ACTA: EU-Kommission weicht Parlament aus
In der Debatte über das umstrittene Anti-Piraterie-Abkommen Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) hat EU-Handelskommissar Karel de Gucht am Dienstagabend im EU-Parlament in Straßburg die bisherige Verschwiegenheit der Verhandlungspartner verteidigt.
Er sei an eine Stillschweigeklausel gebunden und könne den Entwurf des Abkommens erst dann dem Parlament präsentieren, wenn die anderen Verhandlungspartner ihre Zustimmung dazu erteilt hätten. Außerdem habe der Rat der Kommission das Verhandlungsmandat gegeben. Was die Minister täten, sei mit den Regierungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten abgestimmt und folglich deren Sache, so der Handelskommissar.
Infos für das Parlament
De Gucht musste sich harten Fragen der EU-Parlamentarier stellen. Sprecher aus allen Fraktionen verlangten von der Kommission, den Text des seit zwei Jahren zwischen EU, USA und anderen Industriestaaten ausgehandelten Abkommens endlich zugänglich zu machen. Dabei wurden allerdings leichte Unterschiede in der Auffassung von Transparenz deutlich. Während die italienische Konservative Cristiana Muscardini nur darauf bestand, dass das Parlament informiert werden solle, drängte die niederländische Liberale Sophie in 't Veld darauf, auch die europäische Öffentlichkeit vollumfänglich und stets aktuell über den Stand der Verhandlungen zu informieren.
In 't Veld wollte ebenso wie ihr deutscher Fraktionskollege Alexander Alvaro und die französische Sozialdemokratin Catherine Trautmann wissen, ob ACTA die Unterzeichnerstaaten auf die Einführung von "Three Strikes"-Maßnahmen verpflichte, mit denen Menschen, die unlizenziert Medieninhalte über das Internet tauschen, vom Netz getrennt werden sollen. De Gucht verneinte das, man wolle hier den Mitgliedsstaaten die "Flexibilität" lassen, ob sie solche Maßnahmen einführen wollen.
Kontrolle der Provider
Obwohl De Gucht mehrmals betonte, dass ACTA das Gemeinschaftsrecht nicht ändern werde, gab er doch auf eine entscheidende Frage Trautmanns, die auch führend an den Verhandlungen über das EU-Telekompaket beteiligt war, keine Antwort. Trautmann wollte nämlich wissen, ob die Provider durch ACTA ihren Status als "mere conduit" verlieren und für die Kontrolle der Inhalte in ihren Netzen verantwortlich gemacht werden würden. Sei dem so, würde das nämlich gegen die E-Commerce-Richtlinie verstoßen und sehr wohl eine Änderung des Gemeinschaftsrechts nach sich ziehen.
Für die österreichische Abgeordnete Eva Lichtenberger (Die Grünen) steht die Glaubwürdigkeit der Kommission auf dem Spiel. Nach Abschluss des Vertrags von Lissabon funktioniere es nicht mehr, blind hinter verschlossenen Türen Handelsabkommen abzuschließen und hinterher das Recht der EU anzupassen. "Ich kann mich mit Ihrer Vorstellung von Transparenz nicht identifizieren", sagte Lichtenberger.
Christian Engström von der schwedischen Piratenpartei sagte, die Bürger seien wütend, weil in den ACTA-Verhandlungen die Interessen der Konzerne offenbar über jene der Bürger gestellt würden. Das Parlament werde sich dagegen zu wehren wissen, es sei, so Engström, "kein Fußabstreifer".
Verdeckte Beschlüsse und Zuständigkeitsshuffle
De Gucht hatte den Forderungen der Parlamentarier nach mehr Transparenz nicht mehr entgegenzusetzen als die bereits bekannten Stellungnahmen der ACTA-Verhandler sowie den Hinweis auf Verschwiegenheitsklauseln. Man habe das Parlament aus seiner Sicht ausreichend informiert - sogar mehr als das. Wenn man die Vertraulichkeit verletzen würde, würde das auch andere Verhandlungen gefährden, so De Gucht, der nochmals betonte, dass es bei ACTA um gewerbsmäßige Urheberrechtsverletzungen gehe.
Er werde sich nun bei den Verhandlungspartnern dafür einsetzen, dass das Parlament den Vertragsentwurf sehen dürfe. Hier hat es De Gucht allerdings einfach: Da die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ablaufen, ist schnell ein Einwand gegen Transparenz gefunden - und der Verhinderer muss sich nicht einmal öffentlich deklarieren. De Gucht geht mit seinem Versprechen also kein Risiko ein.
Das EU-Parlament wird am Mittwoch voraussichtlich einen Entschließungsantrag verabschieden, mit dem es die Kommission ultimativ dazu auffordert, die ACTA-Verhandlungen offenzulegen.
Geheime Verhandlungen
Bisher durchgesickerte Dokumente aus den Verhandlungen zu ACTA sowie Absichtserklärungen der EU-Kommission lassen darauf schließen, dass die Internet-Provider in der EU für die Daten, die in ihren Netzen transportiert werden, verantwortlich gemacht werden sollen. Die Provider sollen sich, so einer der Vorschläge, von Schadensersatzansprüchen freihalten können, indem sie nach Vorbild des US-Copyright-Gesetzes Digital Millennium Copyright Act (DMCA) inkriminierte Inhalte schnell auf Zuruf der Rechteinhaber aus ihren Netzen entfernen oder Urheberrechtsverletzer vom Internet abschneiden ("Three Strikes Out").
EU-Datenschützer Peter Hustinx hat unlängst in einer Stellungnahme vor möglichen tiefen Eingriffen in die Privatsphäre der EU-Bürger durch das Abkommen gewarnt und die Kommission dazu aufgefordert, die bereits seit zwei Jahren laufenden Verhandlungen endlich offenzulegen.
(futurezone/Günter Hack)