Daten mit Verfallsdatum
Der Wissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger schlägt ein Verfallsdatum für digitale Daten vor, um das Vergessen auch im digitalen Zeitalter zu ermöglichen. Im Gespräch mit ORF.at mahnt der Buchautor ("Delete") auch die Notwendigkeit einer verstärkten gesetzlich verankerten Informationsökologie und mehr Kontrolle der Nutzer über ihre Daten ein.
"Vergessen ist einfach, Erinnern ist schwer." Dieser jahrtausendealte Satz hat laut Mayer-Schönberger seine Gültigkeit verloren. Digitale Technologien und globale Netzwerke haben die Balance zwischen Vergessen und Erinnern durcheinander gebracht. "Erinnern ist heute der gesellschaftsliche Normalzustand", meint Mayer-Schönberger, der am Montagabend auf Einladung der arge creativ wirtschaft austria (cwa) in Wien zu Gast war. Das digitale Gedächtnis des Internet "erinnere ewig". Party-Fotos auf MySpace können auch Jahre nach ihrer Veröffentlichung unbeabsichtigte Konsequenzen zeitigen, so der Wissenschaftler. Das digitale Gedächtnis schränke den Menschen auch in seinen Handlungen und seiner Entscheidungsfähigkeit ein
In seinem im vergangenen Herbst erschienen Buch "Delete: The Virtue of Forgetting in the Digital Age" schlägt Mayer-Schönberger deshalb ein Verfallsdatum für digitale Daten vor. Technische Patentlösung dafür werde es keine geben, meint er im Gespräch mit ORF.at. Ziel sei es, den Nutzern das Problem bewusst zu machen.
Der aus Österreich gebürtige Viktor Mayer-Schönberger ist Professor und Direktor des Information + Innovation Policy Research Centres an der National University of Singapore. Sein jüngstes Buch "Delete: "The Virtue of Forgetting in the Digital Age" ist im Herbst bei Princeton University Press erschienen. Eine deutsche Übersetzung wird voraussichtlich Ende des Jahres im Berliner Universitätsverlag vorliegen.
ORF.at: Sie beklagen in Ihrem Buch "Delete", dass mit digitalen Technologien das Erinnern der gesellschaftliche Normalzustand geworden ist. Was ist daran so schlimm?
Mayer-Schönberger: Dass wir heute erinnern anstatt zu vergessen, hat Konsequenzen zur Folge, die mich nachdenklich machen. Es geht dabei um Konsequenzen, die sich mit den Stichwörtern Macht und Zeit zusammenfassen lassen. Wenn ich an Macht denke, dann denke ich daran wie der Einzelne der Gesellschaft gegenübersteht. Wir können im Internet heute davon ausgehen, dass Informationen von Millionen von Menschen gelesen und auch in unterschiedlichen Rechtsordnungen interpretiert werden. Der Kommunikationstheoretiker Oscar Gandy sah darin ein globales Panoptikum - weil wir online ständig davon ausgehen müssen, dass wir beobachtet werden. Durch das digitale Gedächtnis wird dies zu einem zeitlichen Panoptikum erweitert. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, dass das was wir heute im Internet tun in ferner Zukunft gegen uns verwendet werden kann. Die Antwort der Betroffenen auf ein Panoptikum ist in der Regel Selbstzensur. Wir geben weniger oder nichts mehr preis. Und das bedeutet auch, dass die offene Diskussion und Debatte innerhalb der demokratischen Gesellschaft darunter leidet und die digitalen Werkzeuge verarmen, weil wir sie nicht ihrem Potenzial gemäß verwenden. Das ist problematisch. Den zweiten Problemkreis fasse ich mit dem Begriff Zeit zusammen. Es ist die menschliche Unfähigkeit, mit Zeit als Dimension der Veränderung umzugehen. Ohne Vergessen können wir Menschen vor lauter Bäumen der Vergangenheit den Wald der Gegenwart nicht mehr erkennen - uns fehlt dann die Fähigkeit zu abstrahieren, zu generalisieren und zu wachsen. Wenn wir das nicht mehr können, wird auch unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, negativ beeinflusst.
ORF.at: Sie sprechen sich für ein von Nutzern selbst festgelegtes Verfallsdatum für Informationen aus. Wie könnte so etwas im Detail aussehen?
Mayer-Schönberger: Heutige Datenverwaltungssysteme verwalten bereits eine Fülle von Metainformationen. Das Verfallsdatum wäre nur eine weitere Art von Metainformation. Wenn wir etwas abspeichern, geben wir das Verfallsdatum dazu ein. Ist es erreicht, löscht das System die Datei. Wir können das Verfallsdatum in der Regel frei festlegen, und es auch nachher verändern, wenn wir dies wollen. Das Verfallsdatum ist auf den Punkt gebracht Metainformation, die Konsequenzen hat.
ORF.at: Ist ein solches Verfallsdatum ohne gesetzliche Regelungen durchsetzbar?
Mayer-Schönberger: Ein Verfallsdatum ohne gesetzliche Regelung kann sich nur dann durchsetzen, wenn die Konsumenten ein Verfallsdatum wünschen. Denn dann werden die Anbieter am Markt auch darauf reagieren. Die Tatsache, dass es etwa Dienste wie die Filesharing-Lösung drop.io gibt, die bereits ein Verfallsdatum anbietet, ist für mich ein Zeichen, dass es offenbar eine Nachfrage gibt. In dem Maß, in dem Konsumenten ein Verfallsdatum nachfragen, wird auch wirtschaftlicher Druck auf die Anbieter entstehen, dies zu berücksichtigen. Dort wo das nicht gelingt, muss man sich eine gesetzliche Regelung überlegen. In Deutschland wurde es etwa schon zur Diskussion gestellt. Auch in Frankreich hat die Regierung das in den Forderungskatalog gegenüber Google aufgenommen. Es gibt also ganz konkrete Ausformungen eines Verfallsdatums in der politischen Diskussion und ich sehe das immer stärker kommen, auch in Österreich.
ORF.at: Auch Wissenschaftler an der University of Washington haben mit Vanish im vergangenen jahr eine Software-Lösung vorgestellt, die Daten nach einer vorgegeben Frist unlesbar macht. Kennen Sie das Programm?
Mayer-Schönberger: Ja und ich kenne auch Ed Felten (Anm.: Computerwissenschaftler an der Princeton University) sehr gut, der einen technischen Fehler in Vanish entdeckt hat. Ich finde, dass das alles sehr interessant ist und das man in diese Richtung weiterforschen muss. Uns muss aber klar sein: Es wird aber keine technische Patentlösung geben. Das Ziel ist, den Nutzern die Problematik des digitalen Erinnerns bewusst immer wieder zu machen. Gerade indem sie das Verfallsdatum eingeben, halten sie sich vor Augen, dass Informationen zeitlich gebunden sind.
ORF.at: Archive, in denen Informationen miteinander vernetzt und zugänglich gemacht werden, waren in Visionen zentral, die dem Internet vorausgegangen sind - etwa Vannevar Bush' Memex oder Ted Nelsons Xanadu. Die Verfügbarkeit von Informationen, die durchaus auch banal sein können, und ihre Vernetzung ermöglichen es, diese Informationen auf noch nie dagewesene Art und Weise Erfahrungen auf den verschiedensten Gebieten auszutauschen und produktiv zu machen. Steht ein Verfallsdatum dem nicht entgegen?
Mayer-Schönberger: Menschen, die in Foren, Blogs oder auf Facebook ihre Erfahrungen posten und diese anderen mitteilen, haben durch das Verfallsdatum die Möglichkeit selbst festzulegen, wie lange diese Informationen zur Verfügung stehen sollen. Das Verfallsdatum und der technologisch unterstützte Austausch von Erfahrungen schließen sich nicht aus. Im Gegenteil. Beide helfen, die verfügbaren Informationen brauchbarer und besser handhabbar zu machen. Wenn ich etwa herausfinde, wie man einen Griller richtig aufstellt, und in meinem Blog poste, dann werde ich dem ein langes Verfallsdatum geben. Aber ich habe gleichzeitig auch die Möglichkeit, die Verfügbarkeit von Informationen einzuschränken. Wenn ich ein digitales Bild an Freunde via Online-Dienst zur Verfügung stelle, kann ich mit Verfallsdatum erreichen, dass einige Leute einen Blick darauf werfen und vielleicht darüber lachen aber es nach einer Woche wieder verschwunden ist.
ORF.at: Die Österreichische Nationalbibliothek, die im vergangenen Jahr damit begonnen hat den österreichischen Teil des Internets zu archivieren, hat das Problem, Speicherformate zu finden, mit denen sich digitale Informationen dauerhaft aufbewahren lassen.
Mayer-Schönberger: Wir müssen in unserer Gesellschaft auch die Diskussion führen, welche Institutionen Informationen bewahren sollen und was diese Informationen sind. Ich glaube, dass es auch einen hohen gesellschaftlichen Wert hat, bestimmte Informationen aufzubewahren. Wenn wir etwa sagen, wir wollen aus unserer Geschichte lernen, dann bedarf es auch der Notwendigkeit Informationen dazu aufzubewahren. Wenn wir sagen, wir wollen hier einen Schnappschuss unserer veröffentlichten Kultur festhalten, indem die Nationalbibliothek Webseiten und Blog-Posts archiviert, dann ist das eine gesellschaftliche Entscheidung, die ich bereit bin mitzutragen. Aber gleichzeitig sollten wir auch einen Metatag haben, der festlegen kann, dass diese Seite bitte nicht archiviert werden soll.
ORF.at: Eine zentrale Frage ist die Kontrolle, die Nutzer über ihre Daten haben. Lässt sich eine solche Kontrolle gegenüber geschäftlichen und staatlichen Interessen überhaupt durchsetzen?
Mayer-Schönberger: Indem personenbezogene Informationen von Betroffenen nicht nur verwendet, sondern auch über Jahre oder Jahrzehnte gespeichert werden können, kann der Informationsverarbeiter potenziell sehr viel mehr Wissen sammeln, und das auch zu seinen Gunsten ausnutzen. Datenschutzrechte sehen zwar eine Informationspflicht des Informationsanbieters vor. Aus der Praxis wissen wir aber, dass diese Art der Informationsleistung nur stockend erfolgt. Und Betroffene setzen diese ihre Informationrechte nur selten gerichtlich durch. Ich bin optimitisch, dass sich die Wünsche und Werte der Bevölkerung in Richtung informationelle Selbstbestimmung verändern. Das kann Marktdruck auslösen. Gegen das digitale Erinnern hilft uns das Verfallsdatum. Dagegen und darüber hinaus bedarf es seiner verstärkten gesetzlich verankerten Informationsökologie. Wir müssen sehr viel stärker hinterfragen, wieviel Sammlung, Speicherung und Vorhaltung von Informationen denn gesellschaftlich notwendig ist. Gerade im staatlichen Bereich wird wohl zuviel Information aufbewahrt. Hinzu kommt die Problematik der Auslagerung staatlicher Informationsssammlung auf private Anbieter – Beispiel Vorrratsdatenspeicherung. Dabei ist keineswegs klar, dass diese Informationsflut zu besserem staatlichen Handeln führt. Hier wären kritische Reflexion und Umdenken dringend notwendig.
(futurezone/Patrick Dax)