. Der Computer hat seine eigene Logik, fast schon Subjektivität - er schaut mit seinem Maschinenauge mein Filmmaterial an.
ORF.at: Mit Data-Mining können Sie auch viel über menschliche Subjekte herausfinden.
Manovich: Wir kombinieren Media-Browsing mit Informationsanalyse. Und dabei sind wir natürlich nicht allein. Auch Google Trends zeigt zum Beispiel, wie sich die Aufmerksamkeit der Leute verändert. Wie viele Leute suchen in einem gewissen Moment wonach? Der Unterschied ist, dass wir nicht Konsumverhalten sammeln und auswerten, sondern kulturelle Artefakte analysieren. Wir versuchen, diese Forschung zu demokratisieren und die Tools zur Verfügung zu stellen. Wir haben eine Open-Source-Software, von der wir hoffen, dass sie eines Tages genauso Standard sein wird, wie es Diaprojektoren einst waren und es DVDs heute sind. Ladet das herunter und verwendet es. Damit lernt man auch etwas über Technologien, die unsere Gesellschaft bestimmen: Datenanalyse, Data-Mining und Visualisierung. Mit diesen Tools beginnt man zu verstehen, wie die zeitgenössische "Software-Gesellschaft" wirklich funktioniert.
ORF.at: Sie sind Mitinitiator der "Software Studies Initiative". Was kann man sich darunter vorstellen?
Manovich: Es geht nicht darum, krampfhaft eine neue Disziplin zu erfinden. Das braucht kein Mensch. Es geht darum, den Leuten das Primat von Software in unserer Gesellschaft klarzumachen - und dann Fragen zu stellen, was das bedeutet. Die moderne Gesellschaft läuft vor allem über Software und Algorithmen - vom Auto über die Kreditkartenfirma bis zur Software, die die Temperatur in diesem Gebäude misst. Kultur wird inzwischen mit Software hergestellt und rezipiert. Wo Software im Web läuft - etwa bei Amazon, Wikipedia oder eBay -, kann man über den Server die Software laufend updaten; Google verändert seinen Code bis zu dreimal am Tag. Da ist ein großer Unterschied zur Technologie im 19. Jahrhundert mit Eisenbahnen und Gebäuden. Wenn die einmal gebaut waren, verändert sich über Jahrzehnte bis Jahrhunderte gar nichts mehr. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich die Kontrollmechanismen ständig verändern - und das unsichtbar.
ORF.at: Sehen Sie Software-Studies also als Grundlagenforschung für das 21. Jahrhundert?
Manovich: Wir müssen Algorithmen, Datenbanken und Client-Server-Systeme nicht nur als Technologien begreifen, sondern als Form der sozialen Organisation. Wir brauchen Software-Forschung, wenn wir eine intelligente politische Diskussion über Google führen wollen. Googles Suchalgorithmen sind inzwischen so komplex, dass sie vielleicht nicht einmal mehr die Leute von Google verstehen. Die Betriebssysteme Mac OS und Windows haben zwischen 50 und 100 Millionen Zeilen Code. Wir müssen Mechanismen entwickeln, um diese Komplexität in Darstellungsformen zu bringen, die es uns ermöglichen, öffentlich über diese Algorithmen zu diskutieren, die unser Leben bestimmen. Das ist eine schwierige, aber wichtige Herausforderung.
ORF.at: Schreiben Sie nach Ihrem Standardwerk "The Language of New Media" und dem kostenlosen E-Book "Software Takes Command" an einem neuen Buch?
Manovich: Ich untersuche die Ästhetik der Informationsgesellschaft. Das ist ein Projekt, das mich seit 2000 beschäftigt - und jedes Jahr plane ich, es endlich fertig zu schreiben, aber dann kommt immer wieder etwas dazwischen. Die Idee von "Info-Aesthetics. The Aesthetics of the Information Society" ist, dass unsere Gesellschaft wirtschaftlich, sozial, aber auch symbolisch auf Information fokussiert ist - und dabei ständig mit zu vielen Daten konfrontiert ist. Meine Frage ist, wie Grafiker, Architekten und Filmemacher damit umgehen. Wie bewältigt zeitgenössische Kultur die Prioritätensetzung in unserem Vorstellungsvermögen? Ich untersuche verschiedene Disziplinen, Design, Mode, Architektur und natürlich Software, und frage mich, ob wir nicht derzeit wie im 19. Jahrhundert leben. Damals war die Moderne die kulturelle Antwort auf die Industrialisierung: Autos, Fabriken, Elektrizität. Die Industrialisierung begann ungefähr 1830, aber es hat bis etwa 1910 gedauert, dass Künstler dafür eine neue Ästhetik entwickelt haben: Bauhaus und Konstruktivismus. Stattdessen hatten sie das ganze 19. Jahrhundert diesen Eklektizismus, nur historisierende Zitate. Ich frage mich, ob unsere Kultur nicht unserer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinkt. Die Gestaltungsprinzipien der Möbel in diesem Raum stammen noch alle vom Bauhaus. Unsere Kleidung hätten wir anno 1850 auch schon tragen können. Nichts in unseren ästhetischen Kriterien weist darauf hin, dass wir drahtlose Kommunikation oder Facebook haben.
ORF.at: Worin sehen Sie die Rolle von zeitgenössischen Künstlern?
Manovich: In der westeuropäschen Kunst, inbesondere der modernen Kunst, haben Künstler regelmäßig neue Wege gefunden, unsere visuellen Erfahrungen und Perspektiven darzustellen und unsere Erinnerungen zu bewahren, Ereignisse zu erzählen und Zeit und Raum festzuhalten. Diese Arbeit erledigen jetzt Computerwissenschaftler in Firmen wie Yahoo und Google, individuelle Programmierer und digitale Designer. Sie bestimmen die Art, wie wir heute miteinander und zu unserem Umfeld in Beziehung treten. Wenn man über die Avantgarde als Projekt nachdenkt, das mit neuen Techniken experimentiert, um damit Information zu bewältigen, so geschieht das heute in der Sphäre der digitalen Kultur - und nicht in der Kunstwelt.
(eSeL)