© APA/Robert Jäger, Leere Sitze im Nationalrat

Neustart für die Demokratie im Netz

POLITIK
21.03.2010

Soziale Netzwerke werden die Gesellschaft stärker verändern, als das "technische System" Internet es je vermuten ließ. Davon sind die Autoren des Sammelbands "Reboot_D: Digitale Demokratie – alles auf Anfang" überzeugt. Sie fordern einen kompletten Neustart unserer demokratischen Strukturen.

Die alte parlamentarisch-repräsentative Demokratie ist in die Krise geraten. Entscheidungsprozesse finden zu häufig hinter verschlossenen Türen statt, die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich im Gegenzug immer weniger für das, was im Parlament verhandelt wird.

"Ich glaube nicht, dass die Leute politikverdrossen sind. Ich glaube eher, dass sie die Schnauze voll haben, von dem, wie Politik heute gemacht wird", hält "Reboot_D"-Herausgeberin und Marketing-Expertin Ulrike Reinhard dieser allgemeinen Meinung entgegen. Die angebliche Politikverdrossenheit verwandelt sich ihrer Meinung nach zunehmend in einen Beteiligungswillen. Das Internet und seine Sozialen Netzwerke würden ein wachsendes Bedürfnis nach Partizipation und Transparenz schaffen.

Am Sonntag in "matrix"

Mehr zum Thema hören Sie am Sonntag, dem 21. März 2010, um 22.30 Uhr im Ö1-Netzkulturmagazin "matrix".

Erste Ansätze in GB und Neuseeland

Großbritannien macht vor, wie Transparenz funktionieren könnte: Die britische Regierung stellte vor kurzem an die 3.000 Datensätze auf der Website data.gov.uk zur Verfügung. Darunter finden sich Ausgaben für Sonderschulen, die Zahl der vorhandene Spitalsbetten und Informationen über Verkehrsstaus.

Jeder, der will, kann diese Daten verwenden und damit Applikationen entwickeln. Zahlreiche Bürger nahmen das Angebot bereits wahr und entwickelten Anwendungen: Parkopedia zum Beispiel sucht von jedem beliebigen Ort in Großbritannien aus den nächstgelegenen Parkplatz. Die Applikation "Where does my money go?" analysiert und visualisiert die Ausgaben der britischen Regierung.

Die neuseeländische Regierung band die Bevölkerung bei der Erarbeitung eines Gesetzesvorschlags direkt ein: Im Jahr 2007 plante Neuseeland ein neues Polizeigesetz und ließ dabei alle im Netz mitreden. Ein Wiki wurde eingerichtet – also ein offenes Dokument im Web, in das jeder hineinschreiben konnte.

Politik zum Mitmachen

Politiker wären gut beraten, wenn sie häufiger auf die Kreativität und die kollektive Intelligenz ihrer Bevölkerung zurückgreifen würden, meint Thomas Gebel, Mitautor von "Reboot_D". Denn die Welt und ihre Probleme werden immer komplexer. Und da seien Einzelpersonen und kleine Gruppen überfordert.

Derzeit sind es in erster Linie soziale Bewegungen, die die sozialen Netze und Sozialen Netzwerke zur Mobilisierung nutzen würden. Bekannteste Beispiele: die Demokratiebewegung im Iran und unibrennt, die Proteste der europäischen Studierenden, die im Wiener Audimax ihren Anfang nahmen. Früher oder später werde auch die Politik die wahre Bedeutung der Sozialen Netzwerke erkennen und diese nutzen, um die Meinung der Bevölkerung einzuholen, ist Gebel überzeugt.

Wie ordnet man Millionen von Ideen?

Gebel organisierte selbst IT-gestützte Ideenbörsen. Im Rahmen einer Technologiemesse wurde zum Beispiel übers Netz das Thema Bildungspolitik diskutiert. Damals beteiligten sich etwa 2.000 Personen aktiv am Diskussionsforum. Doch da tauchten dann die ersten Probleme auf: Wie ordnet und klassifiziert man 7.000 unterschiedliche Ideen? Händisch, erzählt Gebel. Schließlich hat es wenig Sinn, Menschen um ihre Meinung zu fragen, wenn diese Meinung dann nicht gelesen und ausgewertet wird.

Aber was tun, wenn sich Millionen beteiligen? Hier stößt die Informationstechnologie noch an ihre Grenzen. "Wenn man das in irgendeiner Form automatisieren will, dann reden wir schon über so etwas wie semantisches Web", meint Gebel. Der Computer müsste in der Lage sein, Postings einem bestimmten Thema zuzuordnen, die darin enthaltene Meinung irgendwie zu interpretieren und zu clustern.

Die Hohe Kunst der E-Participation

Gebel ist überzeugt davon, dass der Durchbruch des semantischen Webs in absehbarer Zeit bevorsteht. Damit wären die Voraussetzungen für jene Vision geschaffen, die er "die hohe Kunst der E-Participaton" nennt: Ein Tool, bei dem sich alle Bürger und Bürgerinnen ständig einbringen können. "Das würde im Prinzip ähnlich laufen wie Twitter, allerdings würde das Programm vorsortieren und sagen: Hier geht es um Schulpolitik, hier um Energiepolitik."

Das Portal wäre eine Art Trendbarometer dafür, welche Themen die Bevölkerung gerade interessieren und welche Meinung vorherrschend ist. Politiker würden sich dann eher an diesem Portal orientieren als an der Boulevardpresse, meint Gebel. Die Themenhoheit und das politische Agendasetting würden sich zunehmend ins Netz verlagern.

Bildung statt Ausbildung

Ein höherer Grad an direkter Demokratie, eine stärkere Partizipation der Bevölkerung braucht aber auch eine bessere Bildungspolitik, sagt Peter Kruse, Mitautor des Sammelbandes und Leiter der Beratungsfirma nextpractice. Bildung statt Ausbildung sei gefragt, so der Experte.

Digitale Demokratie braucht mündige Bürger und Bürgerinnen mit Medienkompetenz: "Wenn ich mit statistischen Bewertungsmechanismen arbeite, muss ich sicherstellen, dass der mittlere Entscheider im Netz ein Stückchen über Zufall liegt. Ich muss dafür sorgen, dass die Kompetenz der Gesellschaft steigt. Wenn ich die Beteiligung steigen lasse, aber nicht die Kompetenz, dann habe ich einen gefährlichen Raum erzeugt."

Die Autoren und Autorinnen des Sammelbandes "Reboot_D" sind überzeugt davon, dass ein Mehr an digitaler Demokratie, eine transparente und partizipative Politik 2.0 auch zu mehr Sachlichkeit und Vernunft in der politischen Debatte führen wird.

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(matrix/Ulla Ebner)