© ORF.at/Claudia Glechner, Scan eines Matrikenbuches der Diözese St. Pölten

Digitalisieren mit dem "bionischen Finger"

START-UP
15.03.2010

Das Wiener Start-up Qidenus baut robotische Buchscanner. Beim Umblättern kommt dabei die zentrale Erfindung des Unternehmens zum Einsatz: der bionische Finger. Damit können die Geräte bis zu 2.500 Seiten pro Stunde einlesen. Neben Großkunden wie der norwegischen Nationalbibliothek und der Diözese St. Pölten können nun auch Privatleute die Vorteile der schnellen Buchscanner nutzen.

"Der Bedarf, Bücher zu digitalisieren und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, hat sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt", erläutert Geschäftsführerin Sofie Quidenus gegenüber ORF.at. "Google Books war für uns eigentlich sehr positiv, weil Google eine Dynamik in den Markt gebracht hat."

An der Digitalisierung von Büchern seien zudem viele Bibliotheken interessiert. Das Unternehmen selbst beliefere mittlerweile zahlreiche Länder weltweit mit seinen automatischen Buchscannern, darunter etwa das ägyptische Alexandria, wo die Tradition der berühmten antiken Großbibliothek unlängst wieder aufgenommen wurde. "Vergangenes Jahr haben wir einen Großauftrag gewonnen", freut sich Quidenus, "die Digitalisierung der Kulturgüter Norwegens." In dem zehn Jahre laufenden Projekt seien die Nationalbibliotheken in Oslo und Mo i Rana zu digitalisieren.

In Zusammenarbeit mit geistig oder körperlich beeinträchtigen Menschen werden im Heiligenstädter Büro im 19. Wiener Gemeindebezirk, Mooslackergasse 17, Bücher um neun bis 20 Cent pro Seite gescannt. Die Digitalisierung ist am nächsten Werktag abholbereit. Das Format kann frei gewählt werden.

Rechtlicher Graubereich

Das gemeinsam mit Alfred Jakes, "dem Erfindergeist hinter der Basistechnologie", 2005 gegründete Unternehmen ist ein Spin-off des Instituts für Entrepreneurship und Innovation der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit 2009 produziert das Unternehmen robotische Buchscanner serienmäßig. Neben dem Verkauf der Geräte wird die Digitalisierung von Büchern im Wiener Büro - einer Behindertenwerkstätte - auch Endkunden für Einzelaufträge angeboten.

Die urheberrechtlichen Aspekte stellten derzeit in Österreich für das Projekt kein Problem dar. "Wir sind in erster Linie auf urheberrechtsfreie Literatur spezialisiert", meint Quidenus. "Wir dürfen die Bücher digitalisieren." Wie der Kunde das Digitalisat zu nutzen habe, liege nicht in ihrem Ermessen. "Es gibt eine starke Lobby, die hinter der Digitalisierung steht", erläutert Quidenus. Der wachsende Markt für E-Book-Reader etwa werde eine genaue Regelung für die Zukunft erzwingen. "Wir setzen uns zwar nicht dafür ein, um das voranzutreiben, aber wir profitieren davon."

Die Diözese St. Pölten bietet ihre digitalisierten Matrikenbücher beginnend mit 1580 auf dem Online-Portal Matricula an. Gesucht werden kann nur nach Pfarren. Danach erfolgt eine chronologische Auflistung der Bücher. Da es sich um handschriftliche Eintragungen handelt, werden nur Bilddateien angeboten, die durchgeblättert werden können.

Digitalisierung in Österreich

Seit vergangenem Jahr gebe es auch den ersten Großauftrag in Österreich. Die Digitalisierung der Matrikenbücher, also der Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher, der 424 katholischen Pfarren der Diözese St. Pölten. "Das Interesse an der Familienforschung ist in den letzten zehn bis 15 Jahren extrem gestiegen", sagte Eugen Novak von der Diözese St. Pölten. Der Projektmitarbeiter, der zufällig im Büro anwesend ist, erläutert gegenüber ORF.at die Motivationsgründe.

Die Matrikenbücher beinhalten ein Personenstandsverzeichnis und reichen bis ins Jahr 1580 zurück. "Diese sind teilweise in einem schrecklichen Zustand und müssten eigentlich restauriert werden." Mit der Digitalisierung würden die Bücher zumindest in Zukunft geschont, da sie nicht mehr physisch beansprucht würden. Für Interessierte beinhalten die Bücher viele Informationen: Während zu Beginn lediglich der Vorname eines Taufkindes und eventuell noch dessen Vater im Buch festgehalten wurden, wuchsen die Zusatzinformationen mit den Jahren an, etwa um Namen der Eltern und Großeltern, deren Herkunft, Beruf und auch den Sterbegrund. "Das ist auch für die forensische Forschung sehr spannend."

Schutz der Persönlichkeit

Seit 2004 habe die Diözese das Scannen selbst vorgenommen, um das Projekt schneller voranzutreiben, sei eine Kooperation mit Qidenus gestartet worden. Seit zwei Jahren werde das Archiv im Internet zur Verfügung gestellt, um allen Personen den einfachen Zugriff darauf zu ermöglichen. Seit kurzem werde auch ein Call-Service dazu angeboten, denn "viele beherrschen die Kurrentschrift nicht mehr", so Novak. Anrufer könnten sich gewünschte Passagen von der gebührenpflichtigen Hotline vorlesen lassen.

Um "die Persönlichkeit zu schützen", seien die letzten 100 Jahre gesperrt. "Die aktuellsten Einträge, die jetzt gelesen werden können, sind also aus dem Jahr 1910." Natürlich gebe es permanent Updates. Seit 1938 seien zwar Standesämter in Österreich für die Personenstandsaufzeichnungen zuständig, parallel würden die Pfarren ihre Matrikenbücher trotzdem weiterführen, und zwar händisch. Laut Novak interessieren sich auch bereits andere Diözesen für die Digitalisierung, insbesondere Wien.

Der Scanner im Einsatz

Im Keller des Bürogebäudes demonstriert Vitus Bösch, Produktmanager bei Qidenus, die Scanner. Seit 2010 bietet das Unternehmen neben dem Robotic Book Scanner Pro (RBS) auch ein mobiles Gerät an. Der RBS Table Top unterscheide sich vom großen Bruder durch Gewicht, Leistung und Funktionalität. Das Tischmodell wiege nur noch 40 anstatt 240 Kilo, schaffe 2.000 anstatt 2.500 Seiten pro Stunde und sei zudem nur mit den Basisfunktionen ausgestattet.

"Das größte Know-how steckt neben der Software in der Intelligenz des bionischen Fingers, diesen also so abzustimmen, dass er sich alleine und adaptiv auf verschiedene Buchformate und Papiersorten anpasst", betont Bösch. Denn das Prinzip der Aufnahme selbst sei sehr simpel. Den Ablauf erklärt Bösch anhand des RBS Table Top.

Scannen mit dem Fotoapparat

Zuerst werden am PC die Einstellungen vorgenommen, wie das Buch verarbeitet werden soll. Dafür gebe es eine selbst entwickelte Verarbeitungssoftware, die auf Windows basiert. "Ein gesamtes Workflow-Managementsystem", beschreibt Bösch die Software. Danach wird das Buch in die Wippe des Scanners eingelegt, der wiederum mit dem PC verbunden ist. Wird der Startknopf gedrückt, fährt von oben eine rechtwinkelige Glasplatte herunter, und die Seitenteile der Wippe drücken gegen das Glas, damit eine plane Auflage entsteht. Gewisse Schäden etwa durch Feuchtigkeit ließen sich damit korrigieren, meint Bösch.

Danach bekommt die Maschine das Kommando zum Auslösen. Die jeweils rechts und links darüber montierten Kameras machen ihre Aufnahmen, das Bild erscheint sofort auf dem PC-Monitor zur Qualitätskontrolle. Fotografiert wird, je nach Bedarf, im 90-Grad-Winkel oder auch weniger. In diesem Fall kommen Shift-Objektive zum Einsatz.

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Bionischer Finger

Für das Abfotografieren werden zwei digitale Canon-Spiegelreflexkameras vom Typ EOS 5D Mark II mit einem 50-mm-Repro-Objektiv von Zeiss verwendet. "Der Vorteil ist, dass die Kameras so montiert sind, dass sie jederzeit von uns wie auch dem Kunden ausgetauscht und durch bessere Geräte ersetzt werden können." Zu Beginn seien Kameras mit sechs Megapixel verwendet worden, derzeit seien es 35mm-Vollformatgeräte mit einer Auflösung von 21 Megapixel. "Und ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr wahrscheinlich 35- und nächstes Jahr 40- oder 50-Megapixel-Kameras geben wird."

Nach der Fotografie fährt die Glasplatte wieder hoch, und der bionische Finger kommt zum Einsatz. Und der funktioniert so: Die motorisierte Einheit mit Kautschuk-Spitze und integrierten Druck- und Lichtsensoren presst drucksensibel auf den rechten unteren Rand des Buches. Je mehr Druck, desto mehr Seiten werden aufgenommen. Ziel ist es jedoch, lediglich eine Seite leicht aufzuwölben, ein zweiter "Blätterer" fährt unter die Buchseite und legt diese auf die andere Seite.

Die Natur war Vorbild

Für den technischen Leiter bei Qidenus, Alfred Jakes, zeichnet sich die Nachahmung des Fingers durch seine "technische Präzision" aus. "Haben Sie schon mal jemanden beim Umblättern beobachtet? Es macht kaum jemand einen Fehler dabei", meint Jakes. Als Vorlage für die Entwicklung des bionischen Fingers habe die Natur gedient. Gemäß Leonardo da Vincis Aussage, "wenn du fliegen willst, beobachte den Wind", habe auch er nicht nur den Finger beobachtet, sondern auch das Blatt beziehungsweise die Blätter darunter.

Nach jahrelanger Forschung und 26 Vorgängermodellen sei er schließlich bei zwei linearen Bewegungen gelandet, der Finger und der "Blätter". Die spezielle Kautschukoberfläche des bionischen Fingers erfülle die Adhäsion, wie sie der Mensch beim befeuchten seines Fingers erzeuge. Die Aufwölbung des Blattes geschehe mit dem geringsten Druck, der möglich sei, "damit funktioniert es am besten".

Gelingt es dem Finger nicht, nur ein Blatt zu wölben, dann werden automatisch bis zu vier weitere Versuche mit veränderten Parametern gestartet - mit weniger Druck etwa, wenn zu viel Papier aufgenommen wurde. Um den geringsten Kraftaufwand, also auch Widerstand zu haben, sei ein Schieben - in etwas weniger als 45 Grad zum unteren Buchrand - optimal. "Die Herausforderung war, den richtigen Winkel und die richtige Geschwindigkeit herauszufinden", erklärt Jakes.

Fehlerquote im Promillebereich

"Die Fehlerquote liegt im Promillebereich", sagt Bösch. Er vergleicht sie mit jener eines menschlichen Operators, der manuell ein Buch einscannt. Dieser könne bei dem semiautomatischen Modell - ohne bionischen Finger - auch noch immer etwa 900 Seiten in der Stunde schaffen. Eine Herausforderung für die automatische Blätterfunktion seien "Extreme". Schwierig werde es, wenn es ein besonders kleines oder großes Buch sei.

Jakes betont auch, dass für einen möglichst reibungslosen Ablauf, das Buch möglichst "homogen" sein sollte. Ein Kriterium sei auch etwa die Art, wie ein Buch gebunden wurde. Schwierigkeiten gebe es etwa mit Büchern, die mit Nägeln gebunden wurden. Auch für das Problem der Klammerwirkung, wenn sich also die Seiten von selbst aufwölben, gebe es bereits erste Ansätze. Eine Klammer am oberen Rand des Buches soll das Schriftwerk offen halten. Das Problem ließe sich auch mit einem geringeren V-Winkel bei der Auflage lösen, so Jakes.

Der V-Winkel der Wippe habe auch laut Bösch noch einen weiteren Vorteil: "Bei 80 Grad muss ich das Buch nicht überstrecken". Herkömmliche Scanner würden mit 180 Grad arbeiten, was bei älteren Büchern heikel sein könne, wenn der Buchrücken schon sensibel sei. Das mechanische Umblättern sei zudem für Bücher mit besonders dünnem Papier oder löchrigen Seiten gut geeignet. Scanner, die mit Vakuum arbeiten würden, hätten damit ein Problem, da dahinter liegende Seiten auch angesaugt würden.

Rechenleistung gefragt

Die Scans landen schließlich mit 400 dpi Auflösung und im gewünschten Format auf dem PC. Je nach Voreinstellungen seien diese auch bereits verarbeitet. Zur Option stehen etwa die in die Software integrierte automatische Texterkennung mittels OCR (Optical Character Recognition), Einstellungen wie Kontrast und Farbanpassungen sowie eben die Wahl des gewünschten Ausgabeformats wie etwa PDF, TIFF oder JPG. Bei Auftragsarbeiten bekomme der Kunde die Daten auf einem Speichermedium, auch die Original-RAW-Files. Diese würden zur Sicherheit auch noch weitere sechs Monate im hauseigenen Archiv gespeichert.

Ein Buch mit etwa 300 Seiten habe unkomprimiert etwa 50 bis 80 GB. Um die notwendige Rechenleistung für die Verarbeitung zu haben, werde mit einem 16-Terabyte-NAS-System (Network Attached Storage) gearbeitet. "Das ganze System ist datenbankbasierend, das heißt, die ganze Verarbeitung und Prozesssteuerung läuft auf einer Datenbank ab, und es können beliebig viele Clients an das Netz gehängt werden", erklärt Bösch. Für den Scanner seien mindestens drei Verarbeitungsrechner mit jeweils 2,9-GHz-Duo-Core notwendig.

Die ursprüngliche Idee

Ursprünglich wurde der bionische Finger zu einem ganz anderen Zweck erfunden. Begonnen hat das Start-up nämlich mit einem automatischen Notenumblättergerät für Musiker, QiVinci. Per Fußschalter werden die Noten am Musikständer umgeblättert, so dass Musiker ihre Noten in einem Fluss lesen können. "Dafür haben wir aber einen Lizenznehmer in Holland gefunden, der mittlerweile das Produkt vor Ort mit einer Behindertenwerkstätte produziert", so Quidenus. Auch der Vertrieb sei an den Partner abgegeben worden.

Das darauffolgende Produkt zum automatisierten Umblättern sollte auch Menschen mit Behinderungen am Oberkörper zugutekommen. QiCare ermöglicht es, mit Hilfe von verschiedenen Auslösemechanismen wie Fußtaster, Knopfdruck und Spracheingabe Zeitungen und Zeitschriften vorwärts und rückwärts zu blättern. Das Umblättergerät ist in der Minimalausstattung ab 2.000 Euro zu haben.

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(futurezone/Claudia Glechner)