Der Wandel zum Sozialen Netz
Die Formel vom "Web 2.0" musste ins Leere gehen, weil sie falsch war. Das Internet nämlich war von Anfang an sozial: Es ging immer darum, Menschen mit Menschen zu verbinden, nicht einfach nur Computer mit Computern. Teil zwei der futurezone.ORF.at-Serie "Soziales Netz".
Social Web, Web 2.0, Social Media oder Kooperative Technologien: Welche Bezeichnung passt heute am besten? Streng genommen genügt es in vielen Fällen auch heute noch, einfach nur vom "Web" zu reden, denn das World Wide Web war von Anfang an dafür gedacht, Menschen miteinander zu verbinden. Web-Erfinder Tim Berners-Lee sagte einmal mit Blick auf den von US-Verleger Tim O'Reilly geprägten Begriff "Web 2.0": "Das Web 1.0 war ein interaktiver Raum. Wenn Web 2.0 für Sie Blogs und Wikis bedeutet, dann heißt das, es geht um die Kommunikation von Mensch zu Mensch. Aber darum dreht sich das Web schon immer."
Zur Person:
Christiane Schulzki-Haddouti ist freie IT- und Medienjournalistin. Sie war von 2007 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule Darmstadt, um die Innovations- und Technikanalyse "Kooperative Technologien in Arbeit, Ausbildung und Zivilgesellschaft (kooptech)" zu erstellen. Sie arbeitet an Projekten aus den Bereichen Foresight, Innovationsmanagement und Medienentwicklung.
Die futurezone.ORF.at-Serie "Soziales Web" wird unter dieser Adresse gesammelt.
Mails und Mailinglisten
Bereits vor der Erfindung des Webs ging es um Kommunikation und Kollaboration: Schon die frühesten Internet-Dienste boten die Verteilung, ja einen differenzierten Austausch von Informationen zwischen einem und mehreren Nutzern. Es ging von Anfang an darum, eine orts- und teilweise auch zeitunabhängige Kooperation mit anderen Menschen zu ermöglichen.
Die klassischen E-Mail-Dienste bieten - neben der unmittelbaren Kommunikation mit dem direkten Adressaten - über die CC:-Funktion das Versenden von Mails an mehrere Nutzer gleichzeitig sowie über die BCC:-Funktion die Kontrolle darüber, ob und inwieweit die Empfänger Einblick in die Verteilerliste erhalten dürfen. Das entspricht im Wesentlichen der Briefkultur. Die bereits Mitte der 1960er Jahre entstandenen Mailinglisten galten als kostengünstige, einfache und offene Möglichkeit des Informationsaustauschs. Zu bekannten Mailinglisten-Klassikern im deutschsprachigen Raum gehören die 1995 gegründete Nettime, die sich der "Kulturpolitik des Netzes" widmete, und die Mailingliste des 1994 gegründeten Journalistennetzwerks JoNet.
Mailboxen, Usenet und Chat
Andere Internet-Nutzer der frühen Jahre tauschen sich über Newsgroups aus oder über Diskussionsgruppen in Mailbox-Netzwerken wie FidoNet und im Usenet, die früher nicht unbedingt mit dem Internet verbunden sein mussten. Dort treffen sie sich in verschiedenen, thematisch sortierten Diskussionsforen. Die Teilnehmer schicken E-Mails an News-Server. Der Zugriff erfolgt über spezielle News-Reader. Hier entstehen wie auch in den Mailinglisten Gemeinschaften, die selbst eigene Regelwerke entwickelten.
Später ermöglichen Chat-Software bzw. Instant-Messaging-Dienste die Kommunikation in Echtzeit zwischen mehreren Personen in offenen und geschlossenen Nutzergruppen. Sie verfügen über eine besondere Eigenschaft, die "Awareness" generiert: Sie zeigen an, ob ein Kommunikationspartner online und damit ansprechbar ist.
Das File-Transport-Protocol (FTP) gehört ebenfalls zu den klassischen Diensten. Es ermöglicht das Bereitstellen von Dateien auf Internet-Rechnern für offene und geschlossene Nutzergruppen. Genutzt wurde FTP als Alternative zur E-Mail dann, wenn es um den Transport großer Datenmengen ging.
Das Web als grafische Oberfläche für Netzdienste
Seit Mitte der 1990er ermöglicht es das World Wide Web Nutzern, Informationen zu veröffentlichen und mit anderen Informationen zu verlinken. Katalog- und erste Suchdienste boten eine rasche Orientierung im Netz. Der Yahoo-Webkatalog stellt handverlesene Webseiten zusammen, kategorisiert und kommentiert sie. Die ersten Suchmaschinen orientieren sich vor allem an den Inhalten wie Schlüsselwörtern und Überschriften.
Erst Google setzt mit der Auswertung der Links an der Ureigenschaft des Webs an - und bietet damit prompt eine erheblich höhere Suchqualität. Die Funktionen spezialisierter Dienste wie E-Mail, Mailinglisten und Newsgroups werden Ende der 1990er Jahre zunehmend in das World Wide Web integriert, die verschiedenen Dienste beginnen modular ineinander überzugreifen.
Das Web als Integrator
Das World Wide Web entwickelt sich damit zu einer Plattform zahlreicher Dienste: Die Diskussion von Mailinglisten wird zunehmend in Archiven im World Wide Web gespiegelt. Forensoftware ermöglicht Diskussionen nun nicht nur per Mailbox-Boards, Mailinglisten und Newsgroups, sondern über das Web.
Exemplarisch ist hier die Entwicklung der Online-Gemeinschaft "The Well" zu nennen, die Mitte der 1980er Jahre über ein Mailboxsystem kommunizierte und in den 1990er Jahren ins World Wide Web wechselte. Newsgroups werden über das World Wide Web verfügbar. Google kauft die Datenbestände von DejaNews, der bankrotten Betreiberfirma des Usenet-Archivs, auf und stellt diese zusammen mit zuvor selbst gespeicherten Datenbeständen 2001 über das World Wide Web zur Verfügung. P2P-Plattformen wie die Musiktauschbörse Napster ermöglichen es Nutzern, schnell große Dateien zu veröffentlichen und im Tauschprinzip wieder herunterzuladen.
Beteiligungsbarrieren sinken
Um die Jahrtausendwende wird das Publizieren im World Wide Web einfacher. Lange Jahre benötigten Nutzer, die mehr oder weniger regelmäßig auf ihren Homepages Neuigkeiten veröffentlichen, Kenntnisse der HyperText Markup Language (HTML), in der die Webseiten kodiert sind. Auch müssen sie mit FTP-Software umgehen können, um die Dateien zu aktualisieren.
Zwei Entwicklungen bündeln das Schreiben und Hochladen in einer Oberfläche: Blog- und Wiki-Software. Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Kooperationsmöglichkeiten: Während die Blog-Software das Publizieren und Gelesenwerden Einzelner unterstützt, ermöglicht die Wiki-Software das Veröffentlichen von kollaborativ erarbeiteten Texten, die von vielen Nutzern gemeinsam geschrieben werden.
Das entspricht auch der Absicht der jeweiligen Nutzer: Ein Blogger will, dass er als Autor wahrgenommen wird, während es einem Wiki-Nutzer vor allem auf das gemeinschaftlich erzielte Endergebnis ankommt. Während ein Blogger zwar nicht auf die Mitarbeit, aber auf die Aufmerksamkeit anderer Nutzer angewiesen ist, leben Wikis von den Beiträgen möglichst vieler.
Mashup mit Standards
Bei der Entwicklung zum Web 2.0 handelt es sich um die allmähliche Integration technischer Standards wie Javascript, Ajax, SOAP und RSS in das World Wide Web, die dem Anwender ein unmittelbares und flüssiges Nutzungserlebnis vermitteln. O'Reilly und Dale Dougherty bezeichneten mit dem Begriff "Web 2.0" die Anwendungen, die durch bestimmte Designmerkmale und Geschäftsmodelle gekennzeichnet sind.
Eine Eigenschaft des Web 2.0 besteht darin, nicht mehr nur Inhalte über Links zu verbinden. Es sind ganze Informationsflüsse, die nun dank offener Standards gebündelt und miteinander verknüpft werden können. Das Prinzip, aus verschiedenen Anwendungen Daten zu entnehmen, selbst auszuwerten und als neuen, eigenen Dienst auf einer Website zu präsentieren, nennt man Mashup. Das Mashup als kooperative Technik charakterisiert sich daher nicht nur durch eine technologisch neuartige Nutzung von Fremddaten, sondern auch durch die besondere Partizipation der Nutzer.
Neue Informationsflüsse
Der Begriff ist der Popkultur entnommen: Ein Mashup ist hier ein Song, der aus Vokal- und Instrumentaltonspuren unterschiedlichen Ursprungs entstanden ist. Für die Mashups im Netz werden verschiedene Techniken genutzt: Javascript, seit 2000 RSS und Atom und SOAP und seit 2005 auch Ajax. Die meisten Mashups basieren auf Daten, die über die offenen Schnittstellen von Google, eBay, Amazon, AOL, Windows Live und Yahoo zur Verfügung stehen.
Mit Mashups ist das World Wide Web nicht mehr nur ein Archiv vernetzter Texte, sondern ermöglicht über die Spiegelung und Nutzung von Informationsflüssen neue Nutzungsmöglichkeiten von Information: Nutzer können eigene Bilder, Videos und Musik veröffentlichen. Nutzer vernetzen sich mit anderen Nutzern. Nutzer verlagern Organisationsfunktionen wie etwa To-do-Listen, Kalender und Adressbücher ins Netz. Nutzer abonnieren Informationsdienste und stellen sie selbst zusammen.
Typische Anwendungen des Sozialen Netzes
Indem die Nutzer sich schneller und einfacher mit anderen vernetzen können, wird das Netz sozialer. Es wird vielseitiger, weil neue Nutzungsmöglichkeiten entstehen. Es wird lebensnäher, weil es konkrete Lebensbezüge herstellt. Die neuen webbasierten Dienste zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Entwicklung hin zu einer kooperativen Techniknutzung, zu einer "partizipatorischen Kultur des Teilens und Lernens" fördern.
Zahlreiche neue Anwendungen sind entstanden, die kooperatives Arbeiten unterstützen. Sie lassen sich unterscheiden nach dem Grad der Kooperation sowie der Haupttätigkeit, die mit ihrer Hilfe ausgeübt werden soll. Zu den Hauptfunktionalitäten gehören fünf Bereiche: zum einen Kommunikation und Koordination, dann Planen und Managen, Sharing und Kollektive Intelligenz, Inhalteproduktion und Kollaboration sowie Identitäts-, Reputations- und Beziehungsmanagement.
Zahlreiche Optionen
Social-Web-Anwendungen ermöglichen Nutzern nicht nur verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten. Dabei findet die Kommunikation zu verschiedenen Graden öffentlich und vernetzt statt. Die Bandbreite der Kommunikationsanwendungen ist groß, jedoch in jedem Fall interaktiv in dem Sinne, dass die Rezipienten über einen direkten Rückkanal verfügen. Auf diese Weise kann ein soziales Verhältnis zwischen Kommunizierenden entstehen.
Zu den typischen Anwendungen für Kommunikation und Koordination gehören sowohl webbasierte Tools wie Webmail-Clients und Microblogging-Dienste als auch traditionelle lokale Software wie Chat- und Instant-Messaging- und Telefoniedienste, etwa von den Anbietern ICQ und Skype.
Planungstools online
Gemeinsames Arbeiten erfordert in der Regel auch gemeinsames Planen und eine unter allen Beteiligten abgestimmte Organisation bzw. ein entsprechendes Management. In den letzten Jahren sind zahllose webbasierte Tools entstanden, die verschiedene Facetten des Planens und Organisierens über das Web für Gruppen ermöglichen.
So liegt es für Projekte, in denen Teams online Inhalte erstellen, nahe, dass sie sich auch online organisieren und koordinieren, dass sie online planen und managen. Dazu gehören beispielsweise gemeinsam nutzbare Kalender mit dem offenen Kalenderformat iCal wie der Google-Kalender und 30Boxes, Aufgabenlisten wie TikTrac und RememberTheMilk und Organisationsplattformen wie Zoho Projects und Central Desktop, das etwa in Barack Obamas Präsidentschaftswahlkampf 2008 eine wichtige Rolle spielte.
Probleme in Gruppen lösen
Eine Gruppe kann viele Probleme gemeinsam besser lösen als ein Einzelner. Über Koorientierungsprozesse können sich Gruppen selbst organisieren. Vorbedingung dafür ist aber Kommunikation. Webbasierte Anwendungen ermöglichen eine solche Koorientierung, wenn sie das Erstellen und Teilen einzelner Inhalte ermöglichen und hierfür die Beziehungen zwischen den einzelnen Inhalten transparent darstellen. Eine typische Funktion von Diensten, die solche Prozesse unterstützen, sind Empfehlungen und Bewertungen.
Es gibt inzwischen Bewertungs- und Empfehlungsplattformen für Berufsgruppen wie Ärzte, Politiker, Lehrer und Professoren, für Geschäftsfelder wie die Touristik-, Automobil- und Gastronomiebranche sowie für Produkte aller Art. Einige Dienste nutzen und aggregieren ausschließlich Metadaten: Die Social-News-Plattformen Digg und Wikio beispielsweise generieren über Nutzerstimmen die Nachrichten des Tages aus verschiedensten Quellen. Mit Social-Bookmark-Diensten wie del.icio.us und Diigo können Nutzer online Verweise auf Webseiten erfassen, kategorisieren, speichern, verwalten und abrufen.
Lokalisierung der Nutzer
In diesen Zusammenhang gehören auch Awareness-Dienste, die etwa Verbindungsdaten von Smartphones auswerten, also zeigen, wo sich jemand aufhält und wie sich jemand bewegt. Sie ermöglichen damit eine Kommunikation über raumbezogene Daten. Mit diesen Daten lassen sich mit Hilfe digitaler Geoinformationssysteme Standortbewusstsein (Location Awareness) erzeugen, Bewegungskarten aufzeichnen und entsprechende Dienste (Location Based Services) generieren. Zunehmend werden solche Funktionen auch in andere Dienste integriert. So bietet etwa Twitter seit kurzem auch eine Auswertung der ortsbezogenen Nutzerdaten an.
Der Bereich der Inhalteproduktion wiederum erstreckt sich nicht nur auf Blog- und Wiki-Software, sondern auch auf "Shared Workspaces", in denen Nutzer als Konsument und Produzent zugleich agieren können. Zu den bekanntesten Paketanwendungen zählen Google Apps und Zoho, die Office-Anwendungen wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und eine Präsentationssoftware enthalten, aber auch Kommunikations- und Koordinationssoftware.
Nutzer geben schließlich auf eigenen Websites, Blogs und in Profilen Sozialer Netzwerke persönliche Informationen preis.
Wurde hierfür vor einigen Jahren noch die persönliche Homepage verwendet, war es zwischenzeitlich das Blog, sind das heute die Profilseiten in Sozialen Netzwerken wie Xing und Facebook. Sie unterstützen über einen niedrigschwelligen Zugang sowie zahlreiche Kommunikationsmöglichkeiten eine digitale Selbstrepräsentation sowie ein umfangreiches Beziehungsmanagement. Unternehmen und Organisationen haben inzwischen eigene, interne Netzwerkdienste, die sie mit weiteren internen Anwendungen verknüpfen können.
(Christiane Schulzki-Haddouti)